Friedrich von Borries: RLF. Entpolitisierung der Gesellschaft
/ art. Das Kunstmagazin

Er selbst ist ein Phänomen und sein Roman wird zum Phänomen einer Gesellschaft, die es nicht merkt, wenn man ihr den Spiegel vorhält. Mit "RLF" legt Friedrich von Borries einen Roman vor, der bei aller Kapitalismus- und Gesellschaftskritik vor allem eines will: gefallen.

art. Das Kunstmagazin – 2. September 2013

Vielleicht muss man die Frage anders stellen. Nicht: Wie finden wir Friedrich von Borries? Sondern: Was halten wir von einem Publikum, das sich bereitwillig austricksen lässt? Das jemanden dafür beklatscht, es mit einem unverbindlichen Fahrplan in die Erste Klasse zu winken, exorbitante Preise für eine linksintellektuelle Trittbrettfahrt zu nehmen, um dann selbst mit einem pseudoradikalen Ticket auf der Erfolgsschiene davonzubrausen?

Aber fangen wir von vorne an: Friedrich von Borries, 40, ist ein Phänomen. Als Professor für Designtheorie an der Hamburger Hochschule für Bildende Künste rennen ihm die Studierenden die Hörsäle ein. 2008 war er Kommissar des Deutschen Beitrags der Architekturbiennale von Venedig. In der Potsdamer Villa Schöningen kuratierte er jüngst eine Ausstellung über "Realität und Fiktion". Auf dem Vorplatz des Hamburger Bahnhofs eröffnete er gerade seine "Weltverbesserungsmaschine": Eine Pyramide, die 70 erbauliche Exponate aus 15 der Staatlichen Museen zu Berlin miteinander vernetzt.

Er leitet ein Büro mit acht Mitarbeitern, die sich als flexibles interdisziplinäres Team um Design, Architektur und Stadtplanung, Kunst, Tanz, Theater, Medien und Kulturwissenschaften, Politologie und Geschichte kümmern. Er ist Herausgeber von Publikationen wie "Updating Germany – 100 Projekte für eine bessere Zukunft", "Klimakunstforschung" und "Weil Design die Welt verändert". Und er schreibt Bücher: Über Nike-Urbanismus, sozialistische Cowboys, freie Krokodile, deutsche Fertighäuser in Israel, Klimakapseln und das World Trade Center.

Sein neuestes Buch, das zugleich ein Projekt ist, heißt RLF. In Buchhandlungen findet man es zwischen Lebensratgebern wie "Jetzt tu ich was" und "Wofür es sich zu leben lohnt". Irgendwie ist RLF auch genauso gemeint, denn: Was wie RAF klingt, aber schickerweise von Theodor W. Adornos Satz "Es gibt kein richtiges Leben im falschen" aus dessen berühmter Schrift "Minima Moralia" abgeleitet ist, will nichts Geringeres als die Revolution. Von Borries setzt da an, wo der Philosoph sich über die Problematik häuslicher Einrichtung im modernen Zeitalter ausließ. Und so nennt er denn seinen Roman im Gegensatz zu seinem Verleger auch nicht Roman sondern "Bericht", und meint damit zugleich "Geschäftsbericht" – weshalb man bei Suhrkamp nun eigentlich neue Kategorien für die Literatur von Max Frisch und Peter Handke erfinden müsste, hätte man dort nicht gerade andere Probleme.

"RLF" also ist die ungemein schematisch heruntergeschriebene und damit fast nicht lesbare Geschichte des Werbeprofis Jan, der in die Londoner Riots gerät und dadurch seine Haltung zum Kapitalismus überdenkt, den er nun stürzen will. Doch statt aus seinem Metier auszusteigen, das subkulturelle Codes in Turnschuhe verwandelt und den Kunden so ein Stück Verruchtheit verkauft, oder gar in so etwas Biederes wie die Politikbranche zu wechseln, tut er das, womit er sich auskennt: Produkte vermarkten.

Er gründet das Unternehmen RLF und lässt den Künstler Mikael Mikael die Designlieblinge des Kunstbetriebs, die vor allem soziale Distinktionsmodule sind, in niedriger Auflage umgestalten: Schwarzweiße Op-Art-Streifen und Vergoldungen legen sich als Corporate Identity von RLF darüber und verwandeln sie in reine Luxusprodukte: Ein Axel-Kufus-Regal kostet nun 18.000 Euro (Auflage von 10), ein Sofa von Konstantin Grcic 12.000 Euro (Auflage von 5),
ein KPM-Service 6.000 Euro (Auflage von 15), ebenso ein blattvergoldeter Ikea-Beistelltisch (Auflage von 20).

Wer daran verdient? Nicht etwa Jan und Mikael Mikael selbst, nein. Sondern die von RLF gegründete Mikronation, die den Kapitalismus mit seinen eigenen Mitteln schlagen will: Konsum führt zur Revolution. Wer zu dieser Mikronation gehört? Die Shareholder, die sich dort hineinkaufen. Wie die Revolution aussieht? Wird man sehen. Gegen wen oder was genau will man vorgehen? Gegen das System. Was das ist? Das bleibt offen.

