Gego geht jeder ins Netz
/ Welt am Sonntag

Fragile Aluminiumstäbe entfalten sich im Raum, sind spielerisch verbunden ohne Anfang und ohne Ende. Sie wirken wie widerspenstige architektonische Organismen. Es ist, als wären halluzinierende Spinnen am Werk dieser metallisch funkelnden Netze gewesen. Doch es sind Skulpturen der Künstlerin Gego.

 

Das Netz als Sinnbild für menschliche Relationen, die Linie als Beziehung zwischen Punkten in der Luft: Damit wurde Gertrud Goldschmidt, die sich seit Kindertagen Gego nannte, Pionierin eines neuen, offenen, modularen Skulpturbegriffs, der in den 1960er-Jahren Massivität und Festigkeit überwand, den Raum eroberte und in der Leere etwas Formbares sah. Metall, bei vielen Bildhauern jener Zeit Manifestation von Masse und Macht, war bei ihr leichtfüßige, souveräne Zeichnung im Raum.

 

Architektur gewordenes Mikado, mit dem eine kleine, zierliche Künstlerin die viel gerühmte geometrische Abstraktion Lateinamerikas auf eine neue Ebene hob und die Ideen der amerikanischen Minimal Art in ephemere, flirrende Environments verwandelte. Ihre Installationen und Skulpturen wirken elegant, zart und tänzerisch, organisch und spirituell, wie aus der Zukunft herabgeschwebte Geister – und sind doch von einer derart technischen Finesse, dass nur eine gelernte Architektin wie Gego in der Lage war, so etwas herzustellen.

 

Nachholbedarf für Gegos Kunst

 

Die Galerie LGDR vertritt Gegos Nachlass. In Paris zeigt sie gerade Skulpturen und Zeichnungen, die auch eine umfassende Ausstellung in der Jumex Foundation in Mexiko flankieren und die Retrospektive im New Yorker Guggenheim Museum (ab März 2023) ankündigen. In Hamburg, wo Gego 1912 in die Bankiersfamilie Goldschmidt & Söhne geboren wurde, und in Stuttgart, wo sie Architektur studierte, war sie bereits museal zu sehen. Doch international herrscht Nachholbedarf, in den Institutionen wie am Markt.

 

Die Preise liegen zwischen 20.000 Dollar für Gegos Papierarbeiten und 3,5 Millionen Dollar für größere Skulpturen, die allerdings kaum noch zu haben sind. Die meisten Werke kosten unter einer Million, was für eine Künstlerin, die sich laut ihrer Galeristin Dominique Lévy auf Augenhöhe mit Eva Hesse und Louise Bourgeois bewegt, nicht viel ist.

 

„Unser Ziel ist es, Gegos Bedeutung für die Kunstgeschichte institutionell zu verankern“, sagt Lévy im Gespräch. „Der Markt folgt dann ganz von selbst.“ Die gebürtige Schweizerin ist eine der anerkanntesten Kunsthändlerinnen überhaupt, historische Ausstellungen waren stets Teil ihres Programms.

 

Mittlerweile führt sie ihre Galerie nicht nur mit ihrem langjährigen Partner Brett Gorvy, der wie sie einschlägige Auktionshauserfahrung besitzt, sondern auch mit Jeanne Greenberg Rohatyn, Gründerin der Galerie Salon 94 und Schwiegertochter des New Yorker Politikers und Investmentbankers Felix Rohatyn. Vierte im Bunde ist Amalia Dayan, Enkelin des ehemaligen israelischen Verteidigungsministers Moshe Dayan und Ehefrau des New Yorker Investors, Sammlers und Kunsthändlers Adam Lindemann – sie leitete zuvor die Galerie Luxembourg & Dayan.

 

Mit Standorten in Paris, New York, London und Hongkong will LGDR eine flexiblere Galeriestruktur in einen Kunstmarkt einführen, der immer mehr von Megagalerien beherrscht wird. „Wir glauben nicht an exklusive Repräsentation von Künstlern, sondern an ein kollaboratives, projektbasiertes Modell. Wir finanzieren Produktionen, ohne die Künstler am Austausch mit anderen Partnern zu hindern“, sagt Lévy, die Kunstexperten von Italien über Korea bis Taiwan und Shanghai beschäftigt. Neben kuratierten Ausstellungen stehen Beratung und Recherche auf ihrer Agenda sowie bald eine digitale Bibliothek, die Bilder und Texte über das Galeriegeschäft hinaus bereitstellen will.

