Interview mit Tania Singer
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Interview mit Prof. Dr. Tania Singer, Neurowissenschaftlerin, Psychologin und Meditationsexpertin, Institut für soziale Neurowissenschaften an der Max-Planck-Gesellschaft

von Gesine Borcherdt, Kunstkritikerin und Kuratorin

 

Prof. Dr. Tania Singer ist Neurowissenschaftlerin, Psychologin und Leiterin der Forschungsgruppe Soziale Neurowissenschaften an der Max-Planck-Gesellschaft. Ihr Forschungsschwerpunkt ist das menschliche Sozialverhalten, mit einem Brückenschlag in andere Wissenschaften, wie etwa Wirtschafts- oder Naturwissenschaften, aber auch zu Kunst und kontemplativen Kulturtechniken aus Fernost.

Gesine Borcherdt ist Kunstkritikerin und Kuratorin. Ein aktueller Fokus ihrer Arbeit ist die Verschränkung von Kunst und Wahrnehmung mit einem Schwerpunkt auf Kunst und Meditation und deren Auswirkungen aufs Gehirn.

 

 

Gesine Borcherdt: Frau Prof. Singer, Kunst und Meditation sind beides Wahrnehmungspraktiken. Sie lassen uns innehalten. Sie schärfen die Sinne. Sie ermöglichen klareres Sehen. Es geht um Spüren und Denken, um das Erspüren von unserem Körper im Raum und von Raum um uns herum – im erweiterten Sinne auch von der Welt, in der wir leben. Beide Disziplinen haben also das Potenzial, unsere Sicht auf die Welt zu erneuern und zu transformieren. Letztlich haben beide auch spirituelle Wurzeln. Die Achtsamkeitsmeditation, in all ihren Variationen, kommt aus dem Buddhismus; und auch Kunst stammt ursprünglich aus dem religiösen Kontext, also aus Kirchen oder Klöstern, die per se durch Kunst gestaltete Räume sind: Der künstlerisch aufgeladene Raum ist auch Raum der Meditation. Wenn Robert Irwin das Kraftwerk Berlin mit einer Lichtinstallation gestaltet, dann lädt er im säkularen Kontext den Raum ebenfalls auratisch auf. Auch bei ihm geht es um Wahrnehmung, und zwar um Wahrnehmung des eigenen Blicks und des Körpers im Raum, was ein meditatives Erleben evoziert. Diese Idee geht zurück auf die Minimal Art der 60er Jahre, als Künstler begannen, sich mit Wahrnehmung zu befassen, mit der Leibgebundenheit der geistigen Erfahrung. Aber vielleicht brauchen wir erst einmal eine genaue Definition von Meditation oder vielmehr von Achtsamkeitsmeditation, die gerade im Westen so stark rezipiert wird, bevor wir über potenzielle Überschneidungen mit der Kunst sprechen.

 

 

Tania Singer: Meditation ist ja das frühere Wort. Heute sprechen wir von Achtsamkeit – eine verwestlichte Übersetzung einer bestimmten Art der Meditation im fernöstlichen Gebrauch, die jetzt in Mode gekommen ist, und die oft, glaube ich, völlig falsch verstanden wird. Die Übersetzung des Pali-Wortes „Meditation“ bedeutet „sich vertraut machen“ oder „Kultivieren des eigenen Geistes“, sozusagen eine Innenschau. Damit sind auch Körper und Emotionen gemeint, also nicht nur kognitiv die Gedanken. Es ist aber ein Missverständnis, wenn man nur von Achtsamkeitsmeditation spricht. Es gibt verschiedenste Meditationstechniken, mit denen man verschiedenste Qualitäten kultivieren kann, wie Aufmerksamkeit, Mitgefühl, Empathie, Weisheit oder Reflexionsvermögen. Die Achtsamkeitsmeditation ist ein bestimmter Typ der Meditation, der in den Westen durch Jon Kabat-Zinn durch das säkulare „Mindfulness Based Stress Reduction“-Programm (MBSR) Einzug gefunden hat. Er definiert es als eine „nicht werten wollende Wahrnehmung dessen, was gerade ist“. Achtsamkeit im buddhistischen Kontext hat aber noch sehr viel mehr Konnotationen, besonders ethischer Art: die nicht wertende, aber auch mitfühlende, liebevolle Ausrichtung auf das Leben. Das Mitgefühl spielt eine Hauptrolle! Das fällt im westlichen Verständnis von Achtsamkeit leider oft heraus. Achtsamkeit wird hier oft nur als eine Art Aufmerksamkeitstraining gesehen, was es nicht ist. Es wird oft gleichgestellt mit Atemmeditation oder dem Body Scan oder der Beobachtung von Gedanken. Aber da fehlt die entscheidende Qualität.

