Interview mit Ralph Rugoff
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Ralph Rugoff ist der Kurator der 58. Biennale von Venedig, die am 11. Mai beginnt. Geboren 1957 in New York und als Kunstrkritiker und Kurator sozialisiert in Kalifornien, hat er seit seinem Antritt 2006 die Londoner Hayward Gallery zu einer der ersten Kunstadressen an der Themse gemacht, mit populären Einzelausstellungen von Tracey Emin oder Andreas Gursky sowie mit Gruppenschauen wie "The Infinite Mix" zum Crossover von Kunst und Musik.

Rugoff glaubt an die körperliche und psychologische Kraft von Kunst, an ihr transformatives Potenzial. Er steht für die Zusammenarbeit mit Künstlern, deren Werke von Fantasie, Obsession und Körperlichkeit erzählen - und für Ausstellungen, die immersive Erlebnisse erzeugen. Keine Selbstverständlichkeit in Zeiten, in denen iene politische Debatte die ästhetische verdrängt. 

Auch Rugoff duckt sich nicht weg. Seine Biennale trägt den Titel "May You Live In Interesting Times": ein angebliches chinesisches Sprichwort, das der britische Politiker Sir Austen Chamberlain Ende der 1930er-Jahre zitierte, um auf die Krise seiner Zeit zu verweisen. Doch der Spruch ist Fake News: Obwohl von westlichen Politikern immer wieder zitiert, hat es ihn in China nie gegeben. 

Erfindungen sind es auch, mit denen die Künstler dieser Biennale auf die Welt blicken. Doch wer ist der Mann, der ihnen den Raum dafür gibt? Welche Künstler haben seinen Blick auf die Welt geprägt und welche Ausstellungen seine Sicht auf die Kunst? Wir trafen einen Kurator, der Künstler weit wichtiger nimmt als sich selbst. 

 

Als Kurator der Biennale von Venedig stehen Sie gerade auf dem Höhepunkt Ihrer Karriere. Wenn Sie auf Ihre Anfänge zurückblicken: Welche Ausstellungen haben Ihre Sicht auf Kunst und wie man sie ausstellt geprägt? 

In den Neunzigern gab es eine Reihe von Ausstellungen, die von Künstlern kuratiert waren und einen großen Einfluss auf mich hatten. Eine davon war Mike Kelleys Schau „The Uncanny“ im Gemeentemuseum Arnhem. Kelley stellte Monstrositäten aus medizinhistorischen Sammlungen mit vermeintlich vertrauten Alltagsdingen und Puppen gegenüber. So etwas hatte es vorher noch nie gegeben. Ein anderer Künstler war Jeffrey Vallance aus Los Angeles. Er kuratierte in Las Vegas Ausstellungen im Clown Museum und im Liberace Museum, einem Haus voller Kostüme, Schmuck und Autos. Er lud Künstler ein, Arbeiten für diese Orte zu produzieren. Ihre Werke sahen aus, als wären sie längst Teil dieser Museen. Man ging also hin und wusste nicht, was ein neues Kunstwerk war und was zur Sammlung gehörte. Für mich ist Kunst dann interessant, wenn sie mich verunsichert. Wenn ich nicht weiß, wie ich sie verstehen soll, ob es sich überhaupt um Kunst handelt und wenn ja, zu welcher Kategorie sie gehört. Jeffreys Ausstellung funktionierte genau so. Ein Künstler, der etwas Ähnliches tat und der mich sehr beeinflusst hat, war David Hammons. Er kuratierte eine Ausstellung in Downtown New York, in einem Geschäft, das afrikanisches Kunsthandwerk verkaufte. Hammons fertigte Kunstwerke aus Dingen im Laden an und beließ sie dort. Auch hier war es wie bei einer Schatzsuche: Man versuchte, herauszufinden, was von Hammons stammte und was nicht. Diese Art des heimlichen Kuratierens hat mich sehr fasziniert. 

Welche Beziehung hatten Sie zu diesen Künstlern? 

