Die Zeit der jungen Stars am Markt ist vorbei. Jetzt werden unterbewertete oder vergessene Helden der Vergangenheit wiederentdeckt. Wie die Nachlässe von Künstlern zur Goldgrube für Galerien werden
Die Welt – 11. August 2013
Es gab eine Zeit am Kunstmarkt, da konnten die Künstler nicht jung genug sein. Galerien vermeldeten Neuzugänge Jahrgang 1985 aufwärts, Sammler kauften sie unbesehen zu exorbitanten Preisen und Firmen lobten Nachwuchspreise aus, als wäre Adoleszenz allein eine Sensation. Dann kam 2008 – und aus Wunderkindern wie Terence Koh und Dash Snow wurden One-Hit-Wonder. Der Markt hat daraus gelernt.
Es stimmt nicht, dass die diesjährige Biennale von Venedig mit all ihren Outsidern und vergessenen Helden am Handel vorbeioperiert. Denn es sind vor allem tote Künstler, besonders Wiederentdeckungen aus den 1960er- und 70er- Jahren, mit denen sich derzeit immer mehr Galerien für einen historischen Gestus entscheiden, der Aura und Authentizität, Mythos und Marktbesonnenheit verheißt. Die Sammler wissen das zu schätzen: Schließlich kann man inzwischen problemlos im Internet nachschauen, ob ein junger Künstler tatsächlich etwas Neues macht oder ob das zitierte Original nicht einfach besser ist.
Wer spiegelt sich nicht gern im Glanz der Geschichte – der natürlich auch auf die Galerien fällt? Doch für sie heißt
Nachlassvertretung nicht gleich schneller Gewinn. Oft geht dem viel Arbeit voraus, je nachdem, wie bekannt ein Künstler bereits ist, wo der Nachlass vorher betreut wurde oder ob gar jemand aus dem eigenen Programm verstorben ist. Recherchieren, katalogisieren, restaurieren, fotografieren, konservieren, präsentieren, und das alles in Dialog mit den Erben ist ein quasi musealer Auftrag. Nicht viele Galerien können es sich leisten, eigens Mitarbeiter dafür zu beschäftigen, um irgendwann mit begrenzten Ressourcen in den Handel zu gehen. Aber wenn doch – dann sind die Jahre um 1960 derzeit eine Goldgrube.
„Nachlassvertretung ist kommerziell interessant, wenn man mit Künstlern aus dem Kanon der Geschichte arbeitet“, so Florian Berktold, Direktor der Galerie Hauser & Wirth, die inzwischen sieben Nachlässe vertritt – darunter Eva Hesse, Lee Lozano, Dieter Roth oder auch den Klassiker der Moderne Henry Moore. „Wenn ein Künstler erst vor Kurzem gestorben ist, gehen die Preise natürlich nicht gleich nach oben. Oft muss erst einmal geklärt werden, was es überhaupt an Arbeiten gibt und wer Ansprüche daran hat. Dann beginnt ein langsamer Verkaufsprozess – allein schon aus Pietätsgründen darf man sich nicht einfach übers Erbe hermachen. Man trifft eine Auswahl, was auf den Markt und was zurückgehalten werden soll, um das Ansehen schrittweise zu steigern. Schließlich will man ja aus den Ressourcen auch noch in zehn Jahren Ausstellungen mittragen können.“ Als Anlaufstelle für ein künstlerisches Vermächtnis ist die Galerie dafür verantwortlich, dass ein Werk auf Messen und in Museen gezeigt wird. Das ist auch ein Prestigefaktor.
Ohne das Einverständnis der Erben geht es allerdings nicht. Auch hier ist Behutsamkeit gefragt: Viele sind in die Kunst kaum involviert, manche hegen vor allem kommerzielle Absichten, andere engagieren sich für die inhaltliche Aufarbeitung. So wie bei Eva Hesse, die 1970 mit 34 Jahren an einem Hirntumor starb. Als deutsche Jüdin, die als Kind nach New York emigrierte und zur Ikone des Postminimalismus wurde, war sie bereits ein Mythos, als ihre Schwester Helen gemeinsam mit dem Nachlassverwalter Barry Rosen auf Hauser & Wirth zukam. „Das Wichtigste ist, für das Werk Sichtbarkeit und Forschung zu gewährleisten. Eva Hesse war für spätere Generationen sehr bedeutend, daher liegt unser Fokus nicht auf dem Verkauf, sondern darauf, was in eine Ausstellung kommt“, so Rosen.
Klar, dass die wenigen verkäuflichen Hesse-Werke für Museen zurückgehalten und darüber immer teurer werden. Inzwischen kosten Zeichnungen zwischen 250.000 und eine Million Dollar, Skulpturen – kaum am Markt – liegen im zweistelligen Millionenbereich. „Um verstorbene Künstler im Gespräch zu halten, muss man neue Sichtweisen zulassen und das Vermächtnis bewusst steuern“, meint Berktold. Oft scheint es für die Erben schwierig, bei Hängung und Thematik von Altbewährtem abzuweichen – Innovationen werden als Eingriff in die Persönlichkeit des Verstorbenen gesehen. Doch wenn man bedenkt, wie viele Künstler allein aufgrund von Erbstreitigkeiten oder Verwaltungsquerelen kaum noch präsent sind – etwa Marcel Broodthaers oder Oskar Schlemmer – wird klar, wie wichtig eine pietätvolle Neuinterpretation ist.
