Killt Politik die Kunst der Gegenwart?
/ AD Architectural Digest

Auf die 13. Berlin Biennale war ich gespannt. Versehen mit dem Titel Das Flüchtige weitergeben, hieß es, man würde hier Kunst sehen, die „unter Extrembedingungen“ entstanden war zugleich auf Humor setzte. Die Idee gefiel mir. Denn seit der letzten Kunstbiennale von Venedig, nein, seit der documenta 15 in Kassel, nein, eigentlich schon davor hatte ich in vielen Museen und Kunstvereinen nichts mehr zu lachen gehabt. Doch dann stand ich in den Kunst-Werken, dem Hauptort der Berlin Biennale, und hatte das Gefühl, an einem Tiefpunkt angelangt zu sein: In dem Wettbewerb gegen künstlerische Ästhetik und für moralisch-didaktische Illustrationen, in dem sich Kunstinstitutionen offenbar gerade befinden, belegte die Schau den ersten Platz.

 

Die Künstlerin Chaw Ei Thein, geboren 1969 in Yangon, Burma, zeigte genähte Puppen, die auf Proteste in Myanmar verwiesen und auf die, so der Wandtext, „auf Unterstützung basierende Natur menschlicher Beziehungen, die in der Übergangsphase zwischen erzwungenem Exil und einer fragilen, aber doch kraftvollen diasporischen Handlungsmacht geknüpft werden“. Die Ägypterin Huda Lutfi hatte aus Zeitungsausschnitten Collagen in Spitzhutform geklebt, die auf Holzstangen saßen und an den arabischen Frühling erinnern sollten. Und es gab einen Garten der Hoffnung der Inderin Iris Yingzen, die vor ihrem Haus im konfliktgebeutelten Nagaland „Guerilla Gardening“ für den Frieden betreibt, was hier in Form von Indigofarbe auf Brennnessel- und Jutefasern zu bestaunen war.

 

So anrührend sich die Geschichten über friedliche Proteste lasen, so schwach waren die visuellen Behauptungen, in denen sie Gestalt annahmen. Masken, Zeichnungen, Textilarbeiten, Wackelvideos, Collagen, Soundskulpturen, Schriftbilder, ein Erdloch im Garten: All das war weder formal noch technisch interessant. Es war auch nicht lustig oder innovativ, im Gegenteil, die meisten Stücke wirkten gewollt, gebastelt und altmodisch. Schon in Venedig hatte ich gemeint, es bei einer abstrakten Weberei mit einem Wandteppich aus dem 19. Jahrhundert zu tun zu haben – dabei hatte hier die argentinische, aus einer indigenen Gemeinschaft stammende Textilkünstlerin Claudia Alarcón gemeinsam mit 13 Kolleginnen Hand angelegt, und zwar im Jahr 2023.

 

Verstehen Sie mich nicht falsch: Diejenigen, die so etwas herstellen, trifft dabei keine Schuld. Überall auf der Welt arbeiten Menschen in alten Traditionen, verwandeln Erfahrungen mit Krieg, Verfolgung und Unterdrückung, den eigenen Glauben, persönliches Schicksal oder schlichtweg das, was sie mit ihrer Heimat verbindet, in Kunsthandwerk, Basteleien und andere Dinge. Sie alle haben ein Anliegen und das Recht darauf, gesehen zu werden. Und ja, über das, was die Menschen in fernen Ländern umtreibt, sollte ich mehr wissen. Doch gehören diese Dinge in Biennalen und Museen für Gegenwartskunst? Wären nicht Reportagen und Dokumentationen die geeigneteren und anschaulicheren Medien, um auf Widerstände indigener Gruppen aufmerksam zu machen, ja ihrer Dringlichkeit gerecht zu werden? Wieso zeigt man dem saturierten Blick des westlichen Kunstpublikums Dinge, die hier als Ethno-Kitsch Klischees des „Globalen Südens“ bedienen?

 

Viele Kunstinstitutionen haben sich in Ghettos unterdrückter Minderheiten verwandelt, deren Werke man nicht an bildnerischer Qualität, sondern an ihrem politischen Symbolgehalt misst. Verantwortlich für diesen ästhetischen Niedergang sind die aktivistisch, postkolonial und queer-feministisch geschulten Kuratorinnen und Kuratoren, die mit einem ideologisch getriebenen Programm das aus dem Blick verlieren (oder es in Studiengängen wie „Curatorial Studies“ nie gelernt haben) was gute Kunst auf der ganzen Welt verbindet: der Drang, einer eigenen Welt Ausdruck zu verleihen, statt auf politische Ereignisse zu verweisen. Die Neugier auf neue Produktionstechniken, statt Überkommenes zu perpetuieren. Die Fähigkeit, überraschende, eindringliche und fantasievolle Formen für Erzählungen zu finden, die berühren statt zu berichten. Es ist unwahrscheinlich, dass so etwas im „Globalen Süden“ nicht existiert – doch es wird uns in solchen Ausstellungen nicht gezeigt, ebenso wie man hier keine brillanten Künstler der nördlichen Hemisphäre findet. Die Erblast der Ausbeutungshistorie ihrer Herkunftsländer zu tragen und unter Generalverdacht einer heteronormativen „weißen Überlegenheit“ zu stehen, reicht aus, um von Präsentationen ausgeschlossen zu werden, wo früher die Kunst der Zukunft zu sehen war.

