Es war eines der vielen traurigen Aha-Erlebnisse auf der Hauptausstellung der aktuellen Biennale von Venedig: Ein handlicher, wunderbar abstrakt gewobener Wandteppich verströmte die sanft patinierte Aura von Kunst, die aus dem Südamerika der Sechzigerjahre zu stammen schien. Das Label daneben verriet, dass man es mit einem Werk der aus einer indigenen Gemeinschaft Argentiniens stammenden Textilkünstlerin Claudia Alarcon zu tun hatte, das in Zusammenarbeit mit 13 anderen Künstlerinnen entstanden war – allerdings im Jahr 2023. Darunter vermerkt war der triumphierende Hinweis, dies sei das erste Mal, dass die Künstlerin samt ihren Kollaborateurinnen auf der Biennale ausgestellt sei.
Traurig ist dabei nicht nur, dass der weiße, in Rio de Janeiro geborene und am CalArts in Los Angeles ausgebildete Kurator Adriano Pedrosa sich auf seiner Biennale quasi als Entdecker aufschwingt, dieses Versäumnis nun endlich nachzuholen, was durchaus etwas Neokolonialistisches hat. Sondern bedrückend ist auch, dass das Biennale-Publikum nun auf Kunst blickt, die eben so aussieht, wie man denkt, dass indigene Kunst eben aussehen müsste – und schon immer ausgesehen hat.
Ein zentrales Problem von Pedrosas Schau „Foreigners Everywhere“ ist, dass sie die Kunst wieder zurück in Schubladen steckt – in die der queeren, indigenen, Outsider- oder Volkskunst, ganz so, als könnte man die Menschen, die diese Kunst herstellten, auf gewisse Persönlichkeitsanteile reduzieren. Schwierig ist auch, dass die Ausstellung sich ausschließlich auf den „globalen Süden“ konzentriert, also auf kolonisierte, von kapitalistischen Systemen ausgebeutete Länder der südlichen Hemisphäre, wobei sie verkennt, dass auch im Norden, Osten und Westen unterdrückt wurde, und zwar nicht nur vom Kapitalismus, sondern auch vom Kommunismus oder von egomanischen Diktatoren. Das größte Problem aber ist die Tatsache, dass die Kunst dieser Biennale alt aussieht – und damit Klischees über eben diesen globalen Süden bedient, statt mit dessen schöpferischem Potential zu überraschen. Was wir sehen, liegt in weiten Teilen zwischen kleinteiliger geometrischer Abstraktion, modern aufgebrochener Figuration sowie Dingen, die sich bemühen, wie Avantgarde oder zeitgenössische Kunst auszusehen, aber die meist in einem die eigene Geschichte zitierenden Narrativ verhaftet bleiben – ganz so, als hätte der globale Süden keine eigene Innovationskraft: Ausgerechnet aus Ländern, in denen Handy und Internet auf überaus kreative Weise zu einer enormen Verbesserung der grundlegenden Lebensqualität beitragen, sehen wir kein einziges Werk, das mithilfe neuester Technologien entstanden ist. Obwohl die spannendsten jungen Künstler heute mit digitalen Animationen, Algorithmen, KI und Gaming-Ästhetik arbeiten und mit spielerischem Geist ihr Technikwissen in neue Gedanken über unsere Welt verwandeln – Science-Fiction, so scheint es, gibt es im globalen Süden nicht. Pedrosa ist nicht der einzige Kurator, der das so sieht. Schon die letzte Documenta des indonesischen Kollektivs Ruangrupa wirkte folkloristisch -didaktisch, und auch der letzten Architekturbiennale von Leslie Loko haftete, bis auf wenige glückliche Ausnahmen, ein müder Ethno-Touch an. Sobald Kunst und postkoloniale Fragestellungen verschmelzen, verliert Kreativität offenbar ihre Fähigkeit zur Erneuerung. Genau deshalb sind solche kuratorischen Konzepte unfair gegenüber jüngeren Künstlergenerationen des Südhalbkugel, die mit neuen Medien vermutlich ganz andere Themen auf den Plan rufen – von denen wir aber nichts erfahren.
Um zu erleben, wie die Kunst der Zukunft aussieht, muss man in Venedig also absurderweise nicht auf die Biennale, sondern zur Pinault Collection, der Privatsammlung eines der reichsten Menschen der Welt. In der Punta della Dogana präsentiert der französische Künstler Pierre Huyghe Mensch-Maschinen mit metallischen Masken, in denen Sensoren mit einer künstlichen Intelligenz eingebaut sind, die über Begegnungen mit Räumen und Besuchern eine eigene Sprache entwickeln und so eigenständig kommunizieren lernen. Die Masken wispern, und als Besucherin weiß man nicht, ob die Menschen dahinter echt sind oder Roboter und ob das Zischeln nicht eigentlich von ihnen kommt, was es nicht tut. Einen Raum weiter zeigt ein Film zwei Roboterarme in einer Geröllwüste, die ein menschliches Skelett analysieren – ihre Bewegungen sind an eine künstliche Intelligenz geknüpft, die das Wetter und die Besucherzahlen misst.
