Wenn es einen Künstler gibt, über den man al- les zu wissen meint und dessen Werk man in- und auswendig zu kennen glaubt, so ist es Andy Warhol. Ob Powersammler, Provinz- museum oder Postershop – die poppigen Bil- der mit Campbell’s-Soup-Dosen, Mao und Marilyn sind überall, und der Mann mit sil- berner Perücke und derangiertem Blick ist der berühmteste Künstler des 20. Jahrhun- derts. Das Letzte, was wir also brauchen, ist eine Andy-Warhol-Ausstellung, denn was gäbe es diesem kunsthistorisch und pop- kulturell durchexerzierten Werk schon hin- zuzufügen? Klar, Warhol nahm die Coolness, den Kommerz und den Celebrity-Kult nicht nur seiner, sondern auch unserer Zeit vor- weg und verkörperte eine Oberflächlichkeit, die perfekt ins Zeitalter von künstlicher Intel- ligenz und Instagram passt. Selbstzweifel und Ängste haben da keinen Platz – weshalb wir uns in der Kunst heute lieber mit Trau- mata und Identitätsthemen befassen als mit den kaltbunten Werbebildern eines Super- strategen. »I want to be a machine« – wer so etwas sagt, dem müssen Gefühle egal sein, in der Kunst wie im Leben.
Doch so einfach ist es nicht. Im Gegenteil: Dass Warhol hinter seiner nonchalanten Fas- sade ein höchst sensibler und unsicherer Mensch war, voller Sehnsucht nach Schön- heit und Liebe, machte bereits die Netflix- Dokumentation The Andy Warhol Diaries von 2022 klar, die den Künstler mit KI-Stimme aus seinen 1989 veröffentlichten Tagebü- chern lesen lässt. Erstmals lernen wir hier einen Warhol kennen, der mit sich selbst und seiner sexuellen Orientierung ringt, der traurig und einsam ist, was ihn plötzlich überaus nahbar und menschlich macht. Wie sehr sich diese Empfindsamkeit in seiner Arbeit niederschlug, zeigt nun die Ausstel- lung »Andy Warhol. Velvet Rage and Beauty« in der NeueN NatioNalgalerie in Berlin. Es ist die erste Schau, die sich Warhol als homo- sexuellem Mann widmet, der sich, katholisch erzogen im provinziell-puritanischen Nach- kriegsamerika, ein Leben lang auf der Suche befand: nach gesellschaftlicher Akzeptanz, nach emotionaler Nähe und nach dem, was man, spräche man über die Antike, mit dem Kunsthistoriker Johann Joachim Winckel- mann als »edle Einfalt und stille Größe« be- zeichnen könnte. Eine Anmut und Perfektion, wie sie in der Antike zum Maßstab mensch- licher Darstellung wurde – einer Zeit, als Homosexualität unter Künstlern und Intel- lektuellen nicht nur akzeptiert war, sondern regelrecht zelebriert wurde.
Es war ein Phänomen, das sich fortsetzte, mal mehr, mal weniger offensichtlich. Doch man muss nur Michelangelos David, Cara- vaggios Bacchus, Botticellis Heiligen Sebas- tian oder Leonardos Johannes den Täufer be- trachten, um die Geschichte der Kunst pro- blemlos homosexuell zu interpretieren. Dass jemand wie Warhol im 20. Jahrhundert seine Neigung nicht offen auslebte, scheint im ersten Moment also anachronistisch. Und doch ist genau das der blinde Fleck, um den Warhols Kunst und auch sein Leben kreisen. So sehr die exzentrische Inszenierung seiner Person zu seiner Kunst gehörte, so offenkun- dig er Beziehungen mit Männern hatte, sich von seiner Factory bis zum Nachtclub Stu- dio 54 in queeren Kreisen bewegte und all das in seine Kunst einfließen ließ, so sehr wird Warhol bis heute Asexualität attestiert – ob- wohl sein Blick auf männliche Erotik von Be- ginn an Teil seiner Arbeit war.
Die Kuratoren Klaus Biesenbach und Lisa Botti haben diesen Blick nun herausgearbei- tet, anhand von Werkgruppen, die fragil, in- tim, sexuell aufgeladen und oftmals kaum bekannt sind. Sie lassen Warhols gesamtes Œuvre in einem anderen Licht erscheinen – einem, das alles der Suche nach einer klas- sischen Schönheit unterwirft und zugleich die Brüchigkeit einer glattbunten Oberfläche beleuchtet, unter der eine große Sehnsucht schwelt. Auch wenn Warhol mit Popstars und Präsidenten verkehrte: Es ist die queere Pa rallelwelt, die ihn zutiefst geprägt hat.
