Boom am Bosporus
/ Welt am Sonntag

Malen gegen Militärs und Muezzins: Istanbul hat sich in den vergangenen Jahren zu einer neuen Kunstmetropole entwickelt. Ein Gang über die Istiklal Caddesi – wo Welten zusammenprallen

Welt am Sonntag – 18. November 2012

Durch diese Musik dringt kein Muezzin. Die Beats donnern im arabisch gedrehten Viervierteltakt zwischen den Gründerzeithäusern. Alle Fenster stehen offen, aus Bars dröhnt Istanbuls Samstagabendsound durch die Istiklal Caddesi, der Hauptstraße im zentralen Viertel Beyoglu. Zwei Kilometer autofreie Zone mit Shoppingmalls, Moscheen – und Galerien. Vielen Galerien. Die meisten sieht man nicht hinter den Fassaden. Seit vor zwei Jahren Nachbarn auf Vernissagegäste einprügelten, weil sie mit Weingläsern vor dem Schaufenster standen, ist klar, dass der legere Habitus der Kunstszene hier noch keine Selbstverständlichkeit ist.

Haldun Dostoglu zieht die Holztür zur Galerie NEV auf, im vierten Stock der Nummer 163, und lächelt milde. Mit Bart, Brille und braunem Pullover entspricht der Endfünfziger so gar nicht dem Bild vom Kunstboom am Bosporus. „Ich bewege mich abseits des Showbusiness“, sagt er und trägt zwei Gläser mit Tee herbei. „Francesca von Habsburg und die Tate Modern kaufen trotzdem bei mir.“ Eröffnet hat er 1984 in Ankara, als die Anavatan Partei die Militärregierung ablöste und das Tor zur Marktwirtschaft aufstieß. „Damals gab es höchstens vier Sammler in der Türkei. Heute kann man sie nicht mehr zählen.“

Auch die Galeristen sind mittlerweile unzählbar. Rund hundert haben sich in den letzten Jahren in Istanbul angesiedelt, allein hier im Haus sind es sechs. Wo NEV eher die Vatergeneration vertritt, zeigen die anderen junge Künstler, die ihren Weg suchen zwischen Europa und Nahem Osten. Viel figürliche Symbolik und biedere Ornamentik, Doku- Pop und Ethno-Kitsch. Türkische Sammler mögen das und werden auch in der kommenden Woche bei der Kunstmesse Contemporary Istanbul wieder kaufen. 

Die Türkei hat erst spät den Anschluss an die internationale Kunstszene gefunden. Als Deutschland die erste Documenta besuchte, gingen am 6. und 7. September 1955 auf der Istiklal Caddesi türkische Nationalisten mit Knüppeln auf Griechen, Juden und Armenier los. Viele flüchteten über Nacht. Auch der Genozid an den Armeniern von 1915/1916, der von der Türkei weiter geleugnet wird, bewegt die Gemüter. Als der Publizist Hrant Din in seiner Zeitung „Agos“ darüber schrieb, wurde er auf offener Straße ermordet. „Die Istiklal war bei seinem Trauerzug voller Menschen. Sie riefen: Auch wir sind Armenier!“ sagt Dostoglu.


Politik ist in der Kunstszene ein großes Thema – zumindest in dem Teil, der sich nicht nur um Geld und Glamour sorgt. Zwar profitiert der Kunstmarkt davon, dass sich das Pro-Kopf-Einkommen der Türken in den letzten zehn Jahren verfünffacht hat. Doch welcher Geschäftsmann kauft schon Halil Altinderes Fotos von Transvestiten mit Nationalflagge auf dem T-Shirt oder ein Video von Sükran Morals lesbischem Live-Sex in einer Galerie, wofür sie Morddrohungen erhielt? Unabhängig von der Frage, ob das nun gute Kunst ist oder platte Provokation: Die meisten Türken finden nichts dabei, dass Ministerpräsident Erdogan die Mikrofone der Muezzine lauter dreht und neuerdings mit arabischen statt israelischen Investoren Geschäfte macht. Trotz Al Qaidas Anschlag 2003, am Denkmal des Staatsgründers Kemal Atatürk auf dem Taksim Platz – dort, wo die Istiklal Caddesi ihren Anfang nimmt.

