Julius von Bismarck
/ Welt am Sonntag

Rostrot leuchtet das Areal der alten Malzfabrik in der Berliner Wintersonne. Vier imposante, neobarock verdrehte Darrschlote auf dem Dach recken sich ihr entgegen, als wollten sie Signale senden. Außer dem Pförtner und einer Handvoll schwarz glänzender Kombis auf dem Hof verweist hier nichts auf die Anwesenheit von irgendjemandem – die riesigen Gebäude wirken leergefegt von einer Pandemie, die selbst Künstler ins Homeoffice vertreibt. Doch dann geht die Tür zur alten Kellerei auf, und Julius von Bismarck steht da, wie immer mit Hut und langem Bart, und sagt hallo. Die Treppe hinauf, und da ist es, das Leben: Bismarcks Atelier ist eine vibrierende Mischung aus Labor und Archiv, Werkstatt und Büro, Baumarkt und Gepäckaufbewahrung. Bis unter die Decke stapeln sich sorgsam beschriftete Boxen mit Utensilien für das, womit der 38jährige in den letzten zwölf Jahren bekannt geworden ist: radikale Experimente an der Schwelle von Physik und Phänomenologie, Natur und Medien, Trickserei und Träumerei. Bismarck peitschte bis zur Erschöpfung das Meer, die Berge und die Freiheitsstatue aus (wobei er verhaftet wurde). Mit einem selbstgebauten Kameragewehr schoss er im Blitzlichtgewitter ein Kreuz auf Barack Obamas Redekanzel und ein NO über den predigenden Papst – die Projektionen kamen wie von Geisterhand auf fremde Fotos. Zusammen mit seinem Künstlerfreund Julien Charrière färbte er in Venedig Tauben bunt ein, so dass plötzlich Paradiesvögel über den Markusplatz flatterten. In Mexiko ließ er einen Wüstenhügel und ein Stück Dschungel erst mit weißer Farbe anmalen und dann mit Acrylfarbe wieder in die ursprünglichen Farbtöne zurückversetzen. Und in Venezuela ging er im Kettenhemd mit selbstgebauten Raketen auf Blitzfang. Zuletzt schafften es er und Charrière es in die Nachrichten von CNN bis Fox News, mit Filmen über gesprengte Naturdenkmäler Amerikas, die sie ins Internet stellten – es dauerte eine ganze Weile, bis klar wurde, dass es keine Fake News waren, sondern reale Detonationen von Steinbrücken, die aussahen wie die in Utah, nur dass die Künstler sie in der mexikanischen Wüste nachgebaut hatten. Können wir unseren Augen trauen? Dem System, in dem wir leben? Was ist Natur und was unser Bild von ihr? Fragt von Bismarck, der bei Olafur Eliasson an der Hochschule für Bildende Künste studiert hat – oder vielmehr: an dessen „Institut für Raumexperimente“. So ähnlich, wenn auch sehr viel nerdiger, fühlt sich auch das Atelier des Reichskanzler-Urururgroßneffen an.

 

