Auch hinter dem Eisernen Vorhang blühte die Konzeptkunst: Die Galerie Żak Branicka in Berlin entdeckt die polnische Künstlerin Zofia Kulik wieder
Die Welt – 12. Juli 2014
Polen, 1971. Da denkt man erst einmal an graue Fassaden, Militärparaden und Monumente mit gereckten Fäusten – in Stein gehauene Staatsraison eben. Doch Skulptur kann auch etwas anderes sein, zum Beispiel eine Fotosequenz. An die Wand geworfene Dias, die eine fahle, nicht ganz faltenfreie Frau in geblümtem Bikini zeigen, mit riesiger Sonnenbrille im Gesicht und einer Reihe kleiner, gelber, am Körper angebrachter Papierkegel, gingen damals allerdings nicht gerade als Teil des offiziellen Denkmalprogramms durch. Klar. Denn mit der politischen Agenda hatte Zofia Kulik, geboren 1947 in Breslau, nichts im Sinn. Stattdessen machte die Künstlerin mit solchen Fotos ihren Abschluss an der Warschauer Kunstakademie.
"Lady Halina and Cones" und weitere Arbeiten aus der Serie sind nun erstmals seit ihrer Entstehung zu sehen – in der Berliner Galerie Żak Branicka (Preise auf Anfrage). Mit Aufnahmen monochromer Stofffetzen und Papierausschnitten, die sich in den Akademieräumen und über die dort stehende Replik von Michelangelos "Moses" ausbreiten wie außerirdische Pflanzen, formulierte Kulik eine neue, ephemere Idee von Bildhauerei.
Im Ansatz nimmt sie damit das vorweg, was die US-amerikanische Kritikerin Rosalind Krauss 1979 in ihrem berühmten Essay "Sculpture in Expanded Field" formulieren sollte – am Beispiel von Konzeptkunst, Body Art und Land Art: die Erklärung von Skulptur nicht als feste Definition, sondern als Frage danach, was sie eben auch alles nicht sein kann. Bildhauerei, die sich nicht zwangsläufig als Abbildung des Menschen oder als Allegorie auf die Geschichte versteht. Die unabhängig vom Standort funktioniert und ganz ohne Sockel auskommt. Kurz: Bildhauerei wurde plötzlich zu einem Wahrnehmungsverstärker jenseits von der repräsentativen Denkmallogik, wie man sie etwa von Reiterstatuen kennt. Eine Art von Skulptur, die wir heute als selbstverständlich nehmen.
Kulik entwickelte ihr konzeptuelles Programm bald gemeinsam mit ihrem Kollegen und Ehemann Przemysław Kwiek weiter – mit Performances, die ein wenig an die frühen Aktionen von Marina Abramović und Ulay erinnern, die bis zur Erschöpfung mit Pfeil und Bogen aufeinander zielten. Für "Aktionen für den Kopf" steckte Kulik 1978 ihren Schädel durch eine Wasserschüssel, in der Kwiek sich wäscht und seine Partnerin dabei beschimpft. "Offene Form" nannte das Duo diesen Ansatz und ging so gegen die figürlichen Büsten, Grafiken und Gipsabgüsse an, wie sie bildnerischer Usus des Regimes waren. Ihre Wohnung war zugleich Galerie und Atelier, mit Dunkelkammer in der Küche und Schlafstatt im Schrank. Dass hier Fluxus-Größen wie Alison Knowles vorbeischauten oder Giancarlo Politi, Herausgeber der Kunstzeitschrift "Flash Art", zeigt, dass nicht nur die Kunst, sondern auch das Leben offen war: Ihr PDDiU – "Atelier für Aktionen, Dokumentationen und Vertrieb" – war eine ikonoklastische Geste in einem Land, in dem Künstler fast durchweg simple Staatsbotschaften in die Welt setzten. Um Politik ging es Kwiekulik, wie sich die beiden bis zum Ende ihrer Zusammenarbeit Mitte der Achtziger nannten, allerdings nicht – sondern allein um die Frage, wie die Statik des Objekts aufzulösen und zwischen Skulptur und Betrachter, Kunst und Leben eine Verbindung herzustellen sei.
Die Geschichte der Konzeptkunst wird bis heute vor allem aus westlicher Sicht beschrieben – wo sie 1917 mit Marcel Duchamps als sogenanntem Readymade zur Schau gestellten Kloschüssel "Fountain" ihren Ausgang nahm und von den späten Fünfzigerjahren bis in die Mitte der Siebzigerjahre mit Protagonisten wie Yves Klein, Piero Manzoni, Joseph Beuys, Bruce Nauman, Richard Long oder Carolee Schneemann assoziiert wird. Doch was hinter dem Eisernen Vorhang geschah, ist nach wie vor wenig bekannt – dabei wuchs dort, wo die Künstler gegen die von oben verordnete Systemkunst anrannten, ein doppelter Nährboden für Neuerungen, auch wenn die sich nicht so leicht im Westen verbreiten ließen.
Im letzten Jahr stellte Żak Branicka erstmals in Deutschland die Künstlergruppe Gorgona aus Zagreb vor: Deren postdadaistische Minimalaktionen – etwa die Abmachung, im Zylinder zur eigenen Vernissage zu kommen, wo sonst nichts zu sehen war, oder einfach nur leere Kataloge zu drucken – können locker mit Avantgarde-Gruppen wie Zero, Nul oder Azimut mithalten, die sich damals ebenfalls mit dem Nullpunkt befassten. Sie transportieren darüber hinaus einen gesellschaftspolitisch gefärbten Esprit, der im Westen weniger dringlich war. Dass Zofia Kulik zu den wichtigsten Konzeptkünstlerinnen Polens gehört, ist für die meisten Sammler und Kuratoren hierzulande ebenfalls ein Novum. Aber angesichts des Trends zu Wiederentdeckungen in der Kunst bietet sich damit eine gute Gelegenheit, etwas nachzuholen.
© Gesine Borcherdt