Was tun, wenn man nichts tun kann?
/ Welt am Sonntag

Das russische Aktivistenkollektiv "Chto Delat?" zeigt in einer Berliner Galerie, wie es Putin in Moskau stürzen will

Welt am Sonntag, 22. März 2015

Um den größten Einwand gleich vorwegzunehmen: Ja, eine harte Welt braucht Gegenwehr. Besonders in Russland, das Regimekritiker und Homosexuelle diffamiert, einen Krieg anzettelt und die Fronten zwischen Ost und West wieder hochzieht. Ja, wir brauchen Gruppen wie das russische Kollektiv "Chto Delat?" – zu Deutsch: Was tun?

2003 formierte sich Chto Delat in Sankt Petersburg aus etwa einem Dutzend Künstlern, Schriftstellern und Philosophen, um gegen das Regime Wladimir Putins anzutreten – mit Straßenaktionen, Performances, Singspielen, Filmen, Ausstellungen , Diskussionsrunden und Aufführungen, die sich in der Tradition von russischer Avantgarde, Agit-Prop und brechtschem Theater bewegen. Es gründete eine "School for Engaged Art" und diverse Zeitungen, in denen Autoren wie Slavoj Žižek und Jacques Rancière für die Entstehung eines humanen Kommunismus und gegen die Egoismen der neoliberalen Kampfzone eintreten. Mit dieser Haltung stellt sich Chto Delat klar in den Dienst politischer Diskussionen und Auseinandersetzungen. Die Gruppe deutet auf Missstände und regt alternative Denkweisen an. Das ist gut. Doch brauchen wir dazu ihre Kunstinstallationen in Galerien?

"Was kann Kunst in einem Moment sein, in dem Politik und Alltagsleben, wie wir sie kennen, zerfallen?", fragt Chto Delat in einem Statement. Die Frage ist nicht neu, denkt man an Künstler wie Wladimir Tatlin und Alexander Rodtschenko, die Situationisten oder Joseph Beuys. Und sie ist nach wie vor aktuell. "Wir glauben, dass Kunst die Welt verändern kann", sagt Nikolai Oleinikow im Interview und Dimitri Wilenski fügt hinzu: "Aber nicht durch ein bestimmtes Werk. Die utopische Dimension der Kunst kann etwas in eine Form bringen, das man sonst nicht greifen kann. Auf diese Weise können wir den Katastrophen besser begegnen. Wir glauben an die Katharsis der klassischen Tragödie." Kunst soll also einen pädagogischen Anspruch erfüllen. Dagegen ist im Grunde gar nichts zu sagen. Nur kommt es eben darauf an, was da eigentlich gelehrt werden soll. Und vor allem, in welcher Form es geschieht.

Bei der Ausstellung, die jetzt in der Berliner Galerie KOW gezeigt wird, ist das nicht ganz klar. Dabei liegt ihr eine eigene Tragödie zugrunde, die sich letzten Sommer abspielte: Als Teilnehmer der Berliner Festspiele hatte Chto Delat eine große, androgyne Soldatenfigur im Habitus des pathetischen Sowjet-Nationalismus aufgestellt. Die Frage dahinter, auch in Anspielung auf Putins Muskelspiele, lautete: "Was ist heute monumental?" Die Antwort folgte in der ersten Nacht, denn die Skulptur wurde abgefackelt und der Kopf geklaut. Die Gruppe war entsetzt. Sie verarbeitete den Schock, indem sie die Skulptur als "Zombie" wiederauferstehen ließ – als "Symbol der Katastrophe oder Engel der Geschichte", wie es im Begleittext heißt, weshalb sich nun ein zerfetzter Anti-Phönix im Galerieraum erhebt. Er will als Leitmotiv gelesen werden. "Ich hätte nicht gedacht, dass ich vom Argwohn gegen die Macht der Kunst angegriffen würde", klagt ein Schriftzug auf einem Wandpaneel. Außer Patronenhülsen ist dort eine nackte Hüfte abgebildet, aus deren Mitte weißer Qualm entweicht. Was ist sonst noch zu sehen? Berthold Brechts "Kriegsfibel", der Fotos aus dem Ukraine-Krieg zur Seite gestellt sind. Bunte "Learning Flags" mit linksaktivistischen Kampfbegriffen, wie man sie von Demonstrationen der Gruppe kennt. Ein großes Ohr aus Pappmaché mit angeklebtem Herz, das der Schau seinen Titel leiht: In der "Time Capsule" haben die Gruppenmitglieder persönliche Dinge versteckt – auch dies ein Rückgriff auf die russische Tradition, bei der man Botschaften in Nischen oder Denkmälern verbarg. Der Gehörgang dieser Zeitkapsel ist mit Ohrstöpseln verstopft. Warum? Nun ja, weil die Welt im Moment eben nicht zuhört. "Wir haben verloren. Wir sind die Ausgeschlossenen in einer Gesellschaft, in der 80 Prozent der Bevölkerung den Krieg gutheißen", lautet das Fazit, mit der Chto Delat sich bewusst der Resignation hingibt – nur um im nächsten Moment zu verkünden: "Wir schicken die 'Herz-Ohr-Skulptur' in die Zukunft. Denn wir glauben daran, dass es eine Zukunft geben wird. Lasst uns dieser simplen Tatsache Sinn verleihen."

