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Vier Jahre nach seinem Tod ehrt das New Yorker MoMA Sigmar Polke. Nicht als großen Maler, sondern als dadaistisches Allround-Genie

Welt am Sonntag – 20. April 2014

Eigentlich braucht jeder Mensch einmal im Leben einen Polke-Moment. Der berühmte Kritiker Benjamin Buchloh hatte seinen, als ihm der Künstler über Nacht ein Gatter mit der Aufschrift "Kunst macht frei" vor die Düsseldorfer Kunsthalle schob, wo Buchloh ihm gerade eine Retrospektive einrichtete – ohne das Einverständnis des damals 35-Jährigen. Die Autorin dieses Textes hatte ihren, als Polke 2007 den Rubens-Preis der Stadt Siegen erhielt und einen Trupp Journalistinnen durch seine dortige Schau schleuste, nichts erklärte, aber ständig schallend auflachte und mit einer kleinen Kamera herumknipste; zu Hause klebte einem dann plötzlich ein Smiley auf dem Hintern. Und Kathy Halbreich, Co-Direktorin des New Yorker Museum of Modern Art, die sechs Jahre lang an der am Freitag eröffneten Polke-Retrospektive arbeitete, erzählt: "Als ich das erste Mal mit meinem Kollegen vor seinem Atelier stand, war er nicht da. Wir gingen einen Kaffee trinken, kamen zurück – er war nicht da. Wir tranken noch einen Kaffee – danach stand eine Kekspackung im Fenster."

Die Ausdauer hat sich gelohnt. Sigmar Polke, geboren 1941 in Schlesien und gestorben 2010 in Köln, war der Thomas Crown des Kunstbetriebs. Einer, der nicht zu fassen war, dessen Werk vor Witz sprühte über Bürgerlichkeit und Bildgeschichte. Bisher wurde Polke vor allem als Großmaler rezipiert; immer ein bisschen schräger, komplizierter, närrischer, ironischer, poppiger, drogenabhängiger und okkultistischer als sein Studienfreund Gerhard Richter – mit Bildern aus 50er-Jahre-Bettbezügen, Geschirrtüchern, Gel, Harz, Lack und Luftpolsterfolie, versetzt mit Acryl, Dispersionsfarbe, Arsen, Nickel oder Eisenspäne, die mit ihrer Aura aus Hertie und Hippie nicht ganz so greifbar und geschmeidig waren wie die samtigen Formate des noch berühmteren Kollegen.

Gerhard Richter hatte das MoMA 2002 in einer ebenso brav wie eindrucksvoll durchkomponierten Retrospektive präsentiert, in der Wandtexte noch erklärten, was die RAF war. Bei Polke ist nun alles anders. Die Werkschau mit dem Titel "Alibis. Sigmar Polke 1969-2010" verzichtet auf Schilder, wie sich überhaupt alles so offen und zeitgenössisch, leicht und lebendig anfühlt, dass man sich eher im jüngeren MoMA-Ableger P.S.1 wähnt als in der Kühlschrank-Architektur der Weihestätte in Manhattan. Statt zu wiederholen, was bereits 1997 in der Bundeskunsthalle Bonn als klassische Retrospektive gefeiert wurde, verweigert sich diese Schau dem Blockbuster-Format in etwa so, wie Polke sich jeder kunsthistorischen Klassifizierung verweigert hat. Anhand von 265 experimentellen Fotos, Filmen, Notizbüchern, Objekten und ja, auch Gemälden – 90 davon Leihgaben, der Rest aus dem Nachlass und MoMA-Bestand – wird erstmals in voller Bandbreite deutlich, wie sehr Polke ständig jede Abmachung und Autorität unterlaufen hat. Polke wird hier als malender Konzeptkünstler begriffen. Sein Schalk, mit dem er an der Hamburger Kunstakademie Albert Oehlen, Werner Büttner, Georg Herold und Martin Kippenberger ins Rennen um die rotzigsten Bildtitel schickte, so zeigt diese Ausstellung, geht einher mit einer fluxusartigen Wandelbarkeit, gegen die seine Schüler zeitweilig wie grobmotorische One-Trick-Ponies wirkten.

So einzelgängerisch Polke ab den 70er-Jahren agierte, begonnen hatte er wie seine späteren Schüler in einem Männerklub. Anfang der Sechziger studiert er an der Düsseldorfer Kunstakademie in der legendären Klasse von K.O. Goetz, zusammen mit Gerhard Richter, Konrad Lueg und Manfred Kuttner: Ein Freundeskreis, mit dem er den "Kapitalistischen Realismus" begründet – eine deutsche Spielrichtung der Pop-Art und Seitenhieb auf die biedere Figurenpinselei der DDR, von wo aus alle vier an den Rhein übersiedelt waren. Polkes Punkteraster, mit denen er Tennisspieler, Familienfotos, Lee Harvey Oswald oder einfach nur krumme Farbtupfer auf die Leinwand bringt, greifen die Printtechnik der Massenmedien auf. Er, der mit V-Ausschnitt und randloser Brille später selbst wie ein Spießbürger aussah, eignet sich händisch die Geste des technisch erzeugten Bildes an, um den Wohnzimmermuff des Nachkriegsdeutschlands in die Kunst zu holen – und zugleich den Punkt als DNA von Kunst und Massenmedien zu feiern. Sätze wie "Ich liebe alle Punkte. Mit vielen Punkten bin ich verheiratet. Ich möchte, dass alle Punkte glücklich sind" haben denn auch denselben Tonfall wie die unzähligen kleinen Zeichnungsblätter, auf denen man im MoMA "Darf man Kinder auslachen?" oder "Mehl in der Wurst" liest.

