Ein Wutkunstjahr endet und zurück bleibt ein schales, mulmiges Gefühl. Ein Gefühl der Ohnmacht und der Ungläubigkeit, wie es überhaupt so weit kommen konnte – und die Frage, wie das eigentlich weitergehen soll? Die neue Debattenkultur, die auf Abgrenzung und Aktivismus setzt statt auf Konsens, die voller Furor andere beschuldigt – wenn auch oft inhaltlich aus guten Gründen –, aber keine Verantwortung für die eigenen Worte und Taten übernehmen will, diese Kultur kennen wir aus anderen Bereichen, jetzt hat sie endgültig auch den Kunstbetrieb erreicht.
Mit dem letzten Tag der Biennale von Venedig, dem Blick auf die Documenta 15 und im Nachklang der 12. Berlin Biennale fragt man sich, wie es eigentlich sein kann, dass ausgerechnet unter Künstlern kein Dialog mehr möglich ist, sobald Meinungsverschiedenheiten auftreten – besonders bei den Themen #Metoo, Gender, Antisemitismus, Rassismus und Postkolonialismus hat sich für konstruktiven Austausch ein besonders dünnes Eis gebildet.
Also bei fast allen Themen, die in den vergangenen Jahren in der zunehmend politisierten Kunstszene vehement diskutiert wurden. Inzwischen sind daraus verbale Faustkämpfe geworden. Es wird beschimpft und beschuldigt, attackiert, sich weggeduckt oder empört davongestoben, und in den sozialen Netzwerken wurde gehetzt, als gäbe es kein Morgen.
Woher kommt der Drang, sich ostentativ moralisch gegen andere abzugrenzen, und zugleich diese Moral mühelos zu unterwandern? Eine Frage, die zurzeit alle beschäftigt, die sich eine Gesprächskultur und Freigeistigkeit zurückwünschen – also genau das, wofür die Kunst doch eigentlich steht.
Sicher ist, hier schwelen Wunden, die lange nicht versorgt wurden. Macht verschiebt sich und die Rache ist süß. Doch dass sie derzeit so hemmungslos ausagiert wird, liegt höchstwahrscheinlich nicht nur im medialen System begründet, nicht nur in den sozialen Medien oder beim traditionellen Journalismus, der sich immer mehr von ästhetischen Urteilen entfernt und sich fast ganz auf das Feld des politischen Journalismus verlegt hat. Etwas anderes könnte hier mitwirken: Das Stichwort heißt Trauma. Der Begriff wird derzeit häufig und schnell benutzt, oft zurecht. Dennoch dient er auch immer wieder als Carte Blanche für eine Aggression und Abgrenzung, wie sie die Kunstwelt nie zuvor erlebt hat. Was steckt dahinter?
Als auf der Documenta die antisemitischen Karikaturen des indonesischen Künstlerkollektivs Taring Padi entdeckt wurden, hieß es, eine „Retraumatisierung“ würde durch die Bilder ausgelöst. Trotzdem übernahmen die Generaldirektorin, die Kuratoren und die Jury viel zu lange keine Verantwortung, sondern verteidigten stur die diffuse Dynamik eines Kollektivs, in dem niemand Verantwortung übernehmen will. Gesprächsreihen wurden abgesagt, der Vorwurf der Zensur steht bis heute im Raum, die des Rassismus – die Frage aber, wie es möglich wurde, dass dieses Bild in Kassel gezeigt wurde, ist bis heute nicht aufgearbeitet.
Und als drei irakische Künstler ihre Werke zur selben Zeit von der Berlin Biennale abzogen, weil sie nicht neben einer Installation mit Abu Ghraib-Fotos des Künstlers und Aktivisten Jean-Jacques Lebel ausstellen wollten, waren sie für ein öffentliches Gespräch mit dem Kurator nicht bereit – implizite Forderung war der Abbau von Lebels Werk, der sich, ohne zu fragen, ihr Trauma angeeignet und übersehen hatte, dass Solidarität heute nur noch über Identität funktioniert, also Abgrenzung, und nicht wie bis vor wenigen Jahren per Schulterschluss über alle Grenzen hinweg.
