Die Mutter der Arte Povera
/ Welt am Sonntag

Marisa Merz stand viel zu lang imSchatten ihres berühmten Mannes. Mit 92 Jahren tritt die italienische Künstlerin endlich ins Licht - auf dem Markt wie im Museum

 

Welt am Sonntag, 23. September 2018

 

Uno, due, tre. Quattro, Cinque, Sei. Und so weiter. Die Erbsenzählerin ist eine zierliche Frau mit langen schwarzen Haaren. Man hört sie nicht aber liest die Zahlen von ihren Lippen. Sie sitzt am Küchentisch, vor sich verzierte Porzellantassen, eine Flasche Olivenöl, eine Obstschale. Jede Erbse nimmt sie einzeln aus der Dose und legt sie sorgsam auf einen Teller vor sich. Sette, Otto, Nove. La Conta heißt der 16 Millimeter-Stummfilm. Marisa Merz hat ihn 1967 in ihrer eigenen Küche gedreht. Sie teilte die Wohnung mit ihrem Mann Mario, dem Giganten der Arte Povera, und ihrer kleinen Tochter Bea, die beide eng mit ihrer Kunst verflochten waren. Dass sie mit diesem feinen, sanften Film Martha Roslers feministisches Video Semiotics of the Kitchen von 1975 vorwegnahm, in dem die Amerikanerin in wütendem Ton ein Küchengerät nach dem anderen in die Kamera hält und beim Namen nennt, als würde sie ihre Peiniger anklagen – Marisa Merz hatte keine Ahnung. Es hätte sie auch nicht interessiert. Denn obwohl sie heute als einzige Vertreterin der Arte Povera gilt, der im Schatten ihres Mannes und der Männerriege die Aufmerksamkeit lange verwehrt blieb, dachte Marisa Merz nicht politisch. Ihre Kunst ist fragil wie sie selbst, voller leisem Humor. Aber vor allem ist sie wandelbarer als das Werk ihrer Zeitgenossen. Vielleicht wusste die Kunstgeschichte einfach lange einfach nicht, wohin mit ihr und drückte sich mit einer Würdigung durch Markt und Museen – auch wenn sie längst in der Athener Galerie Bernier Eliades an der Seite ihres Mannes und den anderen großen ‚Poveristi‘ vertreten war. Doch erst, als die New Yorker Großgalerie Barbara Gladstone sie vor einigen Jahren ins Programm aufnahm, tat sich etwas. Nun hat die Kuratorin Sabine Breitwieser ihre Retrospektive ins Museum der Moderne Salzburg geholt. Es ist die letzte Station einer Schau, die von Los Angeles über New York und Porto getourt ist – und ein längst überfälliger Ritterschlag. Zwar hat Marisa Merz 2013 den Goldenen Löwen auf der Biennale von Venedig für ihr Lebenswerk bekommen. Die wenigsten hatten jedoch die Vielfalt ihres Werks vor Augen, das nun in Salzburg chronologisch ausgebreitet ist.

Der Erbsenfilm steht dabei sinnbildlich für den ephemeren, weichen Charakter ihrer Arbeit: aus Kupferdraht und Nylonfäden gehäkelte Schuhe, Schalen und Wandbehänge, filigran-abstrakte Grafitzeichnungen, ikonenhafte Gesichter auf Papier und Leinwand, mit roten Lippen und schlafendem Blick – und dann die handlichen Köpfe aus ungebranntem Ton: Sie sind teils leuchtend Blau, Rosa und Gold eingefärbt, was natürlich an die Madonna und Engel erinnert, an denen man in Italien ja nicht vorbeikommt. Und teilweise wirken sie einfach nur wie nicht von dieser Welt. Marisa Merz bricht nicht auf brachial-feministische Weise mit der Tradition – weder mit ihrer Rolle als Frau im machistischen Nachkriegsitalien, noch mit der Kirche als Souffleuse der Kunst. Ihr Werk hat vielmehr eine leise Ironie und ist zugleich überaus poetisch, wenn sie sich die Finger mit Metall (einem von Militär und Industrie besetzten Material, das in den Fabriken der Autostadt Turin verarbeitet wird) wundhäkelt und nebenbei auf das „Gitter“ anspielt, von dem die männlichen Künstlerkollegen der Minimal Art und Konzeptkunst damals wie besessen sind.

Im Grunde hat auch der Film eine Rhythmik wie bei der Handarbeit. Doch wer genauer hinsieht, entdeckt über der Erbsenzählerin eine silberne, wulstig geschwungene Röhrenkonstruktion – im Museum hat man die Lebende Skulptur dann direkt vor der Nase: Eine futuristische Wucherung aus Metallröhren, die aussieht wie Innereien aus dem Bauch eines Raumschiffes, schwebt hier als Hauptwerk von der Decke. Das Gebilde nahm damals einen Großteil der Merz’schen Wohnung in Turin in Anspruch. Es baumelte von den Wänden, schlang sich um den Fernseher oder schwebte im Zimmer wie ein lichtreflektierendes Mobile für die Tochter. Man konnte es auseinanderziehen oder dicht zusammenfügen, manche Teile waren mit bunten Lackblumen bemalt. Wo andere Künstlerinnen Themen wie Mutterschaft, Familie und Häuslichkeit als Bürde und Trauma in ihrem Werk verarbeiten oder gleich bewusst kinderlos bleiben, erzählt Marisa Merz freimütig von der Fantasiewelt ihrer kleinen Tochter, die aus ihrem Kunstschaffen nicht wegzudenken war: „Ich habe so vieles von ihr gelernt, und sie nichts von mir. Sie hat die Dinge einfach erfunden und gemacht.“