Künstler kommen heute um KI kaum mehr herum – sei es, weil dekorativ driftende, sich eigenständig fortentwickelnde Farbwolken auf Großdisplays, wie sie der Künstler Refik Anatol im New Yorker MoMA installiert hat, plötzlich abstrakte Malerei ersetzen, oder weil Text-zu-Bild-Generatoren neue Möglichkeiten bieten, dem Internet hyperrealistische, künstlich generierte Bilder zu entlocken: Das Programm lernt, visuelle Informationen zu interpretieren und zu rekreieren, indem es unzählige Daten analysiert und verknüpft – die bizarren Filminstallationen von Jon Rafman oder Hito Steyerl führen auf unheimliche Weise vor, wie online neue Realitäten entstehen. Ein Schlüsselwerk ist Jordan Wolfsons Female Figure von 2014: ein humanoider Roboter mit 48 eingebauten Motoren sucht tanzend vor einem Spiegel Augenkontakt mit dem Besucher, ermöglicht durch eine Software, die auf Bewegungen reagiert. Die Idee des Cyborgs – einer feministisch getriebenen Mischung aus Mensch und Maschine, der Donna Haraway 1985 ihr berühmtes Cyborg-Manifest widmete – wurde bereits in den Sechzigerjahren von Lynn Hershman Leeson in atmende Puppenköpfe verwandelt, während Lillian Schwartz als eine der ersten Künstlerinnen im Bell Lab computeranimierte Filme entwickelte, bis Rebecca Allen in den Achtzigerjahren Motion Capture und 3D-Modellierung weiterentwickelte, bis daraus 1986 das futuristische Kraftwerk-Video Music Non Stop entstand. Heute sind es Lu Yang, Jacolby Satterwhite oder Danielle Brathwaite-Shirley, deren fiktionale Universen von Computerspielen abgeleitet sind und Themen wie Geschlecht, Körper und Geschichte in immersive Techno-Visionen verwandeln. Natürlich sind viele dieser Werke kostspielig in der Produktion – doch die Anfangsstadien waren es nicht, und heute reicht ein Smartphone, um neue Ideen zu entwickeln. Längst finanzieren potente Stiftungen, Sammlungen und Galerien den Fortschritt in der Kunst, etwa die Julia Stoschek Collection aus Düsseldorf, eine der weltweit größten Sammlungen für zeitbasierte Medien oder die Stiftung Light Art Space (LAS) aus Berlin, die sich aufwändigen Einzelausstellungen von Kunst in Verbindung mit neuen Technologien verschrieben hat, sowie die Galerie Sprüth Magers, die besonders viele Künstler im Programm hat, die mit neuen Medien arbeiten – und selbst kleinere Galerien wie Societé in Berlin stehen für Kunst, die in die Zukunft schaut.
Es ist ein Rätsel, warum die Biennale von Venedig in ihrer historischen Sektion nichts in der Art aufgenommen hat, was ab Herbst in der Londoner Tate Modern zu sehen sein wird: Die Schau Electric Dreams wird Werke von Künstlern zeigen, die schon früh mit digitalen Mitteln arbeiteten – darunter auch solche aus dem globalen Süden. Der Venezuelaner Carlos Cruz Diez etwa setzte kinetische Projektoren für raumgreifende Environments ein. Der Brasilianer Eduardo Kac experimentierte für seine poetischen Textarbeiten mit miteinander vernetzten Minitel Maschinen, die das Internet vorwegnahmen. Die 1936 in Jerusalem geborene, in New York lebende Künstlerin Samia Halaby kreierte abstrakte Bewegtbilder am Computer, als das noch nicht Usus war. Tatsächlich ist sie auf der Biennale vertreten – allerdings nur mit einem Bild, dessen ganze Leistung darin besteht, in Op Art-Manier ein Kreuz mit gerundeten Kurven zu zeigen. Auch hier vermeldet der Text zum Werk, Halaby sei noch nie auf der Biennale präsentiert worden. Wenn man dieses Bild sieht, meint man zu wissen, warum.
Die Frage, wo die Künstler der Südhalbkugel sind, die schon damals in die Zukunft blickten, ganz zu schweigen von jüngeren, technologieaffinen und global vernetzten Generationen, die offenbar durchweg ignoriert wurden, müssen sich Kuratoren wie Pedrosa also gefallen lassen. Wenn Kunst uns neue Perspektiven aufzeigen soll, muss sie ihrer Zeit voraus sein – und keine Trophäe für die Kolonialherren der Kunst.