Heute, so scheint es, gehört das Trauma nur dem, der es erlebt hat. Und bildet so enorme Kräfte aus, zu spalten. Anders kann man es nicht deuten, als das indonesische Documenta-Kuratorenkollektiv Ruangrupa als Reaktion auf die Hetzbilder kurz sorry sagte, sie kennten sich halt mit antisemitischer Bildsprache im deutschen Kontext nicht aus. Kurz darauf brachten sie ihr eigenes Trauma an und erklärten, sie fühlten sich in Deutschland aufgrund rassistischer und transphober Anfeindungen nicht sicher, ganz abgesehen von den postkolonialistischen Trauma-Erfahrungen in ihrer Heimat. Dem kann man kaum widersprechen. Die Geschichte der Unterdrückung in Indonesien ist grauenhaft und brutal.
Was aber ist genau ein Trauma? Wie können wir uns über unsere Traumata verständigen? Und wie können sie verbindend wirken statt zu trennen? „Mit solchen Bildern wie auf der Documenta wird die Vergangenheit wieder hochgeladen. Man verstärkt ein Trauma, das in der kollektiven Psyche eingelagert und noch nicht verarbeitet ist“, erklärt Thomas Hübl, in Wien geborener und in Tel Aviv lebender Experte für kollektives Trauma. „Auf der Documenta konnte man sehen, wie die Karikaturen nicht nur die Traumawunde bei jüdischen Menschen getriggert haben, sondern auch denen, die sich nie tiefergehender mit der Täterschaft befasst haben. Das merkt man daran, wie laut diese Debatte ist. Und dann geht es auch noch um das Trauma durch Kolonialismus. Wir bewegen uns also auf drei riesigen kollektiven Traumafeldern mit jeweils sehr verzerrten inneren Erlebniswelten. Trauma sitzt tief in unserem Nervensystem und ist erstmal keine Frage der Kunst- oder Meinungsfreiheit.“
Die körperlichen Reaktionen auf Trauma, erklärt Hübl, sind Kampf, Flucht oder Erstarrung – aber um besser zu überleben, habe unser System über Jahrtausende gelernt, Angst und Schmerz wegzuschieben. „Das Trauma wird ins Unbewusste verdrängt. Wenn es nicht durch positive Beziehungszuwendung aufgearbeitet wird, bleibt unsere Sicht verzerrt. Wir fühlen uns schnell bedroht, verärgert oder reagieren distanziert. Das gilt für individuelles wie für kollektives Trauma – und auch für Nachfahren schwer traumatisierter Menschen, die unaufgearbeitete Katastrophen wie den Holocaust und den Kolonialismus erlebt haben, denn Traumata sind vererblich.“ Holocaust unaufgearbeitet? Deutschland ist doch Vorreiter, was Reue und Entschädigungszahlungen betrifft!
„Bei Traumatisierung wird der Verstand von den Emotionen im Körper entkoppelt“, sagt Hübl. „Wenn wir im Gefühl abgedreht sind, können wir über den Holocaust nachdenken und reden aber trotzdem wenig dabei empfinden. Trauma-Aufarbeitung ist kein rein mentaler Prozess, sondern findet auf der emotionalen Ebene statt.“
Hübl bringt seit 20 Jahren Holocaust-Überlebende und deren Nachkommen mit solchen der SS zusammen. In diesen therapeutischen Gruppen geht es um das gemeinsame Hineinspüren in die Wunden – in die eigenen, und die der anderen Teilnehmer. So entstehen Verbindungen, die sehr viel tiefer gehen als das rein kognitive Verständnis. „Anders als bei Alltagsproblemen entstehen beim Trauma extreme Beziehungsverletzungen. Und weil Trauma im Nervensystem sitzt, geht die moderne Traumatherapie davon aus, dass man es nur über den Körper heilen kann, über die Wiederherstellung von Beziehungen: wirklich zuhören und sich in den anderen hineinversetzen – diese Qualitäten wirken nachweislich traumareduzierend.“
Als Gesellschaft seien wir an diesem Punkt aber noch lange nicht, sagt Hübl. Die meisten Menschen sind innerlich noch an die Vergangenheit geknüpft, emotional also unfrei und daher nicht sehr sensibel dafür, mit dem eigenen Trauma und dem der anderen konstruktiv umzugehen. Aus dieser Sicht sei es gar nicht so einfach, für Kunstfreiheit oder gegen Zensur zu argumentieren. „Kollektive Traumaarbeit ist meines Erachtens der einzige Weg, um Beziehungen wiederherzustellen. Situationen wie in Kassel oder Berlin sind eine Einladung, uns dem zu stellen.“ Zumal unaufgearbeitetes Trauma offenbar einen Wiederholungszwang hat, also zu erneuerter Spaltung führt, da bestimmte Wahrnehmungsmuster subtil weitergegeben werden: Genau das erleben wir ja gerade in den aufgeheizten Debatten.