 

 

Gesine Borcherdt: Kunst hat ebenfalls einen humanistischen Anspruch, wenn auch nicht unbedingt einen ethischen. Aber sie hinterfragt unsere Haltung zur Welt, zu anderen Menschen und zu uns selbst. Sie hat also das Potential, Verständnis, Toleranz und vielleicht sogar auch Mitgefühl hervorzurufen – wir halten inne und bemerken, was wir wahrnehmen und wie die Kunst auf uns wirkt, werden feinfühliger. Sie haben schon mit Künstlern gearbeitet. Kann man aus Ihrer Sicht eine Parallele zwischen Kunst und Meditation tatsächlich herstellen?

 

 

Tania Singer: Dieser kontemplative Moment des Innehaltens hat die Kunst sicherlich mit der Meditation gemein. Wichtig ist, Meditation nicht aufs Innehalten zu reduzieren – denn Meditation selbst ist ein sehr aktiver Akt. Viele im Westen glauben, dass Meditation so etwas ist wie wegschlafen oder wie autogenes Training: ruhig oder leer werden oder einfach nur pausieren und nicht reden. Das wäre viel zu kurz gegriffen. Es gibt Meditationen, wie zum Beispiel die Mitgefühls- bzw. Metta-Meditation, die ganz aktive Prozesse braucht, die erlernt werden müssen wie eine Sportart. Das ist nichts, was sich von alleine einstellt, sondern man braucht Lehrer, die einem diese Praktiken beibringen – erst dann kann man sie aktiv anwenden. Man sagt beispielsweise innerlich bestimmte Sätze und aktiviert bewusst bestimmte Gefühle oder eine Motivation. Wenn wir Forschung dazu machen, sehen wir, dass die Herzrate steigt. Das ist kein Wegdösen, sondern eine sehr konzentrierte Arbeit. Ich denke, dieses Training von Wachheit und Aufmerksamkeit kann wahrscheinlich auch dem Kunstbetrachter helfen, die Kunst aktiver wahrzunehmen, wenn man mit ihr in einem Raum ist.

 

 

Gesine Borcherdt: Diesen Anspruch würde wohl auch jede/r Künstler/in formulieren: Das Kunstwerk fordert auf, sich aktiv damit zu beschäftigen, egal ob es mental herausfordernd ist oder einfach auf der Sinnesebene funktioniert. Doch dafür muss man sich konzentrieren und bereit sein, sich mit etwas Unbekanntem auseinanderzusetzen – und auch mit sich selbst. Ich denke, da liegt eine interessante Überschneidung mit der Meditation. Wenn ich mir ein Kunstwerk anschaue, bin ich gewillt, meinen Horizont zu erweitern, neugierig zu sein – ebenso wie ich bei der Achtsamkeitsmeditation, sei es nun Metta oder Atembeobachtung, tue und so mein Gehirn verändere.  

