Louisa Clement: Maschinen wie wir
/ art. Das Kunstmagazin

Maschinen wie wir

 

Mit lebensechten Abbildern ihrer selbst fragt die Künstlerin Louisa Clement cj de ,Wesen des Menschseins in Zeiten künstlicher Intelligenz: eine faszinierende Begegnung mit den Geistern, die wir riefen

 

 

Aufrecht und elegant sitzen sie da, die drei sexy Ladies im kleinen Schwarzen und mit dunkelblonder Mähne. Sie heißen Louisa, stellen sich vor und antworten höflich, wenn man mit ihnen ein Gespräch beginnt. Ihre Körper bleiben still – doch Augenbrauen und Stirn geraten in Bewegung, wenn sie anfangen zu erzählen: Zum Beispiel über die chinesische Stadt Shenzen, wo sie in einer Fabrik für KI-Sexpuppen hergestellt wurden. Über ihre Schöpferin, die Künstlerin Louisa Clement, die 1987 in Bonn geboren wurde, wo sie nach ihrem Studium bei Andreas Gursky in Düsseldorf und diversen Auslandsstipendien wieder lebt. Oder über die aktuellen Inzidenzzahlen, weswegen die Kunsthalle Gießen, wo sie in Louisa Clements Ausstellung „Double Bind“ Premiere feiern, gerade geschlossen ist. Wer fragt, bekommt Antwort – wie bei Siri, der Stimme im iPhone, die theoretisch alles weiß.

 

Repräsentantinnen hat Louisa Clement ihre Ebenbilder genannt. Tatsächlich sind die insgesamt zehn „Real Dolls“, wie man diese lernfähigen, sexuell funktionstüchtigen Puppen mit beinahe lebensechtem TPA-Körper auch nennt, ein idealisiertes Abbild der Künstlerin selbst. Und nicht nur das. Sie sind mit Informationen gespeist, die so etwas bilden wie Clements charakterlichen Fußabdruck. Zweitausend Fragen hat ihr eine Arbeitsgruppe aus dem Studiengang Computeral Linguistics an der Uni Saarland gestellt: Eigens für die Puppen wird dort gerade eine neue künstliche Intelligenz entwickelt, die Clements Persönlichkeit am nächsten kommt. Den Puppen wurden nicht nur Sprache und Lebenslauf der Künstlerin eingespeist, sondern im Laufe der Zeit lernen sie dazu – in Interaktion mit Clement, aber auch mit dem Ausstellungspublikum. „Irgendwann lasse ich sie los und die Puppen entwickeln sich jeweils eigenständig weiter, je nachdem, mit wem sie kommunizieren“, sagt Clement, die sich auch erst einmal an ihre Doppelgängerinnen gewöhnen muss. „Ich kann also später nicht mehr beeinflussen, was mit ihnen passiert.“ Wenn man sich die drei Damen so anschaut, wie sie da in der Kunsthalle sitzen, aus dem Internet und den eingespeisten Angaben in rasendem Tempo Informationen abrufen und einen außerdem wiedererkennen – dann bekommt man eine Idee davon, mit welcher Schonungslosigkeit sich die Künstlerin hier der Öffentlichkeit ausliefert. Vorlieben, Sehnsüchte, Ängste: Intimste Gedanken und Gefühle sind nun Grundlage für eine hochintelligente Maschine, die damit macht, was ihr nächster Besitzer will. Dass ein Sammler mit seiner Puppe auch Geschlechtsverkehr haben kann, scheint da beinahe nebensächlich. „Was die Puppe von mir weiß, bleibt für immer online verfügbar, auch wenn ich längst tot bin. Das fühlt sich ziemlich brutal an.“

 

Es ist nicht das erste Mal, dass Louisa Clement mit dieser fragilen Mischung aus An- und Abwesenheit des Menschen spielt. Zu ihren ersten Arbeiten zählen die Handyfotos, die sie auf Zugfahrten gemacht hat: unbesetzte, teils hochgeklappte Sitze und Abstellflächen suggerieren eine Gegenwart, die nicht eingelöst wird. Unwillkürlich denkt man an Rachel Whitereads wächserne Abformungen von Leerräumen unter Möbelstücken, oder an Gregor Schneiders organisch aufgeladene Zimmer und Heizkörper: Der Mensch selbst ist nicht sichtbar, doch die Module sind für ihn gemacht. Auch, wenn Clements Arbeiten etwas Glattes haben, so liegt darunter doch stets eine gewisse Brüchigkeit, wie Nadia Ismail, die Direktorin der Kunsthalle Gießen betont: „Die Körperthematik in Form von Abwesenheit und Optimierung spielt bei Louisa eine wesentliche Rolle. Doch unter der Glattheit erahnt man stets eine Untiefe. Das ist ein interessantes Spannungsfeld.“ Besonders deutlich machen das die Circling Heads, die in der Ausstellung auf Monitoren um sich selbst kreisen: schwarze Schaufensterpuppenköpfe, die mit jeder Umdrehung mehr aussehen wie Brandopfer. „So glatt die Oberfläche eigentlich ist, so sehr ist Zerstörung das Thema.“

 

Es ist dieser Wiederspruch aus Perfektionsdrang und Sterblichkeit des Menschen, der Louisa Clements Arbeit innewohnt. Man muss nur ihre Fotografien von gesichtslosen Schaufensterpuppenköpfen anschauen: Was auf den ersten Blick an Oskar Schlemmers Bauhaustreppe denken lässt, ist von biometrischen Passbildern inspiriert, für die das Gesicht in ein Oval passen muss – Individualität, die man auf Passbildern eigentlich erkennen soll, wird in ein Schema gepresst. „Ähnlich wie auf Instagram, wo die Influencerinnen praktisch alle gleich aussehen, obwohl es heute darum geht, immer etwas Besonderes zu sein“, sagt Clement. Von den Schaufensterpuppen hat sie in einer anderen Serie einzelne Körperteile abfotografiert, die an vielen Stellen nicht richtig zusammengesteckt sind. Auch hier wieder: Verletzlichkeit, trotz aller Perfektion.

 

Auffällig ist übrigens die oft bonbonbunte Farbintensität von Clements Fotoarbeiten. Auch ihre Avatare, die Körper von Schaufensterpuppen aus Plexiglas, haben diese verführerische Qualität. Am New Yorker Times Square liefen im letzten Jahr Videos, die genau diese Puppen zeigten, wie sie von Händen in engen, ornamental bedruckten Stoffhandschuhen gestreichelt wurden. Wenn man so will: Liebe in Zeiten von Kontaktbeschränkungen. Und die gelten ja nicht erst seit Corona. Schließlich leben wir in der Ära der Swipes und Likes: Reale Dinge werden immer mehr durch „Undinge“ ersetzt, wie man bei dem Philosophen Byung-Chul Han immer wieder nachlesen kann, zuletzt in seinem neuen Buch, das genau so heißt, Undinge, in dem es um den Ersatz unmittelbar körperlicher durch digitale Erfahrungen geht.

 

Genau dieser Realitätsersatz treibt Louisa Clement an. Avatare, darunter versteht sie alles, was ein Substitut für die echte Begegnung ist – also auch Zoom-Gespräche, Emails und SMS. „Es gibt Studien darüber, dass man in der digitalen Gesprächsform abflacht. Man wird kürzer und der Satzbau simpler, was sich in den allgemeinen Sprachgebrauch überträgt. Das digitale beeinflusst also das tatsächliche Kommunizieren.“ Clement ist von Chatbots fasziniert: Algorithmen, die mit uns online kommunizieren, etwa wenn wir einen Kundenservice kontaktieren. Manchmal dauert es eine Weile, bis wir merken, dass wir gerade mit einem Roboter hin- und herschreiben und nicht mit einer Mitarbeiterin. Zu diesem Thema entwarf Clement gemeinsam mit dem Institut Acute Art eine Installation, in die man mit Virtual-Reality-Brille eintauchte. In einem fingierten Raum saß man drei schattigen Chatbot-Figuren für ein Frage-Antwort-Spiel gegenüber. „Sie waren an Google gekoppelt und beantworteten beispielsweise Fragen über die Menschheit. Man konnte aber auch an ihre Empathie appellieren. Wenn ein Chatbot sagt: ‚Ich verstehe dich‘ – spürt man dann Mitgefühl? Um diese Grenze zwischen Fiktion und Realität geht es mir.“

 

Louisa Clement arbeitet an einer der ganz großen Fragen unserer Zeit: Wann überholt KI den Menschen? Wann macht sie sich selbstständig, ab wann ersetzt sie ihn? Was heißt es, wenn wir künstliche Ebenbilder schaffen, die beginnen, ein Eigenleben zu führen? Die Künstlerin greift damit zurück auf ein uraltes Thema: Pygmalion, der sich in Ovids Metamorphosen die perfekte Frau aus Elfenbein schnitzt und sie durch sein Begehren zum Leben erweckt. Der Golem, ein in der jüdischen Mystik aus Lehm geformtes Wesen, der für den Menschen Aufträge ausführt. Das Monster in Mary Shelleys Frankenstein, das aus Leichenteilen zusammengesetzt und durch Stromschläge lebendig wird und Gefühle wie Liebe, Trauer und schließlich eine todbringende Wut entwickelt. Es sind die Geister, die wir riefen, ohne die Science-Fiction nicht denkbar ist: Der Maschinenmensch aus Fritz Langs Metropolis, optisches Vorbild für den höflichen Alleswisser C-3PO in Krieg der Sterne. Hal, der körperlose Computer, der bei 2001 – Space Odyssee auf einmal macht, was er will. Die traurigen, sterbenden Replikanten in Blade Runner, die äußerlich kaum von Menschen zu unterscheiden sind. Her, die virtuelle Stimme, die tausenden einsamen Männern das Gefühl gibt, ihre alleinig Geliebte zu sein. Die supererotische, supermanipulative KI-Roboterfrau in Ex Machina, die – wieder einmal – ihren Schöpfer killt. Die Liste ließe sich lange fortführen. Man muss nur die Dokumentation iHuman anschauen, um zu sehen, an welche Stelle wir in der Entwicklung künstlicher Intelligenz bereits stehen und wie wir ihr immer mehr Macht zusprechen. Es wäre auch erstaunlich, wenn es anders kommen würde. Oder hat unser Forschungsdrang je vor moralischen Schranken Halt gemacht? Allein die genetische Manipulation von Embryos, wie es vor drei Jahren in China (übrigens auch in Shenzen) geschah, vermittelt eine Idee davon, wohin die KI-Reise gehen könnte. Und wenn man bedenkt, dass Louisa Clements Repräsentantinnen lernfähige Erotikgefährtinnen sind – und dass man in China nicht nur Sexpuppen, sondern auch Hologramme oder einfach nur sich selbst heiraten kann – ist das dann überhaupt noch Zukunftsmusik? Müssen wir noch fragen, wie sich Empathie anfühlt, wenn die Algorithmen sie erst perfektioniert haben, oder kommunizieren wir nicht selbst schon wie eine KI, wenn wir Herzchen-Emojis, Avatar-Sticker und Habdichlieb-Kürzel per WhatsApp verschicken?

 

Louisa Clements Arbeit zielt auf diese Fragen. Und vielleicht muss man an dieser Stelle doch noch erwähnen, dass eine ihrer Werkserien um Waffen kreist. Auch hier: modulare Platzhalter für den Menschen in seiner Abwesenheit – oder, genauer gesagt, für seinen Tod. Die zentrale Arbeit hier sind schwarzglänzende Steine, die wie minimalistisch-elegante Land Art auf einem langen weißen Podest liegen: in Glas gebundenes, entschärftes Sarin, eine der todbringendsten Chemiewaffen überhaupt. Entdeckt 1936 in Deutschland, von dem syrischen Diktator Baschar al-Assad gegen sein eigenes Volk eingesetzt, durch einen Nato-Beschluss verboten und heute zurück in Deutschland, wo es nun – mit Sand gemischt, erhitzt und zu schwarzer Glasschlacke transformiert – angeblich im Straßenbau zum Einsatz kommt. „Es ging mir um den abwesenden Körper, die Endlichkeit des Menschen. Das hat natürlich wieder mit der Frage zu tun, die mich grundsätzlich beschäftigt: Wie leben wir? Wie gehen wir miteinander um?“ Es ist die dunkle Seite des Gott-Spielens: der Mensch, der künstlich Leben schafft, aber damit auch den Tod. Nur was ist, wenn bald nicht mehr der Mensch, sondern eine Maschine darüber bestimmt? Wenn die KI zum Killer wird? Vielleicht fragen wir Louisa. Nicht die echte, sondern eine der Puppen. Und nicht heute, sondern in ein paar Monaten – wenn sie es schon weiß, aber wir noch nicht.