»Für mich war Warhol immer ein enigmatischer Künstler, der von Schaufenster dekorationen bis zu CelebrityPorträts eine Kunst gemacht hat, die für mich oft wie eine Art MoneyJob aussah – und die sehr dispa rat wirkte«, sagt Biesenbach. »Warhols Werk abschnitte über die Dekaden erscheinen fragmentiert und zusammenhanglos. Das liegt daran, dass der rote Faden in seinem Werk nie herausgearbeitet wurde. Warhol hat zeitlebens versucht, ein gewisses Ideal von Schönheit, sein Ideal von Schönheit, abzubil den – zu fotografieren, zu malen, zu recher chieren. Das begann in der Schule, als er sei ne Klassenkameraden zeichnete.« 1956 zeigte er diese Zeichnungen in seiner ersten grö ßeren Galerieausstellung »Studies for a Boy Book«, die am Valentinstag in der New Yorker Bodley Gallery eröffnete. Sie war der Auf takt zu Warhols Lebensthema. Biesenbach und Botti wollen zeigen, wie die einzelnen Kapitel in Warhols Gesamtwerk zusammen hängen. »Dann sehen der Double Elvis oder die vielen Marilyns auf einmal anders aus, ebenso wie die Schuhe und die Schaufenster dekorationen. Wenn man den roten Faden er kennt, macht alles Sinn, ist kohärent.«
Der Untertitel der Ausstellung geht zu rück auf das Buch The Velvet Rage von Alan Downs aus dem Jahr 2005, das beschreibt, wie sehr Homosexualität noch bis zur Jahrtau sendwende geächtet und selbst in westlichen Ländern illegal war. Die darin beschriebenen Schuldgefühle, Zwänge und Gefahren waren zu Warhols Zeiten Alltag. Wenn man das bedenkt, versteht man, warum Warhol, Jahr gang 1928, trotz seines queeren Umfelds nie ein Comingout hatte, ja die Gerüchte um seine Asexualität sogar bestätigte, als er längst selbst eine Celebrity war – was dem Kunstmarkt bis heute in die Karten spielt, wo Heteronormativität noch immer die höchs ten Preise einbringt. Die werden bei Warhol vor allem für Werke mit berühmten Motiven bezahlt, von denen es oft zahlreiche Ausfüh rungen gibt, denn Warhol war bekanntlich profitorientiert. Kaum bekannt sind dagegen seine erotisch aufgeladenen Polaroids, Filme, Fotos und Zeichnungen, die dem breiten Pu blikum bis heute verborgen geblieben sind. Zu anstößig, zu queer, ja teils auch zu porno grafisch wirken die Serien Torsos und Sex Parts aus den siebziger und achtziger Jahren: auf PolaroidNahaufnahmen basierende Dru cke und Zeichnungen von Penissen, Hoden und Hinterteilen, von denen die einen an den klassischen Akt, die anderen an Hardcore Pornografie denken lassen. Ohne es auszufor mulieren (Warhol sprach von »Landschaften« statt von Körperteilen), thematisierte er – wie üblich seiner Zeit voraus – Identität, Gender und Zensur, ohne in politischen Aktivismus zu verfallen. Zugleich war Warhol ein Meister darin, sexuelle Inhalte zu codieren. Der Film Blow Job zeigt lediglich das Gesicht eines Mannes in sich steigernder Ekstase – dass unter der Gürtellinie ein anderer Mann am Werk ist, war nie Thema, ebenso wenig, wie die stundenlange Aufnahme des wechselnd beleuchteten Empire State Building als Phal lussymbol zu lesen, in Warhols Worten »ein achtstündiger Ständer«.
Dagegen präsentiert der Film Three eindeutig einen Dreier auf dem Sofa, wenn auch, anders als im Porno, aus sicherer Entfernung. Das kann man bei den Polaroids nicht be haupten: Die Kamera klebt hier beinahe an den männlichen Genitalien und Aftern, die sich durchaus in geradezu fetischartiger Interaktion befinden. Klar, dass solche Werke bisher kaum und schon gar nicht prominent ausgestellt waren – was auch jetzt, im Zeit alter von Triggerwarnungen und Zensur debatten in Museen, wohl vorerst eine Aus nahme bleiben wird. Dabei ging es Warhol in diesen Arbeiten um mehr als um schwulen Sex. Vielmehr zeigt er uns sein Gespür für die genderfluide Sehnsucht des Menschen, der nach der Verbindung mit dem anderen sucht, um darin sich selbst zu erkennen – und diese Haltung ist zutiefst humanistisch. »Es ist kei- ne Ausstellung über männliches Begehren«, sagt Lisa Botti. »Jeder kann sich hier wieder- finden, im inneren Kampf, im Herzschmerz, in der Lust am Sehen – es ist eine Schau, die einladend ist, und keine gay Ausstellung für ein gay Publikum.«
An ebendieser Schwelle zwischen den Welten hat Warhol zeitlebens gearbeitet. So steht seinen Siebdrucken von den Reichen und Berühmten wie Liz Taylor und Mick Jagger die weit weniger bekannte Serie Ladies and Gentlemen gegenüber, deren Protago- nisten praktisch unbekannt sind. Der Kunst- händler Luciano Anselmino beauftragte Warhol damit, anonyme »Transvestiten« ab- zubilden, die dessen Freunde in entspre- chenden Nachtclubs nahe der Factory rekru- tierten. Warhol machte über 500 Polaroid- Fotos von 14 Modellen, von denen er eine Auswahl auf Druckgrafiken übertrug und malerisch bearbeitete. Auf diese Weise ent- standen kraftvolle und glamouröse Por- träts von Dragqueens afro- und lateiname- rikanischer Herkunft wie Wilhelmina Ross oder Marsha P. Johnson – einschlägige und oft tragische Größen des New Yorker Nacht- lebens. Warhol, der für diese Auftragsarbeit 900 000 Dollar bekam, nannte sie weder in den Bildtiteln beim Namen, noch bezahlte er sie angemessen. Die Sensibilität des Künst- lers, der sich nicht nur wegen seiner Homo- sexualität, sondern auch aufgrund seines ost- europäischen Migrationshintergrunds und seiner Aknenarben als Außenseiter fühlte, ging augenscheinlich nicht weit über die eigenen Belange hinaus.