Mit Mike Kelley war ich seit den Achtzigerjahren befreundet, und er hat mich sehr stark beeinflusst. Er war extrem originell und kenntnisreich. Ihm verdanke ich meine erste Ausstellung, weil ihm die Idee gefiel. Sie hieß „Just Pathetic“ und fand 1990 in der Rosamund Felsen Gallery in Los Angeles statt. Auch David Hammons und Cady Noland waren vertreten, denen ich bis heute nahe bin. Der Ausstellungstitel evozierte die Idee des Scheiterns und unsere widersprüchliche emotionale Reaktion darauf: Etwas fühlt sich traurig an und wirkt im selben Moment auch lächerlich. Wie können wir diese beiden Gefühle gleichzeitig haben? Mich interessierte der Gedanke, dass wir fundamental gespalten und keine kohärenten uniformen Pakete sind, sondern aus vielen verschiedenen Teilen bestehen. Im Grunde spielt das in jeder Ausstellung eine Rolle, die ich bisher kuratiert habe. 

Was haben Sie von den Künstlern übers Kuratieren gelernt?

Ich glaube an die Idee, dass eine Ausstellung die Besucher einbezieht und sie etwas entdecken lässt. Man muss sich in ihr verlieren können. Und es hat durchaus etwas Reizvolles, wenn eine Schau so groß ist, dass man die Dinge nicht alle gleichzeitig verarbeiten kann. Das ist derzeit meine Erfahrung beim Kuratieren dieser Biennale von Venedig. Es sind 82 Künstler und jeder von ihnen macht zwei völlig verschiedene Arbeiten, die jeweils im Arsenale und im Hauptpavillon gezeigt werden. 164 Projekte parallel im Kopf zu haben ist mehr als ich leisten kann. Aber ich empfinde das als sehr spannend. Man kann das Ganze nicht zu einem kompakten Bündel schnüren. Immer wenn ich das versuche, kommt etwas anderes heraus. Am Ende zeichnet sich eine gute Biennale dadurch aus, dass man sich an die Kunstwerke erinnert, die man wirklich mochte. Welche Rolle spielt da schon ein Thema? Idealerweise verschwindet der Kurator im Hintergrund. Es geht nur um die Kunstwerke. Als Kurator hat man gut gearbeitet, wenn der Besucher ein tolles Kunsterlebnis hatte. Das ist es, was hängen bleibt. 

Erinnern Sie sich an Ihr erstes Kunsterlebnis? 

Das erste, was mich als Kind visuell beeinflusst hat, waren Poster und Album-Cover von Psychedelic Rock-Bands. Sie hatten etwas Grafisches, das etwas in mir auslöste. Auch Buchillustrationen wie etwa die Zeichnungen von Alice in Wonderland waren wichtig. Später nahmen mich meine Cousins in Andy Warhols Factory mit – sie hingen mit den Jungs ab, die wiederum mit Andy abhingen. Ich fand das Interieur der Factory großartig. Aber die erste Museumsausstellung, die mich beeindruckt hat, war Joseph Beuys, 1979 im Guggenheim Museum. Ich war 22 und hatte keine Ahnung, wer das war. Ich betrat eine unbekannte Welt. Eine Welt, die voller Bedeutung schien, die man erspürte aber nicht richtig artikulieren konnte. Ursprünglich interessierte ich mich ja mehr für Film, Literatur und Musik. Ich wohnte im East Village, wo damals viel los war. Und ich hatte viele Freunde, die Künstler waren und mich an Kunst heranführten. 

Gibt es heute noch Künstler, die Sie mit selbst kuratierten Ausstellungen überraschen? 

Rosemarie Trockels Ausstellung “Cosmos” 2013 in der Serpentine Gallery und im New Museum fand ich sehr interessant. Sie präsentierte ihre eigenen Arbeiten in einer Art Wunderkammer, vermischt mit Objekten zwischen Naturwissenschaft und Kunst, die sie beeinflusst hatten. Etwas Ähnliches tat Cindy Sherman, als Massimiliano Gioni sie auf die Biennale von Venedig einlud. Ich glaube sogar, auf sie ging der Titel der Biennale zurück: „The Encyclopedic Palace“. Massimiliano gab ihr einen Bereich im Arsenale, wo sie ihre eigene Ausstellung kuratierte. Das war eine brillante Idee! Cindy zeigte eine Reihe von Puppen und Fotografien, die sie in Privatsammlungen entdeckt hatte, unter anderem Aufnahmen von Transgendern, die viel mit ihrer eigenen Arbeit gemein hatten. Sie präsentierte also Dinge, die sie selbst interessierten. So ein spielerischer Ansatz ist immer gut – in der Regel sind Künstler sehr viel spielerischer als Kuratoren. 