Punkt zwölf Uhr mittags, und Bismarck und sein Team haben schon zwei Gespräche für Großprojekte hinter sich. Eines kreiste um das Kunst-am-Bau-Vorhaben einer wissenschaftlichen Einrichtung in Hamburg. Und dann war Kirsten Landwehr da, die mit ihrem Mann, dem Grill-Royal-Doyen Stefan Landwehr, ein neues Hotel eröffnen wird: Das Château Royal mit 100 Zimmern, gestaltet von 100 Künstlern – einer davon ist Julius von Bismarck. Ein Lichtblick in der Corona-gebeutelten Berliner Kunstszene, der die aktuellen Verhältnisse enorm aufs Gemüt schlagen – nie sah man so viele gedämpfte Gesichter, Abbilder einer kaum noch zu ertragenden Demütigung und Ausbremsung. „Dass man neuerdings um 22 Uhr aus dem Restaurant geworfen wird, empfinde ich als extremen Eingriff in meine Freiheit. Deshalb lebe ich ja in Berlin und bin Künstler: damit mir eben niemand vorschreibt, wann ich ins Bett gehen soll“, wird Bismarck später beim Mittagessen sagen. Tatsächlich gibt es kaum einen, der freier ist als er. Egal was Bismarck sagt und tut: Man spürt, dass hier jemand ohne Schranken im Kopf aufgewachsen ist. Die letzten Jahre saß er viel im Flugzeug, doch nun ist er vor allem in Gedanken gereist, in eine Science-Fiction-Welt, die ein aberwitziges Projekt hervorgebracht hat. Genau darum geht es jetzt, in der nächsten Besprechung. Drei Assistenten beugen sich über ein handliches Teil, bestehend aus drei aneinandergeklebten Spiegeldreiecken. „Also“, sagt Bismarck. „Für die Steine müssen wir Dreiecksformen fräsen, um die Spiegel dort einzugießen. Bisher haben wir keine Firma gefunden, die uns die Facetten in der gewünschten Präzision fräst. Wenn wir das selber machen, müssen wir mit unserer eigenen Fräsmaschine zwei Monate lang Tag und Nacht durchfräsen, richtig?“ Alle nicken, die Autorin versteht nur Bahnhof. Am Boden liegen zwei Schiefersteine, in die dreiecksförmige Löcher eingelassen sind, teils mit Spiegeln oder mit Kunstharz beklebt. „Irgendwo liegt der Fehler, weil die Spiegel nicht perfekt glatt spiegeln. Liegt es am Harz, an der Temperatur oder am Acryl, an der Kühlflüssigkeit im Fräsprozess oder ist in der Vakuumkammer beim Beschichten etwas ausgegast?“ Es geht eine Weile hin und her, offenbar ist das Problem nicht so schnell lösbar.

 

Wir gehen in den Nebenraum, wo Schreibtische voller Monitore und gigantische Topfpflanzen stehen, der Taubenkäfig aus Venedig hängt unter der Decke. „Das neue Projekt heißt Whole Earth Archive“, klärt der Künstler auf. „Es geht um die Idee, dass alle visuellen Informationen in Form von Licht von der Erdoberfläche mit Lichtgeschwindigkeit abstrahlen, aber in einer hohen Informationsdichte noch vorhanden sind.“ Bismarck kritzelt Planeten, Sterne und Strahlen auf ein Blatt Papier. „Ich entwickle einen Spiegel, der ins All geschossen werden und diese Informationen einfangen soll. Da draußen fliegt ein Archiv herum – ich überlege, wie wir es anzapfen können.“ Werden wir so unsere Vergangenheit besser verstehen? Was ist die Wahrheit, jenseits von Interpretation? fragt Bismarck. „Es ist ein Archivierungsprojekt. Statt Dinge aufzuschreiben, schicke ich einen Spiegel los, der alles reflektiert, was in Form von elektromagnetischer Strahlung da ist.“ Schon um in die niedrige Erdumlaufbahn zu kommen, brauche man extrem viel Energie – man müsse also den Spiegel am besten mit einem Roboter bauen, auf Material, was bereits da ist, einem Asteroiden oder Kometen. Wenn der dann weit genug weg sei, könne man in der Zukunft mit einem Teleskop hinein und somit in die Vergangenheit schauen – vorausgesetzt, es sei stark genug. „Es ist ein Gedankenexperiment. Ich bin ja nicht in der Lage, das umzusetzen.“ Der Autorin schwirrt der Kopf. Ob nicht einfach Satelliten diese Arbeit erledigen könnten, die doch sowieso dauernd die Erde fotografieren? Was ist mit Google Earth? Bismarck schüttelt den Kopf. „Satelliten nehmen nur das auf, was uns heute interessiert. Sie sind von Interessen gefiltert. Mein Projekt denkt in kosmischen Dimensionen. Es geht um eine futuristische Idee, die nichtlineares Denken fördern soll.“ Dann folgen Ausführungen über Aliens, die dank des Spiegels von unserer Existenz erfahren könnten – wir senden über die Voyager-Raumsonden ja ohnehin Informationen über uns ins All, Landkarten, Musik und mathematische Formeln, wir warten auf Zeichen, bisher sei nur leider noch nichts zurückgekommen, aber der Spiegel könnte da Neues leisten, vielleicht könnte Elon Musk ihn ja hochschicken, scherzt die Autorin, ja, lacht der Künstler, der habe auch schon sein Auto und einen Käse ins All geschossen. (Später erwähnt Bismarck, dass er „Elon“ bereits getroffen hat, ohne näher darauf einzugehen.) Als es jetzt um die „Drake-Gleichung“ geht, die erforscht, ob es potentiell Aliens gibt, um die „Dark Forest Theory“, bei der man sich vor ihnen versteckt oder um das „Fermi Paradoxon“, das von extraterrestrischer Intelligenz ausgeht, die unsere Galaxie längst beherrschen könnte – als die Autorin also endgültig einen Knoten im Gehirn hat, sagt Bismarck: „Am Ende geht es ums Träumen. Ich war immer Möchtegern-Wissenschaftler, habe Raketen gebaut und Blitze gefangen. Die Frage, ob es da draußen Leben gibt, wird oft belächelt – aber sie ist essenziell und noch völlig ungelöst. Wir leben in einem neuen Space-Age. Das inspiriert mich natürlich sehr.“ Allein der Roman „Trisolaris“ von Liu Cixin habe ihn enorm beschäftigt.

