Nachruf auf Carl Andre
/ Welt am Sonntag

Seit Mitte der 1960er-Jahre platzierte Carl Andre seine identischen, industriell gefertigten Backsteine, Metallplatten und Holzbalken in Reihen und rechteckigen Rastern direkt auf dem Boden – ein damals radikaler Akt, von dem er nie wieder ablassen würde. Gemeinsam mit seinen Minimialismus-Kollegen wie Donald Judd, Dan Flavin und Robert Morris schrieb er damit Kunstgeschichte: Die Kunst wurde von jeglicher Fantasie, einer künstlerischen Handschrift und sonstiger Stimulation befreit und als Objekt in den Raum verlagert. Andre bezeichnete das als „close to zero“.

 

Besucher umkreisen solche Werke konzentriert und verwundert, obwohl sie ja bereits auf den ersten Blick wussten, dass sie es hier mit einer recht eintönigen geometrischen Formation zu tun hatten. Die Arbeiten von Carl Andre aber unterschieden sich von den Zeitgenossen dadurch, dass er keine lackierten Boxen (Judd), keine Neonröhren (Flavin), sondern nur natürliche oder wenig verarbeitete Materialien verwendete – und man seine Metallplatten begehen und unter den Füßen spüren konnte, wie unterschiedlich die eigenen Schritte auf Aluminium oder Stahl klangen.

 

Doch während die Kunstkritiker in Amerika sich an dieser Art von stiller, aber eben auch spröde intellektuellen Kunst abarbeiteten, setzte sich dort doch die parallel aufkommende Pop-Art durch. Und Andre? Er wurde in Europa berühmt, wo es ähnliche Bewegungen wie Zero in Deutschland oder Arte Povera in Italien gab und die Abwendung von den erzählerischen Inhalten dem eskapistischen Verhalten der Betrachter entgegen kam.

 

Wichtig für seinen Erfolg waren in Düsseldorf die Galerie Konrad Fischer, frühe Sammler wie Egidio Marzona und der Kurator Harald Szeemann, der Carl Andre im Jahr 1969 in der wegweisenden Ausstellung „When Attitudes Become Form“ in der Kunsthalle Bern zeigte. In New York vertrat ihn die Galeristin Paula Cooper – auch, als Andre durch eine schwierige Zeit navigierte: 1985 war seine Frau, die Body-Art-Künstlerin Ana Mendieta, bei einem nächtlichen Streit aus dem Fenster ihrer gemeinsamen Wohnung in Soho auf die Mercer Street gestürzt.

 

Der Portier hörte noch, wie sie kurz vor dem Aufprall „no, no, no“ rief. