Mehr Zeit
/ Blau

Wer Kunst nur noch scrollt, sieht Namen, Preise, Looks. Und verliert den Blick fürs Wesentliche. Ein Ruf nach Entschleunigung. Und wahrer Obsession.

BLAU – Nr. 1 2015

Drei Kohlblätter für Afrika. In Kupfer, Kobalt und Magenta getunkte Strünke auf einem welligen Blatt Papier. Darunter das Wort Installation. Eine Erklärung behauptet, dass der Künstler mit dem Werk auf die ökonomische Kolonisierung seiner Heimat Sambia durch China aufmerksam macht. Der Titel der Ausstellung: Life on Mars. Reglos starrt man auf das welke Gemüse. 

Es steht prototypisch für etwas, dass neuerdings künstlerische Praxis genannt wird und seit gut zehn Jahren weltweit Ausstellungen, Kunstmagazine und Galeriewebseiten flutet. Viele Arbeiten erinnern vage an die Arte Povera der 60er- Jahre: Dinge, die aussehen, als würden sie gleich entsorgt, werden wie in einer Schaufensterauslage drapiert und mit politischer Bedeutung aufgeladen. Doch im Gegensatz zu Giovanni Anselmo, der 1968 ein Salatblatt zwischen zwei Granitblöcke klemmte und so ein Vanitasbild des modernen Lebens schuf, wirkt die minimalistische Inszenierung des Chinakohls heute wie Werbung: Die Kohlblätter könnten ebenso in einer Modestrecke erscheinen, eine Slow-Food Kolumne bebildern oder Teil einer Hilfskampagne sein. Oder eben auch: Kunst. 

Gesellschaftspolitische Botschaften in Form einer poppig-poveren Rätselhaftigkeit zu versenden, ist auch der Stil der post-Internet art: Im Kasseler Fridericianum platzierte Timur Si-Qin verkokelte Yogamatten und tropfende Duschgelflaschen und verwies damit auf Wellnesstrends und Umweltprobleme. Auf der letzten Berlin Biennale 2014 senkte das eurasische Künstlerduo Slavs and Tatars einen Lautsprecher in einen Grashügel, aus dem der Ruf eines Muezzin nicht auf Arabisch, sondern auf Türkisch erklang, wie es Atatürk damals verordnet hatte. Egal ob in Galerien oder Projekträumen, auf Messen oder Biennalen: Für jedes noch so banale Thema haben Künstler heute einen Kommentar parat. Und das macht verdammt müde.

Wie kann das sein? Kunst will uns doch wachrütteln? Keine vier Flugstunden entfernt wüten die Fanatiker des sogenannten Islamischen Staats im Irak, zieht Russland in einen neuen Kalten Krieg, kämpft Griechenland mit der Verschuldung. Zeitgleich landen ständig neue Bilder von Kunstwerken und Künstlernamen auf unseren Smartphones, die zu Events in Dubai, Moskau, Hongkong, New York und Venedig verschickt werden und auf vorgeblich drängende Fragen der Zeit reagieren. Warum interessiert uns dann nicht, was ein junger Künstler aus Sambia über seine Heimat erzählt? 

Die Antwort ist bekannt: Wo wir permanent mit neuen Reizen übersättigt werden, fühlen wir uns intellektuell und sinnlich häufig unterernährt. Was etwa in der Literatur, wie im Falle von Michel Houellebecqs Unterwerfung funktioniert, nämlich durch eine künstlerische Haltung den Blick auf die Gegenwart zu schärfen und das Publikum in seinen existenziellen Gewissheiten zu erschüttern, gelingt in der Bildenden Kunst nur äußerst selten. Ein zentraler Punkt ist hier das Rezeptionsverhalten: Ein Buch muss man erst einmal lesen. Viele Kunstwerke dagegen wollen auf einen Blick erschlossen werden – zumindest, wenn sie den Markt bedienen sollen. Der US-Investor Stefan Simchowitz hat es vorgemacht: Die abstrakten Gemälde der von ihm vorfinanzierten Jungkünstler funktionieren deshalb so gut als Aktie, weil sie auf Instagram schön leuchten und so blitzschnell die Besitzer wechseln können. Der Nihilismus dahinter zeigt sich auch in den Bildern. Oder spürt man irgendeine Dringlichkeit in den internetbasierten Farbverläufen eines Parker Ito, der zur Eröffnung seiner Show in Los Angeles lakonisch erklärt, seine Bilder seien noch nicht fertig, aber das sei sowieso egal? 