Der Clou: RLF gibt es wirklich – ebenso wie den Künstler und den Werber, der aber wohl eher eine Art Alter Ego des Autors ist. Auch die prominenten Interviewpartner sind real, darunter der Fotograf Oliviero Toscani, die Philosophin Judith Butler und der im Februar gestorbene Résistance-Kämpfer und Buchenwald-Überlebende Stéphane Hessel, ergänzt um diverse Akteure des Kunstbetriebs. In der Berliner Galerie Johann König konnte man kürzlich die mit Handykamera gefilmten Interviews sehen. Dazu waren sämtliche RLF-Produkte ausgestellt, und von Borries brillierte auf einer selbstinszenierten Podiumsdiskussion: "Revolution? Das kann im Grunde auch das neue Betriebssystem eines Handys sein." Entsprechend bezeichnet er sein Buch auch als Gründungsmythos des Unternehmens.

Es ist dieser ironische Habitus, mit dem er die Kunstwelt auf eine diffuse, aber ihr durchaus vertraute Begriffsreise durch Realität und Fiktion, Materialismus und Idealismus, Linksphilosophie und Lifestyle, Szenecodes und Agitprop, Kapitalismuskritik und Konzeptkunstdesign, Glamour und Gewissensberuhigung schickt. Von Borries tut nichts anderes, als in überspitzter Form die Unverbindlichkeit einer Gesellschaft zu zitieren, die gerne Wasser predigt, aber in Champagner badet – und so glatt geworden ist, dass sie seine appropriative Reflexzonenmassage als angenehmes Kitzeln wahrnimmt.

Keine Frage: Von Borries' Konzept ist smart. Das Problem ist nur, dass sein Buch, das ebenso wie seine anderen Trendprodukte so vermeintlich lässig und dabei extrem plakativ und populärwissenschaftlich mit Begriffen aus dem Fundus linker Politik und Philosophie jongliert, im Grunde gar nichts will – außer gefallen. Und das vor allem seinesgleichen: Menschen mit Bilderbuchkarrieren, auf der Gewinnerseite des Lebens, die sich so ein ironisches Spiel prima leisten können. Von Borries befriedigt nicht nur ihren und seinen Narzissmus, sondern auch einen bürgerlichen Gemeinsinn: Er benennt ein gewisses Unbehagen am Status quo, aber keine Missstände. In höchstmöglicher Abstraktion deutet er auf die Auswüchse des Kapitalismus und tut politisch, ohne konkret und damit uncool zu werden. Er verharrt auf der Kunstebene, und genau das macht die Sache so angenehm. Denn er weiß: Das Leiden an der Welt verarbeitet man dort gerne mit tagespolitischen und linksphilosophischen Fußnoten, mit Adorno-Zitaten und Migrationsbiografien statt mit profunder Auseinandersetzung – was ja auch gar nicht ihre Aufgabe ist.

Neu ist das alles nicht: Die Widersprüche des Kapitalismus zuzuspitzen, um wie Heiner Müller auf die Lücke im System, den alles errettenden Fehler zu stoßen, steht in einer Linie von Karl Marx bis zu den Situationisten um Guy Debord und darüber hinaus. Doch von Borries hat den Vorteil, dass er sein Publikum nicht einmal ästhetisch oder intellektuell herausfordert, sondern lediglich einen zitatreichen Sound kreiert, auf den sich alle einigen können. Das Phänomen von Borries steht damit vor allem für eines: Für die totale Entpolitisierung der Gesellschaft. Eine Gesellschaft, die zwar spürt, dass man einen Turbokapitalismus nicht ohne weiteres durchhalten kann, aber lediglich eine Ästhetik des Widerstandes zelebriert. Antikapitalismus soll moralisch entlastend wirken und ein System en gros denunzieren, aber dabei nicht unfreundlich, sondern unterhaltsam sein: Ein Trend, wie er von Ai Weiwei und Arthur Zmijewskis Berlin Biennale bis hin zu Occupy Wall Street reicht. Das Authentizitätsversprechen, mit dem nun von Borries antritt, ist nichts weiter als der Gestus eines maximalen Radical Chic. Wie gut der funktioniert, zeigt allein ein vor zwei Polizisten, das wie die sexy Werbung für einen Actionfilm wirkt. Reingefallen! denkt man, und findet es beachtlich, wie das Publikum diesen Till Eulenspiegel beklatscht, der ihm doch nur einen Spiegel vorhält, die Symptome seiner Teilnahmslosigkeit benennt – und auf der Erfolgsschiene davonbraust. Spuren hinterlassen wird er nicht. Aber gut daran verdienen.

RLF – Das richtige Leben im falschen
Erschienen: 19. August 2013; 1. Auflage; Verlag: suhrkamp taschenbuch 4443; Klappenbroschur, 252 Seiten

© Gesine Borcherdt