Zeichnungen im Raum
/ AD Architectural Digest

Wollte man eine architektonische Metapher für das Leben finden, für alle Fragilität und Verspieltheit, für Trotz und Frohsinn, das ständige Suchen und Schweben und die Verbundenheit aller Dinge – Gegos zarte Aluminiumnetze sind genau das. Mit ihren im Raum verspannten „Reticuláreas“, mit der sie die Idee von Skulptur in tänzerische Begegnungsorte verwandelte, avancierte die gelernte Architektin zu den bedeutendsten Künstlerinnen Lateinamerikas. Nun wird Gego, die eigentlich Gertrud Goldschmidt hieß, endlich im großen Stil wiederentdeckt: Das Guggenheim Museum New York widmet ihr ab März eine Retrospektive.

 

Geboren wird Goldschmidt 1912 in Hamburg, in die siebenköpfige Bankiersfamilie J. Goldschmidt & Söhne. Sie studiert an der Technischen Hochschule Stuttgart, einer der weltweit angesehensten Hochschulen für Architektur mit Schwerpunkt auf Ingenieurswissenschaften. Kaum hat sie ihr Diplom in der Tasche, drängt ihr Professor Paul Bonatz sie zur Flucht: 1939 ist sie die letzte ihrer Familie, die Deutschland verlässt – den Schlüssel der Hamburger Stadtvilla wirft sie demonstrativ in die Alster. Sie folgt ihren Verwandten nach England, wo man ihr jedoch nur ein Transitvisum gewährt. Über einen Cousin erhält sie ein Visum für Venezuela, wohin Gego mit einem Frachtschiff aufbricht. Weder spricht sie Spanisch, noch hat sie eine Idee, was sie in Caracas erwartet. Doch Lateinamerika bringt ihr Glück: Schon ein Jahr später ist sie mit dem deutschen Unternehmer Ernst Gunz verheiratet, ist für verschiedene Planungsbüros und Baufirmen tätig und arbeitet an eigenen Architekturprojekten. Bis Ende der Vierzigerjahre entstehen für ihre eigene Familie und Freunde zwei Wohnhäuser, die sie regelrecht mit der Natur verschmilzt, sowie Bars, Restaurants und der erste Nachtclub in Caracas. Doch so richtig fühlt sich Gego in der eisernen Männerdomäne nicht aufgehoben. Sie entschließt sich, zum Aufblühen der architektonischen Moderne, das in Venezuela dank Ölboom und europäischen Einwanderern enorm an Fahrt aufnimmt, fortan mit kleineren, aber nicht minder relevanten Eingriffen beizutragen. Fünf Jahre lang betreibt sie mit ihrem Mann ein florierendes Geschäft für Interior Design, für das sie Lampen und Möbel entwirft. Dann beginnt sie, als Professorin an der Universität von Venezuela Architektur und Urbanistik zu lehren – in einer Zeit, als ihr Leben bereits eine neue Wendung genommen hat: Ihr neuer Lebensgefährte, der Künstler Gerd Leufert, bestärkt sie darin, sich ganz auf ihre Kunst zu konzentrieren, die sie bisher nur nebenbei praktiziert.

 

Tatsächlich ist Gego in einem Land, das sich die Förderung kinetischer Skulptur als Symbol für Freiheit und Fortschritt auf die Fahnen geschrieben hat und wo jedes neue Bauvorhaben, jede urbane Erneuerung Projekte für Kunst im öffentlichen Raum verlangt, die perfekte Protagonistin. Bald webt sie metallisch-abstrakte Parallelarchitekturen in den Stadtraum ein, die mit Metrostationen, Banken und Einkaufszentren in Dialog treten: filigrane, geometrisch komponierte Metallgestänge, die die Luft wie Linien durchstoßen und Leere in Formen verwandeln. Gego agiert hier als Architektin, Bauingenieurin und Künstlerin zugleich – und wird zur Pionierin eines neuen, offenen, modularen Skulpturbegriffs, der der geometrischen Abstraktion Lateinamerikas mit Künstlern wie Lygia Clark und Jésus Rafael Soto eine ganz eigene Note verleiht. Als sie 1969 beginnt, ihre organisch versponnenen Metallnetze im reinen Kunstkontext aufzuspannen – die in den Raum wuchernden „Reticuláreas“ und die von der Decke fließenden „Chorrós“ – hat sie eine Kunst erfunden, die auf spielerische Interaktion setzt – und die ohne ihre Ingenieurskenntnisse nicht möglich wäre. Um Licht, Linie und Leere durch Metallstäbe mit modulierbaren Knotenpunkten zu verbinden, dienen ihr Buckminster Fullers sphärische Kuppeln aus Dreiecksstrukturen als Vorbild. Doch Gego findet ihre ganz eigene Form   architektonischer Skulptur, deren geisterhafte Transparenz den Werken ihrer männlichen Zeitgenossen von Zero bis Minimal Art eine bis dahin ungekannte Lebendigkeit entgegenstellt. An ihren früheren Professor Bonatz schreibt sie später: „Wenn ich auch der Architektur verloren gegangen bin und nicht durch sie das Leben hab‘ meistern können, so hat sie mich doch, zum Teil gewiss, geformt. Auch unglückliche Lieben haben großen Wert und ihre Wirkung.“ Wie recht sie hatte, sieht man daran, dass ihre Strukturen heute ungemein zeitgemäß erscheinen – abstrakte Sinnbilder für Leben, das sich durch den Raum tastet und nach Begegnungen sucht.

 

Geometrisch, offen, filigran: Kleine Zeichnungen und Skulpturen bereiten den Weg für Gegos „Reticuláreas“ (links) – im Raum verspannte Metallnetze aus flexiblen Tetraedern von 1969, mit denen die deutschstämmige Architektin in Venezuela Kunstgeschichte schrieb.

 

Tastend, tanzend, träumerisch: So abstrakt Gegos Kunst ist, der Körper schwingt immer mit. Bis zu ihrem Tod 1994 experimentiert die Künstlerin mit immer neuen Formen, sei es in Zeichnungen, Drucken oder Skulpturen. Die parallelen Metallstrukturen bilden die DNA ihres Werks, das den Stadtraum Venezuelas als „Kunst am Bau“ mitgeprägt hat. 

 

Ende der 1980er Jahre entstehen die „Bichitos“ (rechts). Es sind Gegos letzte dreidimensionale Arbeiten, die geisterhaft leicht und schwebend wirken. Die Künstlerin stellt sie aus übriggebliebenen Materialien her: Nachhaltigkeit avant la lettre!