Simple Tatsachen findet auch, wer sich im Untergeschoss an Papptafeln mit ausgeschnittenen Medienbildern vorbeischiebt: Panzer, Soldaten, Ebola-Opfer, ein Mann mit dem Messer eines IS-Kriegers am Hals. Sie wurden hier bewusst gleichgültig abgestellt, wie überhaupt die ganze Schau an ein Theaterdepot erinnern soll, erklärt der Galerist Alexander Koch. Kernstück des Ganzen ist ein Film, in dem Absolventen der "School for Engaged Art" erst ausdruckslos mit Laptops und Smartphones zugange sind, bevor sie anfangen, ihr Dasein zwischen Französischer Revolution, Kiew und dem Tod des eigenen Bruders zu beschreiben. Damit die Installation nicht auseinanderfällt, schlängeln sich rote Stoffwürste wie Blutspuren durch den Raum. "Viele Objekte wirken mehr wie Requisiten. Dahinter steht eine politische Haltung, die weiß, dass man in der Kunstwelt immer nur Bilder auf einer Bühne inszenieren, nicht aber ernsthaft die Gesellschaft verändern kann. Kunst kann heute weder mit politischen Ansprüchen noch mit formalen Innovationen viele Tore schießen", sagt Koch. Trotz des virtuosen Agitationsdribblings, so könnte man folgern, kullert der Ball also ins Leere. Und dafür all der Aufwand?

Nun muss man dazu sagen, dass die Aktivisten von Chto Delat als die wichtigsten russischen Künstler nach Ilja und Emilia Kabakow gefeiert werden. Sie waren schon im New Museum in New York, dem Reina Sofia in Madrid, bei der Istanbul Biennale, im Londoner ICA und in der Kunsthalle Baden-Baden zu sehen. Letztes Jahr sagten sie die Teilnahme an der Manifesta in Sankt Petersburg ab, weil der Kurator Kasper König Kunst nicht ausschließlich zum Sprachrohr politischer Botschaften machen wollte. Momentan stellen sie in der Moskauer "Garage" aus, dem Privatmuseum der Oligarchin Daria Schukowa, und sie stehen auf der Shortlist für den Innovation Prize, Russlands wichtigstem Kunstpreis. "Die Unterdrückung ist ja nicht überall", sagt Dimitri Wilenski. "Wir bewegen uns in einem alternativen Kunstumfeld, das nicht kontrolliert wird."

Wenn die Kunstbotschaften in der Galerie kein Ziel haben, warum dann nicht bei Straßenaktionen, in der Schule und in Zeitungen bleiben? Weshalb eine Materialschlacht mit tränenreicher Symbolsprache bemühen, wenn man sich ihrer Folgenlosigkeit bewusst ist? Angesichts der brisanten Themen, um die es der Gruppe geht, wirkt ihr Spiel mit dem Widerspruch wenn nicht zynisch, so doch in seiner kulissenhaften Right-in-the-Face-Ästhetik zumindest irgendwie banal. Zwar bemüht Chto Delat bewusst diese Art der plakativen Botschaft, wie man sie von Propaganda-Postern oder Protestmärschen kennt. Und darin ist eine herzzerreißende Dringlichkeit und ein eiserner Ausdruckswille zu spüren, der durchaus seinen Reiz hat, wenn man Regietheater mag. Doch im Gegensatz zu anderen gesellschaftlich orientierten Künstlern wie etwa Santiago Sierra, der Minimal Art und Konzeptkunst in politische Gesten verwandelt, ohne dabei die poetische Ebene zu verlassen, filtert Chto Delat aus den Experimenten der Avantgarde weniger die formale und utopische Präzision heraus als vielmehr deren Pathospotenzial. Für eine Kunst, die mit dem Versprechen antritt, lebensverändernde Erfahrungsräume zu gestalten, ist das ein bisschen wenig – und unschlüssig obendrein. "Solange es Hoffnung gibt, wird die revolutionäre Aktion aufgeschoben. Vergessen wir also die Hoffnung. Die Revolution beginnt in der Hölle", wird das Gruppenmitglied Oxana Timofeewa im Begleittext zitiert, der angesichts der desolaten Weltlage hinzufügt: "Und die Hölle ist jetzt." Und was heißt das nun? Dass der Zombie-Soldat ein bisschen mit dem Flügel schlägt? Chto Delat entlässt den Besucher nicht mit der Frage: Was tun? Sondern mit einem Gefühl der Erschöpfung: Es gibt viel zu tun. Warten wir's ab.

© Gesine Borcherdt