Doch nicht alle der für die Ausstellung gewählten Arbeiten vermitteln ein Gefühl von Underground und Verruchtheit. Die Zeichnungen aus den späten vierziger und den frühen fünfziger Jahren, als Warhol noch als Werbeillustrator arbeitete und seine kapriziöse Persona noch nicht erfunden hatte, sind von einer solchen Fragilität und Unschuld, als würde hier ein sehr junger Mensch sein Innerstes erstmals ganz sachte und vorsichtig ertasten. Es sind Arbeiten von so einer berührenden und flüchtigen Schön- heit, dass man kaum meint, es mit Warhol zu tun zu haben. Wenn man so will, kann man in den kleinen, sich küssenden Figuren, de- ren Umrisse am unteren Bildrand fast aus dem Bild fallen, nicht nur die spielerische Handschrift eines Jean Cocteau lesen, son- dern auch die eines Félix González-Torres, dessen minimalistisch-ephemere Skulpturen und Fotografien in den frühen neunziger Jah- ren das Sterben seines an Aids erkrankten Partners Ross auf herzzerreißende Weise greifbar machten.
Warhol starb 1987 auf der Höhe der Aids-Krise – der Epidemie, die, damals brutal diffa- miert als »gay cancer«, alles zunichtemachte, was Homosexuelle bis dahin an sozialer Akzeptanz hatten erringen können. Binnen kür- zester Zeit verlor Warhol Freunde, Bekannte und Menschen, die für ihn in der Factory oder für sein Magazin »Interview« gearbeitet hatten, aber auch sei- nen geliebten Partner Jon Gould, der sein Schwulsein ebenfalls nie öffentlich gemacht hatte. Vielleicht muss man, um Warhol besser zu verstehen, auf seine unbändige Lebenslust schauen: Jon Gould war, ebenso wie Andy Warhols wunderschöner Ex- Freund Jed Johnson, ein Zwilling. Und auch Warhol duplizierte sich selbst – nicht nur durch sei- ne vielen Perücken und Silk- screen-Selbstporträts oder in Begleitung des It-Girls Edie Sedgwick, das beinahe wie ein Warhol-Double aussah. Sondern es existiert auch eine umfangreiche Polaroid-Serie von Warhol als Dragqueen im Marilyn-Stil, mit platinblonder Perücke, langen Wimpern und rotem Lippenstift. »Warhol konnte nie genug bekommen«, sagt Biesenbach. »Er vervielfältigte Elvis, genauso wie er Körper durch zahl- reiche Nahaufnahmen von verschiedenen Körperteilen in ein Vielfaches verwandelte.«
Es ist diese Obsession, die dem roten Fa- den seine Spannkraft verleiht: Warhol arbei- tete gegen den Tod an – mit einer immensen Fülle an Bildern, die von Schönheit und schierer Lebenslust nur so überquellen. Dass diesem »Nie genug« auch eine dunkle Seite entgegenstand, die mit den Car Crashes und den Electric Chairs die Death and Disaster- Serie bildete, zeigt einmal mehr, wie sehr Warhol seine innere Zerrissenheit und seine Ängste verarbeitete. »Andy war ein sehr einsamer Mensch«, sagt Daniela Morera, Italien-Korrespondentin für »Interview«, in der Net-lix-Dokumentation. »Als er als kleiner Junge herausfand, dass er schwul war, konnte er die Liebe, die er anderen Jungen geben wollte, unmöglich ausleben. Er hat sehr gelitten. Als er all diese verrückten Underground-Künst- ler in New York traf, konnte er zwar den Sex haben, den er wollte. Aber dann kam die traurige Geschichte mit Jon Gould, in den er sehr verliebt war. Er hat so gelitten!« Es ist der Widerstand gegen diesen Schmerz, den »Andy Warhol. Velvet Rage and Beauty« zeigen will – ein Widerstand, mit dem sich Warhol dem Verfall entgegenstellte: durch die bedingungslose Hingabe an Schönheit, Lust und Liebe.
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