Trotzdem strömen Besucher in Blockbusterschauen wie in Fußballstadien, Kunstwerke werden wie Aktien gehandelt, Galerien gleichen Flagship-Stores von Modelabels. Doch diese Inszenierung von Kunst als Lifestyle prägt unser Sehen immer mehr. Gleichzeitig ist Lifestyle oft in ein Kunstgewand gehüllt, sodass man beides gar nicht mehr wirklich auseinanderhalten kann. Inzwischen blicken wir auf Kunst wie auf eine neue Modekollektion, die uns sagt, welche Haltung wir gerade zur Welt einnehmen sollen: streng, verspielt, esoterisch, smart. Und viele Künstler bedienen bereitwillig diesen Wunsch nach neuen Impulsen. Doch was heißt das eigentlich: neu? Brauchen wir Dinge, die wir noch nicht kennen, um unseren Blick zu weiten? Ebnen kurze Reize den Weg zur Erkenntnis? Ab wann ist etwas überhaupt neu, und was sagt es uns über das Alte? 

Solche Fragen sind nicht neu. Schon Kandinsky regte sich auf über „Tausende und aber Tausende solcher Künstler, von denen die Mehrzahl nur nach neuer Manier sucht.“ Kein Wunder: Um überhaupt gesehen zu werden, so kann man mit dem Philosophen Boris Groys argumentieren, stehen sie, wie wir alle, unter Innovationsdruck. „Die Produktion des Neuen ist eine Forderung, der sich jeder unterwerfen muss, um in der Kultur die Anerkennung zu finden, die er anstrebt – andernfalls wäre es sinnlos, sich mit den Angelegenheiten der Kultur auseinanderzusetzen.“ Tatsächlich war Kunst immer dann neu und revolutionär, wenn sie mit Traditionen brach und ein Symbol für den Zeitgeist fand: Giotto, der seinen Figuren individuelle Gesichtszüge verlieh. Michelangelo, der Engel als Muskelpakete ohne Flügel malte. Cézanne, der die Zentralperspektive zersplitterte. Malewitsch, der bei null anfing. Beuys, der Fett und Filz zu menschlichen Metaphern machte. Warhol, der Suppendosen abmalen ließ. Vito Acconci, der unter einem Galeriefußboden masturbierte. Cindy Sherman, die sich als Filmfigur inszenierte. Damien Hirst, der einen Hai in Formaldehyd einlegte. Bis in die 90er-Jahre hatte das Neue ein Gesicht: Es sah anders aus als alles, was man zuvor in der Kunst gekannt hatte. Das war bewegend, hatte Charme und verschob die Grenzen der Wahrnehmung jedes Mal ein Stückchen weiter. Mit der Jahrtausendwende änderte sich jedoch etwas Entscheidendes. Nach und nach zersetzten sich sämtliche Subkulturen. Techno, Tattoos und Transgender wurden in den Mainstream überführt. Durch den zunehmenden Einfluss der digitalen Kommunikation und des Konsums ging es plötzlich immer weniger um Diskurse und immer mehr um den Markt.

Heute rasen Bilder und Namen mit einer Schnelligkeit durchs Netz, die die Halbwertzeit unserer Wahrnehmung auf die Länge eines Fingertipps verkürzt – und Qualitätskriterien kaum mehr zulässt. Das gilt selbst bei Künstlern, denen etwas radikal Neues gelingt: Die hysterischen Cybertrash-Videos von Ryan Trecartin wurden auf der Biennale von Venedig 2013 noch als Hit gefeiert. Bei seiner Arbeit in den Berliner Kunst-Werken 2014 gab es dann vor allem zwei Kommentare: dass sie nicht mehr neu genug war, aber dafür sehr teuer. Den Obsoleszenzfaktor kalkuliert Jordan Wolfson gleich mit ein – sein tanzender Cyborg war auf der letzten Art Basel Talk of the Town. Bald darauf sprach der Künstler darüber wie über ein Smartphone, das kurz nach dem Kauf schon wieder alt aussieht. 

Was hier so zynisch klingt, betrifft auch stillere Kunst: Die surreal-sanften Objekte von Eva Kotátková, die abstrakten Filme von Trisha Brown, Francis Alÿs, der einen Eisblock durch die Straßen schiebt – gemeinsam mit dekorativen Großformaten wie Sterling Rubys Sprühbildern oder Oscar Murillos Street-Art-Collagen verschwimmen sie in der Fülle und Vielfalt eines globalen Angebots, das den Betrachter zum Konsumenten macht: Er scrollt kurz drüber und klickt dann weg. Was hängen bleibt, sind Preise, Namen, Looks. Was abstumpft, ist der Blick. Das Neue verschwindet, sobald der Markt es schluckt – und dank Instagram, Facebook und Twitter tut er das sofort. Das Neue, so lässt sich folgern, gibt es also gar nicht mehr. Was es stattdessen gibt, sind Aufmerksamkeit, Likes, geteilte Inhalte. Bei der enormen Masse an Kunstproduktion, die täglich zu Messen und Ausstellungen um die Welt geschickt wird, fragt man sich: Wie wichtig sind beständige Werte, wenn uns individualisierte Werbung und Webseitenvideos anspringen, ohne dass man auf den Knopf drücken muss?