 

 

Tania Singer: Ja, diese Haltung hat Kunst mit der Meditation gemein – dort spricht man vom Anfängergeist. Das ist ein ganz wichtiges Konzept. Auch wenn man lange Meditationserfahrung hat, geht man mit diesem kindlichen Anfängergeist heran. Das heißt, dass man keine Erwartungen hat, an das, was man erfahren wird – auch nicht an die Glücksgefühle, die man vielleicht in einem Retreat erlebt hat. Anfängergeist heißt, sich überraschen lassen, was immer auch kommt. Und wenn es negative Emotionen wie Unruhe oder Ärger sind, dann ist das genauso gut wie ein Höhenflug. Jeder Moment, jedes phänomenologische Erfahren von Moment zu Moment ist immer neu und frisch, egal wie lange man schon dabei ist. Ich glaube, bei der Kunst braucht man auch einen offenen Geist, um sich überraschen zu lassen.

 

 

Gesine Borcherdt: Und dieser offene Geist wirkt den angelernten Wahrnehmungsmustern entgegen, durch die wir immer wieder identisch auf Trigger reagieren. In der Kunst wie in der Meditation können wir also neues Wahrnehmen üben, statt die bereits existierenden neuronalen Pfade im Gehirn weiter auszutreten – und das Gehirn auf diese Weise zu verändern. Kann man das so sagen?  

 

 

Tania Singer: Ja, wobei die Veränderungen im Gehirn entscheidend von der Art der Meditation abhängen. Wir haben bei uns im Institut das sogenannte „ReSource-Projekt“ gemacht: eine Studie mit drei verschiedenen Meditationsmodulen und 300 Versuchspersonen, die über neun Monate geübt haben. Unsere Frage war nicht: „Was macht Meditation mit dem Gehirn?“ Sondern: „Welche Art von Meditation macht was mit dem Gehirn?“. Die ersten drei Monate haben die Personen aufmerksamkeitsbasierte Achtsamkeitsübungen gemacht: Atemmeditation, Body Scan, Hörmeditation. Sie achteten auf das, was in den Sinnen passierte, ohne zu werten, und übten Fokussierung auf Schmecken, Riechen, Hören, Sehen oder auf den Körper. Die nächsten drei Monate haben die Personen aktiv nur Mitgefühls- und Herzöffnungsübungen gemacht, also Fürsorge, Dankbarkeit, liebevolle Güte und Mitgefühlsübungen. Und im dritten Modul wurden kognitive und sozio-kognitive Meditationen und Übungen praktiziert, bei der die Personen eine Vogelperspektive einnahmen – auf die eigenen Gedanken, ohne sie zu denken, oder auf das Selbst. Sie sollten den Blick auf verschiedene innere Persönlichkeitsanteile richten, sie festhalten, wieder loslassen – es ging um den Perspektivwechsel. Je nachdem, was drei Monate lang geübt wurde, waren die Veränderungen im Gehirn völlig andere – es wurden sozusagen alle drei Monate andere „Muskeln“ trainiert. Die Netzwerke für Aufmerksamkeit, die sozio-emotionalen Netzwerke und die Mentalizing-Netzwerke, die mit dem reflektorischen Vermögen zu tun haben, waren nach drei Monaten jeweils dicker und plastisch verändert. Das heißt, die Neuroplastizität ist extrem spezifisch – je nach Übung werden sich verschiedene Netzwerke im Gehirn verdicken oder verändern, was sich wiederum auf das Verhalten auswirkt. Daher ist es auch wirklich wichtig, vom Begriff „Meditation“ als einer einzigen Tätigkeit wegzukommen.

 

 

Gesine Borcherdt: Sie haben die Analogie zum Muskeltraining genannt. Wenn ich nach drei Monaten mit dem Training aufhöre, versiegt das Erreichte wieder, oder? Also muss ich jeden Tag dieselben Bereiche üben, wie beim Sport.