Überhaupt, Essen. Die Fressgesellschaft der Wirtschaftswunderzeit verhackstückt Polke in Bohnen, Berlinern und Bäckermützen, die er auf fröhlich bedruckte Tischdecken oder Industriestoffe aus dem Kaufhaus malt und so auch der Kunst seiner Zeit auf den Zahn fühlt: Abstraktionsselig dank dem Trend zu Informel und ZERO blendete sie einen direkten Bezug zur politischen Vergangenheit aus. Auch Polke erhebt keinen Zeigefinger, sondern deutet auf das, was er sieht: Die Verschränkung von Kunst, Kitsch und Konsum, viele Fakten und wenig Fantasie. Gegen die Ratio stellt sich in der Schau auch sein berühmtestes Bild: "Höhere Wesen befahlen: Obere rechte Ecke schwarz malen!" (1969) zeigt ein schwarzes Dreieck auf weißem Grund, der Titel steht in Schreibmaschinenschrift am unteren Bildrand: Utopie und Bürokratie, friedlich vereint in einem Bildraum.

"Man kann heute nicht mehr auf Polkes Gemälde blicken, ohne die anderen Arbeiten zu kennen", sagt Kathy Halbreich – und meint damit nicht nur Objekte wie die "Zollstockpalme" (1966) als ästhetische Kreuzung aus Hobbykeller und Fernweh, das Polke zugleich als Selbstporträt verstand, den "Apparat, mit dem eine Kartoffel eine andere umkreisen kann" (1969) oder "Das große Schimpftuch" (1968) aus schnödem Flanell, in das Polke sich einhüllte wie Beuys in Filz. Die Schau zeigt auch, dass Polke fast immer mit der Kamera unterwegs war – besonders bei seinen Reisen auf dem Opium-Pfad durch Afghanistan und den Libanon, China und Brasilien. Es entstehen teils groteske Dokumentationen, etwa die Krönung eines Schimpansen, aber auch großartige performative Inszenierungen: In dem 16-mm-Film "Der ganze Körper fühlt sich leicht an und möchte fliegen" (1969) inszeniert sich Polke mit einem Pendel über der Stirn als Leonardos Vitruvianischer Mensch.

Herausragend sind die vielen Fotoserien aus den Siebzigern und Achtzigern: Polke, der zwischendurch in einer Kommune im Rheinland lebte, experimentierte mit Drogen und fotochemischen Prozessen, mit Mehrfachbelichtungen, Knicken und Kolorierungen; Bilder von Eingeborenen, Schaufenstern und Fliegenpilzen überlagern sich zu einer geisterhaften Gesamtschau auf unwirkliche Welten. Irgendwann legt Polke Uranstein auf Fotopapier: Die pinkfarbenen Wolken wirken wie ein letztes Gegengift zu Konrad Adenauers Wahlspruch "Keine Experimente" – und machten ihn womöglich selbst krebskrank. Doch Polke hört nicht auf. Seine explosiven Motive aus den Achtzigern aus Meteoritenstaub, Harz oder Silbernitrat arbeiten von alleine weiter, nur um später von eher bemühten Historienmotiven in alter Rastermanier beerbt zu werden. Doch am Ende zeigt ein tintegetränktes Tagebuch, dass Polke bis zuletzt immer nach neuen Formen suchte, um jede klare Definition von Malerei zu sprengen.

Ihn faszinierte das Paranormale, das Unkontrollierbare, das Mögliche. Für Polke war alles im Fluss, es ging um Grenzenlosigkeit. Im Grunde stellt die Schau Polke als Dadaisten vor, dem die Malerei als Quelle parodistischer Gesten und phänomenologischer Experimente diente.

**Polke bleibt im MoMA ein deutscher Künstler** 

Trotz aller Reisen in innere und äußere Welten: Polke bleibt im MoMA ein deutscher Künstler. Sein Sprachwitz übersetzt sich ebenso wenig ins Amerikanische wie die Karstadt- und Brezel-Ästhetik seiner frühen Bildsatiren. Michael Werner, Polkes Galerist seit den 70er-Jahren, hat Polke dennoch jahrzehntelang einen globalen Markt beschert – kaum eine wichtige Privatsammlung und kein Museum kommt ohne ihn aus – vor allem mit Malerei, deren beste Werke heute zwischen drei und fünf Millionen Dollar kosten. So ist es kein Wunder, dass die Schau im MoMA nun alles andere als die Retrospektive ist, die sich sein Galerist gewünscht hätte. "Die Zutaten einer Meisterausstellung fehlen", sagt Werner. "Viele der besten Arbeiten sind nicht dabei. Stattdessen dient die Werkauswahl dem zeitgenössischen Kunstbetrieb mit seiner Malereigegnerschaft." Tatsächlich fällt die Ausstellung im letzten Drittel qualitativ ab, die Werkauswahl erscheint wie ein Beweis für Polkes abnehmende Trefferquote. Und die eher spielerische Publikation ist übersymbolisch in ein Schlangenmuster eingefasst, um Polkes Wandelbarkeit zu illustrieren.

Aber genau diesen offenen Ansatz hätte Polke womöglich gemocht – denn als Buchloh damals seine Retrospektive plante, nannte er sie sein Grabmal. Sich nun vor ihm mit einer ehrfurchtsvollen, ernsten und klassischen Malereischau zu verbeugen, so wie man es inzwischen fast im Jahrestakt mit Gerhard Richter macht, wäre ihm, so sieht es Kathy Halbreich, nicht gerecht geworden. "Sehr vereinfacht könnte man sagen: Richter ist ein großer Maler, Polke ein großer Künstler", so die Kuratorin provokant. Ein Künstler, so denkt man, der sich auch heute noch nachts ins MoMA schleichen könnte und ein paar Kekskrümel hinterlassen würde. Und trotzdem: ein großer Maler.

© Gesine Borcherdt