Es war diese spielerische, bedeutungsfreie Herangehensweise an Materialien, mit der Marisa Merz ihre eigene Bildsprache entwickelte. Dass ihr Mann Mario nebenbei seine Iglus baute, aus Schiefer, Stein und Stroh, war dabei kein Hindernis – im Gegenteil. „Die beiden haben sich gegenseitig unterstützt. Und dass Mario spiralförmige Tische und Gerüste baute, ging auch auf Marisas Einfluss zurück“, sagt Sabine Breitwieser. Es gibt ein Foto von 1968, auf dem Marisa und Mario Merz gemeinsam einen Iglu in einer Galerie in Rom installieren. Auf anderen Aufnahmen trägt er für eine gemeinsame Aktion zusammengerollte Decken über der Schulter am Strand entlang und schwingt sie um sich, als wollte er sie ins Meer werfen.

„Marisa hat sich nie aus der Gruppe der ‚Poveristi‘ ausgeschlossen gefühlt.“ Und das, obwohl sie nur selten an ihren Ausstellungen teilnahm und weder in deren frühen Manifest erwähnt wurde, noch den Essays und Publikationen von Germano Celant, der der Arte Povera ihren theoretischen Überbau schrieb und sie weltweit populär machte. Der Kritiker Tommaso Trini dagegen schrieb regelmäßig über Marisa Merz – und registrierte schon 1975 ihren Ausschluss aus dem „kapitalistischen und männerzentrierten Kunstsystem“, das sie in ihrer Rolle als Mutter und Partnerin marginalisierte. Immerhin: Ihre erste Soloschau hatte Marisa Merz bereits 1967 bei der Galleria Gian Enzo Sperone in Turin und zeigte dort die Living Sculpture, die im selben Jahr im Turiner Piper Pluri Club als Environment installiert wurde – einem in buntem Plastik designten Künstlertreff. Und 1982 nahm sie an der documenta teil. Und obwohl der Salzburger Ausstellungskatalog ihre Rolle als Frau fast schon überdeutlich macht, liest man von Marisa Merz kein Wort, in dem sie sich über Benachteiligung beschwert. Auch im Alter von 92 Jahren blicke sie stets nach vorn und nie in die Vergangenheit, so die Kuratorin Connie Butler, die ihr die Schau am Hammer Museum L.A. ausgerichtet hat. Vielleicht liegt es einfach daran, dass Marisa Merz keine so eindimensionale Vorstellung von Kunst wie ihre männlichen Kollegen. Die Arte Povera war eine ästhetische Einbahnstraße – Steinplatten, Aschehaufen und Baumstämme haben heute nicht mehr die minimalistisch-mythische Kraft, die sie in der Nachkriegszeit entfalten konnten. Die flüchtigen Erzählwelten von Marisa Merz dagegen bleiben offen und verändern sich stetig – auch wenn das dazu führt, dass die späteren, größeren Goldgrundmalereien ziemlich kitschig sind. Doch das kann man dieser Künstlerin, die in Turin völlig eigenständig gearbeitet hat und dabei in ihrer „Rolle als Frau“ nie aggressiv wurde, kaum vorwerfen.

Vorwürfe gab es aber gegen die Museumsdirektorin Sabine Breitwieser, die Ende Juli das Museum verlassen hat. „Mangelnde Sozialkompetenz“ war offenbar Grund genug, eine Kunsthistorikerin und Kuratorin von internationalem Top-Niveau vor die Tür zu setzen. Dabei brachte sie mit ihrem Antritt 2013 die von ihr als Leiterin der Generali Foundation aufgebaute Sammlung als Dauerleihgabe mit – eine hochkarätige Kollektion mit 2100 Werken von 250 Künstlern, von Gordon Matta-Clark über Valie Export bis Merce Cunningham, die das Haus international bekannt machte. Und nicht nur das. In kürzester Zeit gelang Breitwieser eine Reihe an Werkschauen von Künstlerinnen wie Carolee Schneemann, Ana Mendieta, Andrea Fraser, Etel Adnan und Charlotte Moorman, die in dieser Qualität und konzentrierten Abfolge ihresgleichen sucht. Doch was zählt das schon, wenn es auf dem Mönchsberg plötzlich nicht mehr so idyllisch zugeht? Dass so eine kompetente Kuratorin, die vom New Yorker Museum of Modern Art in die Mozartstadt kam, im erzkonservativen Österreich keinen Kuschelkurs fährt, hätte man sich denken können. Musste hier je ein polternder Museumsmann seinen Hut nehmen? Jetzt geht das Land Salzburg wieder auf Nummer sicher: Es hat Thorsten Sadowsky vom Kirchner-Museum Davos ins Haus bestellt. Vielleicht muss man es nun mit Marisa Merz halten: Erbsen zählen, sich die Finger wund häkeln – wissend, dass der richtige Moment für eine Querdenkerin schon noch kommt.