 

 

Tania Singer: Genau, sonst schrumpft diese Erweiterung in der grauen Substanz wieder. Wenn man allerdings ein sehr hohes Niveau von Expertise erreicht hat, dann transferiert sie sich in den Alltag hinein. Das heißt, man macht Atemmeditation nicht mehr nur formal auf dem Kissen, sondern auch in der U-Bahn, beim Zähneputzen, beim Reden mit anderen. Die Haltung, die man da übt, kann zu einer Persönlichkeitseigenschaft werden, die das ganze Leben einnimmt. Das sieht man auch bei Meditationsexperten – sie verlieren das nicht mehr. Ihre Wahrnehmung der Welt hat sich dann entscheidend verändert, ebenso wie der Zugang zu anderen Menschen. So etwas nennt man „Embodiment“. Menschen, die diese hohe Konzentration an Aufmerksamkeit oder Mitgefühl ausstrahlen, sind sehr inspirierende Persönlichkeiten.

 

 

Gesine Borcherdt: „Embodiment“ ist ein schönes Wort. Auch bei der Wahrnehmung von Kunst ist der Körper von zentraler Bedeutung. Schon vor der Pandemie haben das Swipen und das Scrollen oft die reale Betrachtung im Raum, den eigentlichen Museumsbesuch ersetzt. Doch die physische Begegnung mit Kunst und auch der Raum, in dem man sich mit ihr befindet, sind enorm wichtig – es entfaltet sich etwas, das sich auf alle Betrachter, die im selben Raum sind, überträgt. Aura, wenn man so will, sozusagen das Pendant zum „Embodiment“.

 

 

Tania Singer: Es ist interessant, dass Menschen in „Schweigeretreats“ oft erleben, wie nah sie sich anderen Meditierenden fühlen. Dabei haben sie kein Wort gewechselt, saßen nur schweigend nebeneinander im Raum, wissen oft nicht mal die Namen. Aber weil diese Praxis sehr intensiv und die Präsenz der anderen im Raum spürbar ist, gibt es ein Gefühl von Zusammenhalt und Nähe, das in einem Zoom-Retreat nicht so leicht zu schaffen ist. Auch wenn das besser geht, als man denkt.

 

 

Gesine Borcherdt: Wie sind Sie eigentlich zu Ihrer Arbeit gekommen – dieser Verschränkung aus Neurowissenschaft, Psychologie und Meditation?

 

 

Tania Singer: Ich bin schon immer mehrgleisig gefahren. Dabei hat mich die Plastizität von Bewusstsein stets fasziniert. Ich habe früher in der Oper und im Theater gearbeitet, wo man ja auch mit Psychologie experimentiert, aber aus der Kunst heraus. Außerdem habe ich sehr viele Schweigeretreats aus Neugierde privat gemacht. Nach meinem Psychologiestudium bin ich in der Wissenschaft geblieben, in der naturwissenschaftlichen, psychologischen, empirischen Forschung. Damals war dort jegliche Form der Meditationserfahrung absolut tabu. Ich konnte nicht einfach aus einem Retreat kommen und meinen Kollegen erzählen, was ich erlebt hatte - die haben mich dann immer angeguckt, als wäre ich ein bisschen schräg drauf. Das war weit vor der Zeit, als Achtsamkeit salonfähig wurde. Ich habe das also nur privat praktiziert: alle möglichen Formen der Bewusstseinserweiterung, also nicht nur buddhistische Meditation, sondern viele verschiedene psychologische Techniken. Als Psychologin, die aus der klinischen Psychologie kommt, also mit Persönlichkeitsentwicklung arbeitet, hat mich das fasziniert. Dann bin ich Forscherin geworden und nach London gegangen, wo ich die soziale Neurowissenschaft mitentwickelt habe. Ich habe 2004 die ersten Empathie-Experimente im Gehirn gemacht und nachgewiesen, dass man Empathie im Gehirn messen, nachweisen und sichtbar machen kann – dass man Emotionen mitfühlt, obwohl man sie selber gar nicht hat. Das war damals undenkbar in der Neurowissenschaft. „Da wirst du doch ein leeres Gehirn finden. Es ist ja der Schmerz von jemandem, der außerhalb des Scanners ist und nicht deiner. Was soll denn im Gehirn passieren?“, hieß es. Das Gegenteil war der Fall.