 

Heutige Ausstellungen, die auf Schlagworten wie „Widerstand“, „Queerness“, „Kollektiv“, „Empathie“, „Heilung“ und „Freiheit“ konstruiert sind, haben etwas Zwanghaftes. Auflehnung, Anderssein, Selbstbehauptung, Sensibilität, Offenheit, Emotionalität, Intelligenz und Experimentierfreude haben dagegen schon immer die Haltung ausgezeichnet, aus der heraus gute Kunst entsteht. Durch die aktuelle Dogmatik jedoch gerät der Kunstbegriff unter die Räder eines Kulturbetriebs, der Besucher moralisch instruieren will. Er spricht ihnen selbstständiges Denken und Urteilen ab. Noch schlimmer: Er will sie erziehen – und das ist nicht nur ästhetisch und moralisch überaus fragwürdig, sondern auch gefährlich. Denn wenn Kunst einer Gesinnung entsprechen und einem Netzwerk von Funktionären dienen soll, passiert das, was wir aus Diktaturen kennen: Kunst wird zum Abziehbild eines ideologischen Leitgedankens. Auch ein Aktivismus, der gegen den „Globalen Norden“ und somit absurderweise potentiell gegen westliche Werte wie Demokratie, Kunst- und Meinungsfreiheit angeht, ist eine Ideologie. Man kann daran glauben, sich davon antreiben lassen, ihm applaudieren – aber als geistige Vorgabe hat er in Kultureinrichtungen nichts zu suchen. Dass dort nun außerdem überall ein „Code of Conduct“ herrscht, der auf Respekt und Diversität verweist, klingt zwar gut – doch er schränkt Kunst darin ein, bissig, witzig, aggressiv, provokant und fordernd zu sein, mit Bildern und Symbolen zu spielen, die durchaus dazu da sind, zu „triggern“, wovor neuerdings ebenfalls gern gewarnt wird.

 

Dabei genügt ein Blick in die Kunstgeschichte, um zu erkennen, dass Diplomatie noch nie das Mittel der Wahl war, wenn man vorankommen wollte. Michelangelo etwa verwandelte Das Jüngste Gericht in der Sixtinischen Kapelle in eine unerhörte Bildwelt aus Emotionen und Nacktheit, die nach seinem Tod eilig überpinselt wurde. Und hätte Caravaggio die Malerei revolutioniert, ohne den Heiligen Schmutz unter die Füße zu malen? Wo wäre die Moderne ohne Edward Munchs Übertragung seiner geplagten Psyche in den „Schrei“? Gäbe es das „Ready-Made“, hätte Marcel Duchamp nicht ein Pissoir signiert? Hans Bellmers erotische Fotos zergliederter Puppen und Francis Bacons kreischende Päpste stellen alles in den Schatten, was Kunstbetrachter seit Hieronymus Boschs Höllenszenerien verstört hatte. Dann hob Hermann Nitschs blutiges Orgien-Mysterien-Theater das Ganze auf eine neue Ebene. Yayoi Kusama überzog Möbel mit genähten Penissen und Marina Abramovic brachte sich in Extremperformances an die Grenze dessen, was Körper und Psyche aushalten. Cindy Shermans Selbstporträts überwanden unverfroren Stereotype des Weiblichen, die Tracey Emin mit schonungslosen Erzählungen über ihre Abtreibung und Bettgefährten gänzlich aushebelte.

 

All diese Künstler waren angetreten, innere und gesellschaftliche Schranken mit ästhetischen Herausforderungen zu überwinden. Und waren nicht sie es, die Kunst neu und grenzenlos dachten, die queer und verquer waren, streitbar und respektlos und genau damit gegen jede Form von Unterdrückung antraten? Gegen alles, was auch nur im Entferntesten einem „Verhaltenskodex“ oder gar „Warnungen“ entsprach, gingen sie mit kompromisslosen Werken vor, ohne sich politisch zu positionieren, Proteste abzubilden und wie formgewordener Sozialkundeunterricht auszusehen.

 

Um mich von der Berlin Biennale zu erholen, ging ich in die Ausstellung über den Bildhauer Medardo Rosso, dessen zarte, fließende Köpfe an der Schwelle von Präsenz und Verschwinden im Kunstmuseum Basel zu sehen waren. Kombiniert mit feinfühligen Setzungen von Gegenwartskunst, war kein Werk darin, das nicht aus eigener Kraft heraus widerständig und fluide war. Miriam Cahns geisterhafte Figurenmalerei, Alica Szapocznikows Fotos von Kaugummiskulpturen, die aussehen wie ephemere Körper, Robert Morris‘ Filzfaltung, in die man sich einen Menschen hineinimaginiert, Senga Nengudis organisch atmende Verspannungen aus Nylonstrümpfen, Marisa Merz‘ mystische Wesen, die sich fast in Nichts auflösen: Ganz ohne kuratorische Buzzwords verkörperte diese Kunst die Transformation von Freiheit, Schmerz und Vorstellungskraft in den Raum, evozierte das Gefühl des Flüchtigen, ohne reflexhaft Das Flüchtige weitergeben zu wollen. Die Schau erinnerte daran, wie es sich anfühlt, wenn Kunst Grenzen sprengt, statt „Widerstand“ abzubilden, dass sie unter die Haut geht, statt zu „heilen“, dass sie spielerisch verschlingt, verdaut und ausspuckt statt für „Fürsorge“, „Empathie“ und „menschliche Beziehungen“ zu sorgen. Kuratoren und die sich ihnen andienenden Kunstkritiker, das nicht sehen, mögen gerne in Politik und Aktivismus abwandern, in die Welt der Wimpel und Werbeaufkleber. Die Zeit, ihnen Biennalen und Kunstmuseen anzuvertrauen, ist hoffentlich bald vorbei.