 

Weißwein. Alles andere wäre jetzt unangebracht, als es nun ins „Nuova Mirabella“ geht, einem Italiener mit schräg verlegten Fliesen und Rustika-Säulen im nahen Bezirk Tempelhof, was an sich schon eine Zeitreise ist – das Konglomerat aus Nachkriegsmuff und Preußen-Grandiosität will so gar nichts mit der Berliner Kunstwelt zu tun haben, für die Bismarck auch steht. Im zugemüllten Mercedes-Kombi des Künstlers sitzen die Assistenten Mareike Begner und Martin Schied, der als „Daniel Düsentrieb“ vorgestellt wird und der Physik und Veranstaltungsmanagement studiert hat, „die perfekte Mischung für uns“. Herr Schied hat seine Brille selbstgebaut und zwei große, kreisrunde Gläser am Riemen einer Taucherbrille befestigt. In Riesengläsern kommt auch ein hervorragender Inzolia zur Dorade auf Gemüsebett, danach noch Grappa aufs Haus. „Zur Feier des Tages“, sagt Bismarck. Inzwischen ist es später Nachmittag. Zeit für die Frage, wie diese ganze Science-Fiction nun ins Kunstobjekt kommt? Ein Ausflug ins Kesselhaus der Malzfabrik, das Bismarck als Lager und Werkstatt benutzt – hier finden die Fräsarbeiten statt. Das Licht vom Hof flutet Holzkisten, Paletten, Container, Betonmischer. Und dann, hinter einer Plastikplane: Die Fräsmaschine. Ein hochtechnologischer Apparat in Kingsize-Format, auf dem eine Kunstharzplatte mit haargenau ausgeschnittenen Dreiecken liegt. Würde man sich von diesem Gerät die Wirbelsäule operieren lassen, man hätte nichts zu befürchten.

 

Zurück im Atelier, lassen sich die Herren Bismarck und Schied am Schreibtisch nieder, der Monitor zeigt eine Schraube mit Halterung. „Nun geht es um die Balance zwischen Ästhetik und Sicherheit“, sagt Bismarck. Wie groß darf die Schraube sein, die den mit Dreiecksspiegellöchern gestalteten Schieferstein von der Decke hängen und rotieren lässt? Herunterfallen darf nämlich nichts, wenn im März die Ausstellung in der Berliner Galerie Alexander Levy eröffnet. Die Herren vertiefen sich in Zentimeterfragen, während die Autorin sich in einem herumliegenden Dreiecksspiegel beäugt und nichts sieht außer: sich selbst. Kein Hintergrund, egal, wie man das Ding dreht und wendet. Genau darum geht es bei der Fräspräzision. Ist Bismarcks Projekt eine Metapher auf das narzisstische Zeitalter? Die Zeit läuft davon, Bismarck muss los, in die Sauna. „Schweiß sammeln für Skulpturen aus Schweißkristallen“, sagt er und kommt dem fragenden Gesicht zur Hilfe: „Man nimmt ihn mit einer Kreditkarte ab und fängt ihn auf, zieht ihn dann aus dem Gefäß mit einer Pipette und tut ihn in Eppendorf-Kanülen. Aber es geht erst ab dem zweiten Durchgang. Der erste Schweiß ist zu schmutzig.“ Derart aufgeklärt verabschiedet sich die Autorin in die Dunkelheit, unter dem Arm den Katalog zu Bismarcks Blitzfangprojekt „Talking to Thunder“. Besser könnte man die letzten Stunden nicht umschreiben.