Jetzt rieche ich es auch
/ Die Welt

Dieses Werk muss man fühlen: Zur Baseler Ausstellung der Künstlerin Anicka Yi

Die Welt, 4. Juli 2015

Es ist dunkel. Plexiglasboxen am Boden schimmern vor sich hin. Darin glänzt jeweils eine Schicht knallgrünes Gel. Zarte Metallstifte sind hineingesteckt, Rost dringt in die zähe Masse. Sie sieht giftig aus. Ein Experiment? Der nächste Raum. In die Wände sind beleuchtete Nischen eingelassen. Darin stehen bücherhohe Blöcke aus Glyzerinseifen, bunte Gummischläuche leuchten daraus hervor wie Gedärm. Die Wand ist rhythmisch übersät von runden Öffnungen. In ihnen sitzen Petrischalen, voller lebender Bakterien. Sie hinterlassen abstrakte Muster. Ein Labor?

Ein Raum weiter: Drei Wäschetrocknertrommeln stecken in den Wänden. Wer den Kopf hineinsteckt, riecht möglicherweise etwas. Erst einen Hauch von verbranntem Papier, danach eine Ahnung von frisch gemähtem Gras, dann irgendein Reinigungsmittel. Man läuft weiter, vorbei an den kleinen Metallgerüsten, von denen ledertransparente Hautlappen herabhängen. Und landet schließlich im letzten Raum.

Hier sind drei große Kugeln aus durchsichtigem Gummi aufgebläht. Sie pochen leise vor sich hin, von Schläuchen und Apparaten in Form gehalten. Wie Quallen oder Quarantänezelte sieht das aus – darin Gebilde, von denen es heißt, es seien Blumen, Tempura-frittiert und in Kunstharz gegossen. Sie führen, wie alles hier, offenbar ein Eigenleben. Sieht so die Kunst der Zukunft aus? Was um alles in der Welt ist das hier?

"7,070,430 K of Digital Spit" hat Anicka Yi ihre Ausstellung in der Kunsthalle Basel genannt. Also fast ein Gigabite Digitalspucke. Wer den Handzettel liest, stößt auf ein komplexes Verweissystem, in dem es vor allem um Prozesse des Vergessens und des Verfalls geht. Vergessen sollte man am besten auch, was man darauf liest. Denn man muss gar nichts verstehen. Die Ausstellung ist so körperlich, dass es vor allem ums Spüren geht. Anicka Yi lebt in New York, geboren wurde sie 1971 in Seoul. Kürzlich hatte sie dort eine Ausstellung im renommierten Artists Space. Ihre Galerie 47 Canal in New York ist derzeit die angesagteste Brutstätte für Kunst, die anders aussieht als alles, was man bisher dafür hielt.

Wie viele ihrer meist etwas jüngeren Kollegen hält Anicka Yi nichts von Kunst als transzendentalem Erfahrungsraum oder gar als Wahrnehmungskatalysator, der erst durch den Betrachter in Gang gesetzt wird. Ihre Kunst kümmert sich nicht um ihren Betrachter. Soziale Konstruktionen? Sind out. Die Postmoderne? Aus und vorbei. Die Welt – und damit auch die Kunst – macht was sie will, egal welches Bild wir uns von ihr machen.

Nun ist diese Debatte nicht ganz neu. Seit etwa fünf Jahren ergießt sich die Philosophieströmung "Spekulativer Realismus" – die 2007 am Londoner Goldsmiths College geprägt wurde – über die Kunst, die neuerdings in Form von Duschgel, Flughafenliegen, Wasser, Internettrash, Silikonhänden und Yogamatten auftritt. Vor anderthalb Jahren fasste Susanne Pfeffer diese Tendenz erstmals als große Gruppenschau unter dem Titel "Speculations on Anonymous Materials" im Kasseler Fridericianum zusammen.

In diesem Frühjahr griff sie Aspekte daraus mit der Ausstellung "Inhuman" auf – in der auch Anicka Yi vertreten war. Der Mensch, hieß es da, werde von den Künstlern "jenseits biologisch oder gesellschaftlich bestimmter Geschlechtlichkeit, als digital unsterblich oder als stetig im Werden begriffenes Selbst" reflektiert. Kuratorendeutsch. Aber bei Anicka Yi geht es tatsächlich genau um diese digitale Unsterblichkeit, die sie dem Tod des organischen Körpers gegenüberstellt. Dass man ihren Ausstellungskatalog nach dem Lesen verbrennen soll, ist dabei nur eine konzeptuelle Volte, die dem morbiden Charme der Ausstellung eher entgegensteht.

Viel interessanter ist, mit welchen Materialien Anicka Yi hantiert, in welche Formen sie sie gießt und welche Atmosphäre dadurch entsteht. Der grüne Schleim, der wie Ursuppe den Boden der Plexiglasboxen bedeckt, ist beispielsweise Ultraschallgel, wie es Frauenärzte Schwangeren auf den Bauch schmieren. Die Bakterien in den Petrischalen werden mit Nähragar kombiniert, der zur Kultivierung von Mikroorganismen und Zellen dient. Und die bräunlichen Hautlappen an den Metallgestängen bestehen aus Kombucha-Hefe.

Das Ganze könnte als die ambitionierte Laboreinrichtung einer Kosmetikfirma durchgehen, die stimmungsaufhellende Verjüngungsmittel und Einfriertests für das ewige Leben erforscht. Zugleich wandelt man hindurch wie durch einen futuristischen Concept Store, von dem man bis zum Schluss nicht weiß, was Dekoration ist und was man kaufen soll.

Doch die Dinge, die Yi hier arrangiert, sprechen mit sich selbst. Sie senden keine Botschaft, richten sich nicht an uns, kommen allein aus. Sie brauchen uns nicht – so wie kein Ding uns braucht, aber das wussten wir schon vor dem Spekulativen Realismus. Doch wir brauchen diese Kunst – und die Künstlerin, die Dinge so aufbereitet, dass wir hinschauen. Fragen stellen. Uns erinnern. Daran, woher wir kommen – und worauf wir zusteuern. Genau das tut diese Schau. Vergessen? Wird man sie so schnell nicht.

© Gesine Borcherdt