Nun, zumindest gibt es eine Sehnsucht nach Authentizität und bleibenden Eindrücken. Sie lässt sich an dem Run auf Events wie Marina Abramovićs Esoterik-Performances ablesen, für die man ansteht wie für ein Madonna-Konzert. Kunst als Massenevent kennen wir seit den Neunzigern, doch dass die künstlerische Aura zum Blockbuster taugt, ist neu. Wer beim Zuschauen heult, macht Werbung – für die Künstlerin, das Museum oder die Firma Adidas, für die wiederum Abramović wirbt. Abgesehen davon, dass die meisten Arbeiten Wiederaufgüsse früherer Performances aus den 70er- Jahren sind, verliert Abramović jene Glaubwürdigkeit, nach der wir uns gerade am meisten sehnen: Kunst, von der man nicht das Gefühl hat, sie sei als vermarktbares Produkt maßgeschneidert. Egal ob Mega-Performance oder Instagram-Post.

Denn während uns der Kunstbetrieb mit Bildern und Events befeuert, wollen wir vielleicht ein bisschen frische Luft. Stille. Auszeit, wie beim Lesen. Zeit zum Schauen und Nachdenken, um eigene Wege zu gehen. Und dabei auch in der Geschichte zu landen. Einmal zu überlegen, warum wir vor einem Francis Bacon immer noch in die Knie gehen und an Kohlblättern vorbei. Dann wird uns vielleicht klar, dass die Faszination zeitloser Werke nicht nur in ihrer ästhetischen Innovation und ihrem gesellschaftspolitischen Symbolgehalt liegt. Sondern vor allem in der Obsession, die man darin spürt. Und die knüpft sich an die Person hinter dem Werk.

Was als historisch relevant gilt und uns bis heute etwas sagt, hat seine Wurzel in der Überzeugungskraft von jemandem, der auf fast kindliche Weise akribisch und voller Hingabe an einem Plan gearbeitet hat. Der eine Mission hatte und keine Masche. Der Alltag war Hintergrundrauschen, kein Ideenwettbewerb in der Kampfzone um den nächsten Klick. Was wir in solchen Werken sehen, jenseits von handwerklichem Können oder metaphorischem Spürsinn, ist Wahrhaftigkeit. Und die erfährt man nur in der Begegnung – so wie bei allem, an das wir uns wirklich binden wollen. Auf diese Suche nach Beständigkeit hat der Markt natürlich auch schon wieder reagiert. Messen wie die Frieze Masters in London oder die TEFAF in Maastricht, versuchen den Brückenschlag zwischen Alten Meistern, Moderne und Gegenwart. Im Hamburger Bahnhof und auf der Biennale von Venedig werden Outsider präsentiert. Vergessene Positionen gelangen plötzlich in den Museumsolymp: Florine Stettheimer ins Lenbachhaus, Franz Erhard Walther in die Hamburger Kunsthalle, Dorothy Iannone in die Berlinische Galerie. Egal ob verkannte Genies, Großmeister oder Geisteskranke – sie alle haben etwas gemeinsam: eine bewegte, häufig tragische Biografie, sie sind einer Vision gefolgt und gegen den Strom geschwommen. Sie haben sich eigene Universen kreiert, sind an die Grenze oder ins Extrem gegangen. Sie haben etwas Neues geschaffen – aber nicht um des Neuen willen. Sie konnten einfach nicht anders. Kandinsky hat das die „innere Notwendigkeit“ genannt. Sie ist es, die uns fasziniert.

Es ist die Konsequenz und Klarheit in der Umsetzung eines bestimmten Zeitgefühls und das Aufspüren des Existenziellen darin, was unseren Blick auf die Welt vom Alltag abhebt. Nur dann entsteht eine Gültigkeit über den Moment hinaus. Das hat nichts mit dem Elfenbeinturm zu tun. Abstand nehmen hilft, die Sinne zu schärfen für das, was ist. Kunst ist der Ausdruck eines Gegenlaufens zur Realität, das wissen wir von Adorno. Wenn aber unser Blick auf Kunst trifft wie auf eine Schaufensterauslage oder eine Sensation, hat sie ihre transformative Kraft verloren. Eben die ist jedoch essenziell, um langfristige Bindungen herzustellen. Liebe braucht Zeit. Es ist an der Zeit, sie sich zu nehmen – damit wir wieder sehen können und nicht nur scannen.

© Gesine Borcherdt