Mit weitem Winkel ins Chaos geschaut
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Kollwitz-Preisträgerin 2014: Corinne Wasmuht beschreitet malerische Wege in die Zukunft

Die Welt – 26. Juli 2014

Wenn der Futurismus in der Gegenwartsmalerei irgendwelche Spuren hinterlassen hat, dann vielleicht am ehesten in den Bildern von Corinne Wasmuht. Nur: Der 1964 in Dortmund geborenen Künstlerin, die in Argentinien und Peru aufwuchs, geht es nicht um rasendes Tempo, Maschinengewalt oder Kriegsgeheul, was der Avantgardeströmung um Umberto Boccioni und Filippo Tommaso Marinetti bis heute einen düsteren Macho-Touch verleiht. Im Gegenteil: Wasmuhts Gemälde transportieren höchstens deren DNS ins 21. Jahrhundert, wo sie dann aber als kinematografische Panoramen in hellen Strahlfarben auftreten. Figuren hasten hier nicht, vielmehr flottieren sie durch architektonische Fragmente – raumlos, ortlos, haltlos wie in einer fantastischen Welt. Der bellizistische Dünkel der Futuristen nimmt hier grellere Wege – keine illustrativen, aber auch keine rein abstrakten. Wasmuhts Veduten bestechen durch halluzinogene Kraft

Es gibt nicht viele Malerinnen der jüngeren Generation, die für ihre Arbeit mit einer wichtigen Auszeichnung gewürdigt werden. Nun hat Corinne Wasmuht den renommierten, mit 12.000 Euro dotierten Käthe-Kollwitz-Preis der Berliner Akademie der Künste erhalten. Im Hansaviertel, für das in den Fünfzigerjahren Architekturheroen wie Oscar Niemeyer, Werner Düttmann und Mies van der Rohe ihre Hochhaus- und Bungalowboxen mit Blick ins Grüne des Tiergartens entwarfen, wirkt Wasmuhts Ausstellung nun doppelt wie ein Science-Fiction-Szenario: Waren in frühen Bildern aus den Neunzigern noch Gesichter oder Haare so nah herangezoomt, dass sie den Bildraum komplett ausfüllten und in einer zellenartigen Chaosstruktur völlig verflachten, ist es später die Weitwinkelsicht wirrer Liniengeflechte, die den semiurbanen Landschaften jede innere Ordnung abspricht und die geometrische Logik von "form follows function" völlig auf den Kopf stellt.

Wasmuht vermittelt einen Hang zum explosiven Durcheinander aus Flächen und Punkten, Ellipsen und Umrissen, die seltsam synthetisch und doch organisch unterwandert erscheinen. Es ist eine ambivalente, kosmische und zugleich digitale Malerei, die den 3D-Blick auf künftige Ruinen eröffnet, oder einfach nur eine diffus umherstreifende Weltsicht via Google-Eyes.

Vielleicht muss man wissen, dass Wasmuht als Kind in Südamerika 1970 das große Erdbeben mitbekam, bei dem vierzigtausend Menschen starben. Zwar ist die Wahlberlinerin mit Lehrstuhl an der Karlsruher Kunstakademie, die im September zur Berliner Messeschau "abc" ihre erste Soloschau in der Galerie Johann König eröffnet, weit entfernt von Erinnerungsmalerei oder autobiografischer Zeigefinger-Narration. Dennoch hat man das Gefühl, dass eine phantasmagorisch aufgeladene Naturgewalt in ihren Bildern herrscht, die so ganz anders ist als die Malerei vieler ihrer Zeitgenossen. Vielleicht, weil ihre Leinwände so in die Breite gezogen sind, wirken die Szenarien ungebremst, flirrend und zerfasert wie die verstiegenen Räume eines Jorge Luis Borges, gespickt mit Bildern aus dem Internet, die von innen leuchten wie auf einem gigantischen Computerbildschirm.

Diese illusionistische Verschränkung macht Wasmuhts Malerei so aktuell – und schlägt trotzdem den Bogen zurück zur klassischen Idee vom Bild als Fenster in eine überirdische Welt, in der Madonnengesichter auf Goldgrund zu Heiligen und venezianische Landschaften zu biblischen Metaphern werden. Bei Wasmuht führen die Farben allerdings nicht ins Paradies, sondern eher in die Alpträume unserer Zeit, in der nichts mehr still steht und Horizonte dazu da sind, überholt zu werden. Dass sie trotzdem der Malerei verhaftet bleibt – einem Medium mit langsamem Prozessor – statt ihre Sci-Fi-Ästhetik durch Film, Fotografie oder Videoinstallationen auf die Spitze zu treiben, macht Sinn, wenn man das Bild als Zeitreise im alten Stil betrachtet: Kein Beamen, kein Echtzeit-Kommunizieren, sondern ein langsames Auftauen, um sich blinzelnd umzusehen im Futurismus der schönen neuen Welt, wo man zwar nichts versteht, sich aber bereitwillig überwältigen lässt.

© Gesine Borcherdt