„Wir haben keine Angst“, meint Emre Baykal und zieht tief an seiner selbstgedrehten Zigarette. Im Kunstraum Arter, einem schick sanierten Altbau nur wenige Schritte vom Galerienhaus entfernt, zeigt der 47-Jährige seit 2010 auf vier Stockwerken ein fein sondiertes Ost- West-Programm von Rosa Barba bis Runa Islam. 2013 wird er im türkischen Pavillon auf der Biennale von Venedig Ali Kazma ausstellen – einen von NEVs jungen Künstlern, der mit sozialkritischen Minimal-Videos vom bunten Allerlei absteht und internationalen Stars wie Kutlug Ataman den Rang ablaufen könnte.

So wie bei jedem Showroom und Museum steckt hinter Arter Privatvermögen: Gründer Vehbi Koç, der auch selbst sammelt, stammt aus einer der reichen Industriellenfamilien Istanbuls. „Aber die Türkei ist ein kleines Land – so ein Boom kann schnell vorbei sein. Deshalb brauchen wir öffentliche Gelder“, sagt Baykal. Dass der Innenminister Kunst als Hinterhof des Terrorismus bezeichnet hat, entlockt dem smarten Kurator nur eine Rauchwolke. Dann sagt er: „Wir zeigen hier, wie private Kunstförderung aussehen kann – nämlich unabhängig von Markt und eigenen Interessen.“ 

Trotz der hundert Istanbuler Galerien: Wenn man weiter die Straße hinabspaziert und dabei die Ohren aufsperrt, hört man immer wieder die Namen derselben Kuratoren und Galeristen. Und derselben Familien.

Zu einer von ihnen gehört Füsun Eczacibasi. Am Fuße der Istiklal Caddesi – wo es schon steil herab geht zum Goldenen Horn und nicht sehr weit vom Museum „Istanbul Modern“ ihrer Schwester Oya Eczacibasi ist – hat die Sammlerin letztes Jahr ihr eigenes Pionierprojekt gegründet: die Saha Foundation. Direkt vor dem mittelalterlichen Galataturm, der alle anderen Dächer der Gegend überragt, residiert Füsun Eczacibasi in einem Haus mit Edelrostfassade. Kein Schild an der Tür, nur ein dezenter Knopf und ein Scanner, auf den ein Wärter nun seinen Zeigefinger legt. Kurz darauf steht die elegante Architektin in der Tür. Eingangshalle und Wohnzimmer füllen figurative Malerei, über die sie nicht sprechen mag. „Es geht hier nicht um mich“, sagt sie freundlich. Eine halbe Million Euro habe die Saha Foundation pro Jahr zur Verfügung, erzählt sie. „Wichtig ist, dass wir relevante Werke finanzieren, die im Ausland gezeigt werden – auf der Documenta oder im Centre Pompidou.“ Eczacibasi will die türkische Kunstszene global vernetzen. Sie hat sich dafür Expertinnen ins Board geholt wie die letzte Documenta-Chefin Carolyn Christov-Barkagiev.

Bei solchen Nachrichten muss Gülsün Karamustafa lächeln. „Früher wollten wir ausreisen – nun kommt die Kunstwelt zu uns.“ Zurück im Trubel auf der Istiklal Caddesi, trinkt die 66-Jährige in einem Schnellcafé ihren Smoothie. Gülsün Karamustafa saß in den Siebzigern im Gefängnis, weil sie an Demonstrationen teilgenommen hatte. „Die Militärputsche haben das geistige Leben der Türkei extrem eingeschränkt“, sagt die Künstlerin und meint damit den Staatsstreich von 1980, der jede intellektuelle Regung niederknüppelte. 16 Jahre lang lebte sie ohne Pass. Aber ihre kritischen Videoinstallationen gingen auf Reisen, dank Kuratoren wie René Block, der 1995 mit der 5. Istanbul Biennale die Tür zum Westen öffnete. Dass Journalisten und Studenten auch heute noch verhaftet werden, lässt Karamustafa nicht ruhen. „Meine Motivation bleibt dieselbe“, sagt sie. Nur ihr Video über den Taksim Platz läuft heute im Istanbul Modern.

© Gesine Borcherdt