Ähnlich argumentiert Jörg Plickat, der den Nachlass Hanne Darbovens betreut. Die Stiftung sitzt im früheren Elternhaus von Deutschlands wichtigster Konzeptkünstlerin. Vorstand, Beirat und Kuratorium setzen sich aus einem Expertenteam zusammen, um die 450.000 Blätter für die Nachwelt zu sichern. Entsprechend wird mit Lagersystemen und Katalogisierungssoftware gearbeitet, die man sonst nur im Museum findet. „Vermarktung interessiert uns nicht“, so Plickat, obwohl Darboven auf der letzten Art Basel gleich an fünf Ständen präsent war. Hauptgalerie ist Konrad Fischer in Düsseldorf, weitere sind Kewenig, Helga Maria Klosterfelde, Crone und Greta Mert. „Uns geht es um Aufmerksamkeit. Hanne Darboven soll wieder oben im zeitgenössischen Diskurs ankommen. Nach ihrem Tod sah man ihr Werk selten, die Preise waren volatil, auf Auktionen sanken sie ab. Nun versuchen wir, aufzukaufen und ein transparentes Preisschema an die Galerien zu bringen, während wir mit Museen an neuen Präsentationsformen arbeiten.“
Bei Charlotte Posenenske hat so eine Neueinordnung bestens funktioniert: Sie wurde durch die documenta 2007 posthum zum Star. Der Berliner Galerist Mehdi Chouakri vertritt seither ihren Nachlass und hat ans New Yorker MoMA, die Londoner Tate und das Centre Pompidou in Paris verkauft. Die deutsche Minimal-Art-Pionierin Posenenske starb 1985 mit 54 Jahren an Krebs – da arbeitete sie schon 17 Jahre lang nicht mehr als Künstlerin, sondern an sozialen Projekten. Ihre geometrischen Module sind endlos reproduzierbar, womit sie sich gegen die Idee vom Unikat wendet. Chouakri hat daher mit dem Witwer, der den Nachlass früher allein betreute, ein festes Preissystem festgelegt: Wandreliefs kosten pro Stück 4.500 Euro, die Röhren 3500, Zeichnungen zwischen 15.000 und 40.000 Euro. Hergestellt wird auf Nachfrage – aber nur noch zu Lebzeiten des Witwers. „Sie hat ihm vertraut. Das gilt es zu respektieren“, so Chouakri.
Ähnlich besonnen ist sein Umgang mit Peter Roehr, der 1968 23-jährig an Lymphdrüsenkrebs starb. Da seine Mutter sich nicht für seine Kunst interessierte, die zu den ersten Statements von Minimal und Pop Art in Deutschland zählte, vermachte er sein Werk seinem Galeristen Paul Maenz. Der legte ein Werkverzeichnis an, zerstörte Unfertiges und bringt den Nachlass heute über Chouakri auf den Markt. Von 600 Arbeiten sind noch 200 im Bestand. Davon 80 Gemälde, von denen nur 30 verkäuflich sind – zu Preisen von 8000 bis 150.000 Euro.
Gegen das Mythenpotenzial von Hesse oder Roehr haben es Künstler, die noch nicht so lange tot sind, schwer: Der tschechische Konzeptkünstler Jan Mancuska war gerade auf dem Weg nach oben, als er 2011 mit 39 Jahren nach langer Krankheit starb. Nach akribischer Feinarbeit, bei der man erst einmal zwischen Entwürfen und fertigen Arbeiten unterscheiden musste, wagte die Berliner Galerie Meyer Riegger im vergangenen Frühjahr eine erste Ausstellung, hob die Preise um ein Drittel an (sie reichen nun von 8000 Euro für Zeichnungen bis hin zu 100.000 für Installationen) – und verkaufte kein einziges Werk. Doch auch der Tod fordert Geduld: Inzwischen hat das MoMA eine Installation reserviert.
Das größte Nachlassgeschäft wird im Sekundärmarkt allerdings mit Blockbustern gemacht. Dabei schieben die Erben den Bestand schon mal von einem Powerseller zum anderen. 2010 übertrug Lisa de Kooning den Nachlass ihres Vaters Willem von Gagosian auf die Pace Gallery – die wiederum das Erbe Robert Rauschenbergs, der dort bis zu seinem Tod im Programm war, an Gagosian abgeben musste. Werke im Wert von bis zu 30 Millionen Dollar, die zuvor der Familie und Freunden vorbehalten waren, kamen so frisch in den Markt. Und noch jemanden musste Pace abtreten: Auf Wunsch der Familie wird die Donald Judd Foundation heute von David Zwirner repräsentiert. Mit zehn toten Künstlern, von Dan Flavin bis Alice Neel, bildet er die nekrophile Speerspitze der Galerien, die man bisher vor allem mit Gegenwartskunst assoziierte. Zwirners jüngster Neuzugang ist übrigens der 1967 verstorbene Maler Ad Reinhard. Er zeigt ihn im Dezember – zum 100. Geburtstag.
© Gesine Borcherdt