 

 

Gesine Borcherdt: Das war kurz nachdem Richard Davidson die Gehirnwellen der tibetischen Mönche gemessen hat und als einer der ersten nachwies, dass Meditation das Gehirn verändert.

 

 

Tania Singer: Genau. Seine Mönche hat er erst einmal achtsamkeitsbasiert untersucht. Aber Richie Davidson betreibt Emotionsforschung. Ich dagegen forsche in der sozialen Neurowissenschaft. Mitgefühl und Empathie sind soziale und ethische Emotionen, weil sie sich auf eine andere Person beziehen. Richie hat die Arbeit mit den Mönchen erstmal gemacht, um sich Shamatha anzuschauen, also die Meditation des „ruhigen Verweilens“ oder eben Achtsamkeit. Ihn interessierten die kognitiven, also Aufmerksamkeitsnetzwerke im Gehirn, weil er damals verstärkt mit Jon Kabat-Zinn im Austausch war. Es ging also um den Achtsamkeitsbereich im Gehirn und nicht um den Herzbereich. Um aber den Unterschied zwischen Empathie und Mitgefühl zu erforschen, habe später mit Matthieu Ricard, dem berühmten buddhistischen Mönch und Vertrauten des Dalai Lama, eine Empathie-und-Mitgefühl-Untersuchung gemacht. Matthieu war auch oft bei Richie im Labor, aber auch viele Stunden bei mir.

 

 

Gesine Borcherdt: Sie und Matthieu Ricard haben auch mit dem Künstler Olafur Eliasson gearbeitet, der sich wie Robert Irwin mit Raum und Licht beschäftigt. Wie sah diese Zusammenarbeit aus?

 

 

Tania Singer: Wir haben 2011 uns auf einer Panel-Diskussion kennengelernt. Olafur war sehr interessiert an Empathie und an Körpergefühlen. Damals plante ich gerade eine Konferenz zum Thema Empathie, Neurowissenschaft und Mitgefühl, bei der wir eine Art Grassroot-Bewegung für die Entwicklung von 8-Wochen-Programmen zum Thema Mitgefühl – also explizit nicht zur Achtsamkeit – lostreten wollten. Olafur war sehr interessiert an der Versammlung der Mönche, Zen Buddhisten und Forscher und stellte uns kurzerhand sein Atelier zur Verfügung. Und so waren wir vier Tage lang dort und haben eine neurowissenschaftliche Konferenz kontemplativer Praktiken in Berlin gehabt, mit all diesen faszinierenden Skulpturen, diesen Sphären, die Olafur dort ausgestellt hatte. Das war extrem schön und kreativ. Daraus ist ein eBook geworden, eine Ko-Kreation zwischen Künstlern, Forschern und Mönchen. Und so haben dann auch in Olafurs Ausstellung „The Weather Project“ in der Turbinenhalle der Londoner Tate Modern Künstler neben Mönchen und Wissenschaftlern gesessen und jeden Morgen meditiert. Das war wirklich ein wunderbares Erlebnis.

 

 

Gesine Borcherdt: Haben Sie das Gefühl, dass da noch mehr Potenzial ist? Müsste in Kunst, Neurowissenschaften und Meditation mehr zusammengearbeitet werden?

 

 

