Forrest Bess
/ 2020

Auf einer kleinen Insel im Golf von Mexiko, 18 Meilen südlich von Bay City, lebt der Maler Forrest Bess vom Krabbenfang. Jeden Tag blickt er aufs Meer, doch Carla bemerkt er zu spät. Im Rekordtempo fegt sie über die Ostküste von Texas hinweg. Bess schnappt sich nur einige seiner Bilder und rennt um sein Leben. Mehr lässt ihm der Hurrikan nicht. Seine Hütte ist zerstört, samt der Leinwände der letzten zwei Jahre.

 

Ein Jahr später, 1962, eröffnet eine der wichtigsten Galeristinnen New Yorks seine Retrospektive: Betty Parsons, die auch Jackson Pollock, Mark Rothko und Barnett Newman vertritt. Es ist ihre vierte von sechs Ausstellungen mit Bess in 17 Jahren. Den Essay dazu verfasst der berühmte Kunsthistoriker Meyer Schapiro:

 

„Forrest Bess ist in jeder Hinsicht ein wahrhaft visionärer Maler. Ihn inspirieren nicht Poesie oder Religion, sondern die seltsame Bedeutung von etwas, das nur er allein gesehen hat.“ Bis heute kennen nur die wenigsten Forrest Bess. Das aber wird sich jetzt in Deutschland ändern. Das Museum Fridericianum in Kassel widmet ihm zurzeit eine Retrospektive. 

 

Forrest Bess komponierte Bilder mit Sogkraft

 

Überhaupt wieder ins Bewusstsein der internationalen Kunst brachte ihn allerdings der Künstler Robert Gober auf der Whitney-Biennale in New York 2012. Damals kuratierte er eine kleine Nische. Seither fällt der Name häufiger. Dort hingen seine Gemälde, so handlich wie Bücher, mit präzisen, einfach und sanft gemalten Formen in intensivem Farbauftrag. Man verlor sich in eigenartigen Landschaften und Farbräumen, in denen biomorphe Gebilde schweben: rätselhafte, archaisch anmutende Kompositionen von einer unglaublichen Sogkraft.

 

Die inneren Turbulenzen entnahm man Briefen und Fotos, die neben den Gemälden ausgestellt waren – eine autobiografische Präsentation, wie sie Betty Parsons dem Künstler zeitlebens verweigerte. Forrest Bess verstrickte sich in seinen Visionen wie in einem Fischernetz, sein Leben verschmolzt zwischen Himmel und Ozean mit obskuren Traumerscheinungen, und schließlich glaubte er, durch eine Geschlechtsoperation unsterblich zu werden. Die geschäftstüchtige Galeristin wusste, dass seine Experimente am eigenen Körper das Publikum verstört hätten.

 

Und so hat es lange gedauert, bis sich der Kunstmarkt seinem Werk wieder angenähert hat. Das Auktionshaus Christie’s hat 2015 während der Kunstbiennale von Venedig eine Schau mit 40 Arbeiten aus einer Privatsammlung gezeigt, taxiert zwischen 100.000 und 300.000 Dollar, und nur sehr wenige verkauft. Der Rest wanderte teils zu David Zwirner, teils in Auktionen. Der New Yorker Galerist Franklin Parrasch, der Bess auf der Londoner Kunstmesse Frieze Masters 2015 zeigte, erzählt: „Sobald ich anfange, von einem Fischer aus Texas zu erzählen, drehen sich die Leute um.“

 

Bess merkt schon früh, dass er anders ist. Sein Vater arbeitet auf den Ölfeldern. Die Familie zieht von einer Boomtown zur nächsten und landet in Bay City. In der Highschool irritiert Bess seine Mitschüler, weil er griechische Mythologie und van Gogh genauso liebt wie Fußball und Fischen. Nach dem Abitur will er Kunst studieren, beginnt jedoch auf Wunsch seines Vaters mit Architektur.

 

Nach dem Outing malt er die Träume

 

Die Bibliothek wird sein Zufluchtsort, er entdeckt Sigmund Freud und den Band „Psychology of Sex“. Bess ist homosexuell – dank der Bücher schließt er Frieden damit. Doch was hilft das, im Texas der 1930er-Jahre? Bess bricht das Studium ab, arbeitet auf Ölfeldern und beginnt zu malen. Im Krieg wird er Camouflage-Maler beim Militär.

 

Eines Abends passiert es: In einer Bar enthüllt Bess seine Homosexualität und wird angegriffen. Als er erwacht, klingt eine Traumvision in ihm nach. Es ist dieser Moment, der alles verändert. Bess zieht auf die Insel – und wird fortan malen, was ihm im Halbschlaf erscheint.