 

Gego floh nach Venezuela

Auf Gego stieß Dominique Lévy wenige Jahre nach deren Tod im Jahr 1994. 2015 war sie die erste Galeristin in Amerika (nach Betty Parsons, die auch Jackson Pollock und Willem de Kooning vertrat), die mit Gego arbeitete; die Regierung Venezuelas lieh ihr sogar die Installation „Chorros“ aus, mit der Vorgabe, diese delikaten, von der Decke herabströmenden Metallgespinste zu restaurieren. Gut möglich, dass Gego heute ihre Aussage revidieren würde, persönliche Erinnerungen seien für ihr Werk nicht wichtig. Denn ohne ihre Lebensgeschichte ist es nicht denkbar.

 

Gertrud Goldschmidt war das sechste von sieben Kindern. 1939 verließ sie als letztes Familienmitglied auf der Flucht vor den Nazis die Stadt Hamburg – den Schlüssel der Villa warf sie ostentativ in die Alster. Sie brach nach England auf, wo ihre Verwandten unterkamen, man ihr aber nur ein Transitvisum gewährte. Sie bestieg ein Frachtschiff nach Venezuela, ohne ein Wort Spanisch, aber mit einem Diplom von der Technischen Hochschule Stuttgart in der Tasche: damals eine der weltweit besten Hochschulen für Architektur mit enger Anbindung an die Ingenieurswissenschaften.

 

Mit ihrem Mann, dem deutschen Unternehmer Ernst Gunz, gründete sie in Caracas ein Geschäft für Inneneinrichtung, für das sie Lampen und Möbel entwarf. Der Ölboom und die Zuwanderung brachten Geld in die Kassen eines Landes, das in seine Infrastruktur investierte – und bald auch kinetische Kunst förderte, die, parallel zur Konkreten Kunst und Op Art in Brasilien, nationaler Stil wird.

 

In Caracas entwarf die Architektin, inzwischen Mutter zweier Kinder, Bars, Restaurants und den ersten Nachtclub, bevor sie sich aufs Unterrichten konzentriert. 1951 trennte sie sich von ihrem Mann und verliebte sich in den Grafiker Gerd Leufert, der ihr Lebenspartner wurde. Er bestärkte Gego, sich ganz der Kunst zu widmen, die sie in Form abstrakter Zeichnungen und Collagen schon länger praktizierte. Sie bereiste Europa und begann, kleine Skulpturen aus Pappe und Drähten zu bauen.

 

So abstrakt ihre Arbeiten sind: Eine gewisse Relation zum Körper ist immer spürbar. Und während die geometrische Abstraktion in Brasilien mit Lygia Clark, Hélio Oiticica und Jésus Rafael Soto, in Deutschland mit der Zero-Gruppe und in den USA mit Agnes Martin und Frank Stella in neue Dimensionen aufbrach, besuchte Gego 1960 die Ausstellung des visionären Architekten Buckminster Fuller im Garten des New Yorker Museum of Modern Art.

 

Dessen Tetraeder aus Aluminiumröhren und sphärische Kuppeln aus Dreiecksstrukturen ließen sie nicht mehr los. Raum, Leere, Licht, Linie, Serie, unendliche Triangulationen und Verkettungen sind es, die ihre „Reticulárea“ inspirieren: Maschen mit modulierbaren Knotenpunkten, die den Raum erobern und die, damit die Form stabil bleibt, Dreiecke bilden.

 

Die soziale Dimension, der Bezug zum realen Leben, die Skulptur als Ort der Begegnung und Interaktion prägten von nun an ihr Schaffen – in einer Zeit, als die Rezeption von Maurice Merleau-Pontys „Phänomenologie der Wahrnehmung“ durch Künstler wie Robert Morris, Richard Serra und Eva Hesse die Skulptur zum Medium unmittelbarer Erfahrung von Körper und Raum gemacht hat. Diese Vorstellung, dass Skulptur die Umgebung aktiviert, sich energetisch ausdehnt und – das unterschied Gego von männlichen Kollegen – Bewegung, Transparenz und Leichtigkeit verströmt, ist es, was ihre Arbeiten bis heute so lebendig macht.

 

Selbst die kleineren Metallskulpturen, die bei LGDR in Paris zu sehen sind und denen teils noch etwas Figürliches anhaftet, scheinen auf gespenstische Weise zu atmen und ein Eigenleben zu führen. So als hätten Buckminster Fullers geodätische Kuppeln sich zu metallischen Organismen verselbstständigt, die Räume aufladen wie Gedichte.