Tania Singer: Ja! Aber es braucht dabei eine intrinsische Offenheit, mit der sich Künstler auch wirklich für die Forschung interessieren, sie also nicht nur als Feigenblatt verwenden. Sie müssen verstehen wollen, wie wir arbeiten und was wir machen. Aber wenn das so ist, wenn wirklich diese Offenheit auf beiden Seiten da ist, ist es auf jeden Fall eine unglaublich schöne Synergie. Normalerweise finden unsere Konferenzen in diesen fürchterlichen amerikanischen Hotels mit Klimaanlage statt. Die Zusammenkunft in der in warmes Licht getauchten Turbinenhalle war etwas völlig anderes. Dieser kreative Kontext hat unsere eigene Kreativität extrem gefördert und auch die Kohäsion zwischen allen. Ich habe bahnbrechend positive Rückmeldungen von Leuten bekommen, die schon sehr viele Meetings in ihrem Leben gemacht haben und die diese Konferenz als die beste ihres Lebens empfanden. Die Einbettung in einen künstlerischen Kontext hat wirklich etwas ausgelöst – wir blieben nicht nur im Kopf, sondern machten Erfahrungen über Kunst und Raum. Ich habe danach noch mehrmals an der Schwelle von Kunst und Wissenschaft gearbeitet, was immer interessant war. Aber ich glaube, es muss wirklich eine emergente neue Sache entstehen. Beide Welten, die der Kunst und die der Forschung, müssen sich aufeinander einlassen, so dass wirklich etwas entstehen kann, was es noch nicht gibt. Wie es im „Mind and Life Institute“ passiert, das 1991 aus interkulturellen Dialogen zwischen dem Dalai Lama und Wissenschaftlern unterschiedlichster Forschungsgebiete – Quantenphysiker, Biologen, Neurowissenschaftler – entstanden ist. Dort habe ich auch Matthieu Ricard und die anderen Mönche kennengelernt, die ich gescannt habe. Der Dalai Lama hat sich ja immer schon für Forschung interessiert. In den 80er Jahren wurden die ersten Konferenzen veranstaltet, am Anfang im Wohnzimmer des Dalai Lama. Über die Jahre wurde das immer größer. Der Hauptsitz des Instituts ist heute in Charlottesville, Virginia.

 

 

Gesine Borcherdt: Was ist denn die konkrete Funktion des „Mind and Life Institute“?

 

 

Tania Singer: Es geht um den Dialog darüber, was die verschiedenen Welten voneinander lernen können. Wenn man diesen Anfängergeist mitbringt und die Unterschiedlichkeiten nicht verurteilt, kann etwas Großartiges entstehen. Es gäbe die Achtsamkeitsbewegung gar nicht ohne dieses Institut. Es war der Dalai Lama, der im Jahr 2000 gesagt hat „So, jetzt haben wir lange genug geredet über die verschiedenen westlichen und östlichen Anschauungen. Jetzt müssen wir machen. Ich möchte, dass die Westler jetzt mal anständige Forschung über unsere Art der Meditationstechniken betreiben.“ In diesem Moment wurden vom National Institute of Health Gelder für diese Forschung freigegeben – und so haben dann auch sehr hoch angesehene Forschungsinstitute wie das MIT Forschung über Meditation gemacht. So ist die Achtsamkeitsbewegung überhaupt salonfähig geworden. Nur deshalb konnte auch ich kurz nach Anfang der Nullerjahre meine private Welt der Meditation mit meiner Forschung verbinden. Vorher hätte ich gar keine Gelder bekommen – und jetzt gibt es ein Feld, das heißt kontemplative Neurowissenschaften.

 

 

Gesine Borcherdt: Was wäre, wenn man nun die Kunst mit hineindenkt in das „Mind and Life Institute“? Hätten Sie eine Vorstellung, wie man das angehen könnte?

 

 

Tania Singer: Ich denke, dass das vom Künstler abhängt, was seine Neugierde ist und was er von uns Wissenschaftlern lernen will. Dann braucht man eine Offenheit, um sich erstmal auf den Dialog einzulassen. Aber am besten ist aber ein echtes Experiment. An einem Produkt zusammenzuarbeiten ist am Fruchtbarsten, denn es soll ja etwas wirklich Neues entstehen. Das macht auch ein bisschen Druck, und man muss sich ganz anders miteinander auseinandersetzen, als wenn man nur an einem Panel teilnimmt. Also gemeinsam an etwas zu arbeiten, was dann vielleicht auch eine gesellschaftliche Relevanz hat und nicht einfach nur l'art pour l'art ist: Das wäre am Vielversprechendsten.

 

 

Gesine Borcherdt: War das auch der Ansatz zwischen den Mönchen und den Neurowissenschaftlern?