 

Bess deponiert ein Skizzenbuch am Bett, in das er seine Visionen einträgt, um sie am nächsten Abend in Ölfarben umzusetzen. Tagsüber fischt er Krabben. Abgeschieden von der Zivilisation, dringt Bess immer tiefer in Carl Gustav Jungs Studien zum Unbewussten, Goethes Faust, Alchemie und fernöstliche Religionen, wo er viele seiner „Ideogramme“ wiederentdeckt.

 

Er folgert: Der Eintritt ins Unbewusste ist der Schlüssel zum ewigen Leben. Dauerhafte Adoleszenz wird zum greifbaren Ziel. Die Lösung liegt in der Vereinigung der beiden Geschlechter in einer Person. Die Visionen kennen nun nur ein Ziel: seine Verwandlung in einen Hermaphroditen.

 

„Die Menschen verstehen nicht“

 

Dass Bess dafür nach New York will, scheint ein Widerspruch. Seine astralen Mysterien haben mit der dortigen Kunstszene wenig gemein. Sie sind alles andere als gestisch-spontan und wandfüllend, passen nicht in den heteronormativen Kanon. Ihre Verflechtung mit dem Unbewussten spiegelt zwar die Tendenzen der 1950er-Jahre – doch was bei Abstrakten Expressionisten in pulsierende Riesenleinwände mündet, stammt bei Bess aus einer anderen Welt. Die aber will er zeigen.

 

Ein Freund stellt den Kontakt zu Betty Parsons her, die auf seine biomorphe Abstraktion anspringt – auch Pollock oder Robert Motherwell sind von Jung inspiriert, die automatistische Malweise ist ein großes Thema. Dennoch: Als Bess in Pollocks Stammkneipe einkehrt, fühlt er sich mit seiner Sicht auf Malerei und seinem texanischen Akzent fremder denn je. Zurück auf der Insel schreibt Bess an Parsons: „Das Problem ist, dass mich meine Arbeit von Menschen isoliert. Sie verstehen nicht.“

 

Bess‘ Suche nach Wegen wird nun immer obsessiver. In alten Schriften stößt er auf krude Verjüngungsexperimente der 1920er-Jahre – und beschließt, sich selbst zu operieren: ein Schnitt zwischen Penis und Hodensack. So brutal und verstiegen seine These klingen mag, so rührend formuliert er sie in Briefen an Nachbarn, Ärzte und seine Galeristin: „Ich glaube, dass ich etwas sehr, sehr Wichtiges entdeckt habe, das der Kunst und meiner Existenz Bedeutung verleiht.“ Er schreibt an Jung – der ihm bestätigt, seine Idee würde seit Urzeiten immer wieder neu entdeckt – und an Präsident Eisenhower.

 

Und er schreibt dem Mann, den er bei Betty Parsons kennengelernt hat: Meyer Schapiro. Zwanzig Jahre lang tauschen der Kunsthistoriker und der „painter-fisherman“, als der er sich ihm vorstellt, Hunderte Briefe aus. Zunächst fürchtet Bess noch, er leide an psychischen Störungen wie seine Mutter. Aber: „Ich glaube nicht, dass die Basis meiner Arbeit in einer Geisteskrankheit liegt. Ich glaube, jeder Mensch kann sehen, was ich sehe.“

 

Schapiro wird zu dem ersehnten Freund, Ratgeber – und er wird Zeuge, wie Bess schließlich zum Messer greift. „Ich betrank mich und begann die Sache. Ich hatte große Angst, die obere Harnröhre zu durchtrennen. Ein schrecklicher Krampf durchdrang mich, die Rasierklinge glitt mir aus der Hand und ich fiel zu Boden. Aber, Meyer, das Unbewusste floss wunderschön durch mich durch – ich hatte den Eingang in eine Welt in mir selbst gefunden.“

 

Und während Parsons weiter seine Bilder ausstellt, wodurch er anfangs noch gute Kritiken und Kontakte zu Sammlern wie den de Ménils bekommt, sinkt sein Stern in den 1960er-Jahren. Als der Sturm seine Insel verwüstet, zieht er nach Bay City, wo ihn Nachbarn mit Essen versorgen. Er zahlt, wie so oft, mit Bildern. Aber das Meer und die Fischerei fehlen ihm. Bess kehrt zurück auf die Insel, doch nichts ist mehr wie zuvor. 1974 schickt ihn sein Bruder ins Krankenhaus von San Antonio.

 

Verzweifelt schreibt Bess an Schapiro: „Ich hoffe, ich kann wieder nach Hause und an die Arbeit. Ich habe viele Visionen zu malen.“ Schließlich lässt man ihn gehen – nicht auf seine Insel, sondern in ein Pflegeheim nach Bay City. 1977 stirbt er dort an einem Schlaganfall.