Wenn traumatisierte Menschen aber beginnen würden, ihre Emotionen zu verstehen und mit ihnen umzugehen lernen, erklärt Hübl, entstehe das Gefühl, dass gewisse Verhaltensweisen nicht adäquat seien: Worte und Taten hätten einen Effekt. Und die Frage, ob nun Kunstfreiheit oder Cancel Culture richtig sei, verpuffe in dem Moment, in dem man bewusst handeln will, statt andere zu verletzen. Letztlich geht es um Verantwortung und um Resilienz: die Fähigkeit, in schwierigen Situationen angemessen zu agieren.
Menschen hat das über Jahrtausende überleben lassen, oft unterstützt von alten Heilmethoden, die durch den Kolonialismus verdrängt wurden. Welche Rolle dabei der Körper spielt, wird in sozialen Netzwerken, beim Autofahren oder Drohnensteuern klar: Man schimpft und schießt besonders schnell, wenn man dem anderen nicht in die Augen schaut. Kein Wunder, dass die Debatten dieses Sommers also lieber auf Facebook geführt wurden statt auf einer Bühne mit Publikum.
Aber was heißt das nun für Künstler und Kunst? Darf ein Werk nicht mehr provozieren? Sollen sich Kunstaktivisten in den sozialen Medien zurückhalten? Sind die Museen bald voller Triggerwarnungen, weil die Welt zu zart besaitet ist für böse Bilder, also auch für Balthus, Hans Bellmer und Paul McCarthy?
„Kunst muss intensive Erfahrungen bieten“, begründete der Kurator der Berlin Biennale Kader Attia seine Entscheidung, das Abu Ghraib-Kunstwerk weiterhin zu zeigen. Und er hat recht. Entscheidend ist dabei der Dialog über solche Werke und der Effekte, die sie auslösen können – und zwar mit einer Haltung des Mitgefühls und der Integrität. „Statt bestimmte Bilder einfach nur wegzuschieben und zu denken, dass sich dann alle entspannen können, müssen wir ein konstruktives Umfeld schaffen“, sagt Hübl. „Wir müssen Trauma zu einem kollektiven Prozess machen und lernen, das Leiden hinter den Katastrophen wirklich zu spüren. Nur so kann menschliches Wachstum entstehen. Kunst einfach nur abzuhängen, wäre eine leere Geste, die aber nicht wirklich etwas ändert.“
Am Ende geht all dieser Gedanken, landet man auch in der Traumaforschung immer wieder bei einem Begriff, der auch in der Documenta-Debatte eine herausragende Rolle gespielt hat: „Verantwortung“.
Nach Hübl gehe es nicht nur darum, Fehler einzugestehen, sondern wirklich mit dem anderen zu fühlen. „Wir merken ja, wenn jemand, der uns verletzt hat, nur sorry sagt oder es wirklich so meint. Nur so kann Beziehung wieder hergestellt werden.“ Und Beziehungen herstellen, egal wie unüberwindbar die Hürden waren, genau das war eigentlich immer auch der Benefit von Kunst.