 

 

Tania Singer: Ja, die Kooperation mit Matthieu Ricard ist das beste Beispiel, wie aus zwei verschiedenen Welten etwas völlig Neues entstehen kann: Mit ihm haben wir entdeckt, dass Empathie etwas anderes ist als Mitgefühl. Ich wusste bereits, dass wir mit Empathie Netzwerke im Gehirn aktivieren, die auch unseren Schmerz abbilden. Wir leiden mit, im wahrsten Sinne des Wortes. Ich dachte also: „Okay, wir müssen Empathie trainieren, alle sollen besser darin werden. Also hole ich mir jetzt einen Experten, der jeden Tag Empathie trainiert.“ Damals dachte ich, Mitgefühl und Empathie sind das Gleiche. Ich schob Matthieu also in den Scanner – wir nennen ihn „Ofen“ – und bat ihn, in eine Mitgefühlsmeditation zu gehen. Auf den Bildern sah ich aber, dass ganz andere Netzwerke als die der Empathie bei ihm aktiviert waren – solche, die mit positiven Gefühlen, Liebe und Belohnung zu tun haben. Ich sagte: „Matthieu, was machst du denn? Du sollst dir doch diese armen Waisenhauskinder von dem BBC Video vorstellen und Mitgefühl für sie empfinden! Aber es sieht aus, als denkst du an ein Stück Kuchen! Ich verstehe das nicht.“ Er antwortete: „Aber du hast nicht gesagt, dass ich mitleiden soll! Du hast gesagt, ich soll in eine Mitgefühlsmeditation gehen.“ Ich fragte: „Aber wenn du nicht mitleidest, was tust du dann?“ Er erklärte, dass er eben diese tiefe Liebe und Wärme empfand und vor allem diese Motivation, helfen zu wollen. Ich war total durcheinander. Ich sagte: „Du bist ein Mönch und besonders; damit ich weiß, ob du überhaupt Empathienetzwerke wie alle anderen hast – kannst du bitte nur empathisch mitleiden mit diesen Kindern und nicht ins Mitgefühl gehen? Also nicht machen, was du buddhistisch gelernt hast, sondern einfach nur mitfühlen?“ Er tat es. Und plötzlich sah ich diese riesigen Empathienetzwerke aufleuchten – und dann kam die eigentliche Erkenntnis für uns beide. Ich fragte in den Scanner: „Matthieu, willst du jetzt raus? Du bist schon 40 Minuten da drin!“ Er rief: „Nein, bitte nicht, ich brenne hier aus, wenn ich nur Empathie mache. Ich bin so im Stress. Es ist unerträglich. Ich möchte die Liebevolle-Güte- und Mitgefühlsmeditation machen, schon allein damit es mir wieder besser geht.“ Als er das tat, habe ich das andere Netzwerk wieder gesehen.

 

 

Gesine Borcherdt: Was ist aus dieser Erkenntnis real entstanden – außer, dass Mitgefühl und Empathie nicht dasselbe sind?

 

 

Tania Singer: Wir haben neue Meditationen erfunden, die ich lehre, um etwa Ärzten und Pflegern zu helfen, in Resilienz zu bleiben und nicht in diesen empathischen Stress zu gehen. Und Mathieu bringt den Mönchen im Osten die ‚Empathie versus Mitgefühl‘-Meditation bei. Das gab es vorher nicht im Buddhismus, da gab es Empathie nach dieser Definition gar nicht. Das heißt, wir haben beide unendlich viel gelernt. Es war ein Aha-Erlebnis, das wir ohne unser interdisziplinäres Projekt nicht gehabt hätten. Daraus sind Jahrzehnte der Forschung geworden. Es ist nur ein Beispiel, wie wirklich Synergien entstehen, statt nach dem Motto „Jetzt kommen die Westler und messen uraltes Wissen“ zu verfahren. Wir haben etwas Neues geschaffen, etwas, das für beide Welten klärend und gewinnbringend ist. So etwas wünsche ich mir auch mit der Kunst.