Das Spielerische hat auch mit der überschaubaren Größe solcher Ausstellungen zu tun. Hat eine Biennale da überhaupt eine Chance? 

Letztes Jahr gab es eine Biennale, die mir gefiel: Die Sydney Biennale, kuratiert von Mami Kataoka. Sie trug den Titel „Superpositions“ – ein Begriff aus der Quantenphysik, der besagt, dass Elektronen Welle und Teilchen zugleich sein können. Ich mochte diese Idee, dass eine Sache zwei Identitäten hat. Auch Kunst ist immer mehr als nur eine Sache. Mamis Ausstellung war wunderbar kuratiert – die Arbeiten waren sehr bedacht kombiniert und gut im Raum installiert. Das gibt es auf Biennalen nur ganz selten. Obwohl die Schau in einer gigantischen Industriehalle gezeigt wurde, gelang es Mami, jedes einzelne Kunstwerk zum Leben zu erwecken. Statt Wände aufzustellen, ließ sie den gesamten Raum dunkel und installierte verschiedene Lichtquellen für Installationen. Und es gab Videos, die ihr eigenes Licht hervorbrachten. Man hatte also das wunderbare Gefühl, in einem riesigen Raum zu sein und dennoch alles zu sehen. Zugleich waren die Arbeiten weit genug voneinander entfernt, dass ihr Sound sich nicht überlappte. Die Intelligenz und Eleganz dieser Installation machten den Ausstellungsbesuch sehr angenehm. Und genau das ist die Herausforderung dieser großen Ausstellungen: An einem bestimmten Punkt sind sie eben nicht mehr angenehm. Sie werden zum Ausdauerwettbewerb – es gibt viel mehr Werke, als man sich je freiwillig parallel ansehen würde. Aber Kunstwerke verdienen es, beachtet zu werden! Nachdem man jedoch mit Werken zwanzig verschiedener Künstler zu tun hatte – zumindest ergeht es mir so – fährt das Gehirn herunter, die Batterie wird leer, und es ist Zeit für eine Pause. Kunst aufmerksam zu betrachten und sich mit ihr zu befassen, erfordert eine mentale Aktivität, die viel Energie verbraucht. Manchmal merkt man das nicht sofort, aber es schlägt sich in jedem Kunstwerk nieder, das man danach betrachtet – man ist weniger für es da, und bekommt weniger von ihm zurück. Wenn man eine Ausstellung so gestaltet wie Mami Kataoka, hilft das enorm. Übrigens fand ich auch die Mediacity Biennale in Seoul gut gemacht – das Kuratorenteam hatte sich dort etwas ausgedacht, was ich noch nicht kannte: Es gab eine Art alternativen Buchladen, für den die Künstler jeweils ihre Version des Ausstellungskataloges entworfen hatten. Das war eine grandiose Idee: Buchladen und Katalog einer Schau von Künstlern kidnappen zu lassen, die ihre eigene Sicht auf die Dinge haben! Ich finde, das Format der Biennale lässt unglaublich viel Raum für Experimente. 

Ist das der Grund, dass Sie Ihrer Biennale keine politische Agenda gegeben haben, so wie es viele andere Kuratoren tun? 

Die meisten Kuratoren konzentrieren sich auf die Idee eines Themas – aber ich finde, Themen versperren oft den Weg. Als ich anfing, an dieser Biennale zu arbeiten, stieß ich auf ein Zitat von Robert Rauschenberg. Jemand hatte ihn gefragt, wie er auf die Ideen für seine Arbeit komme und seine Antwort war, dass er Ideen als sehr limitierend empfinde. Das verstand ich gut. Meine Arbeit wird vor allem von Neugier vorangetrieben. Wenn man aber ein Thema wählt und dann alle Arbeiten darunter unterbringen muss, die dann wiederum der Besucher unter diese Thema lesen soll, engt das die Sicht auf die Kunst sehr ein. Ich aber will den Blick meiner Biennale auf möglichst viele Bedeutungsebenen der Kunstwerke richten – auf ihre Widersprüchlichkeit und die Art und Weise, wie sie komplexe und paradoxe Situationen angehen und durch verschiedene Lesarten neue Perspektiven eröffnen. Sie in ein Thema zu pressen, würde all diese Türen verschließen.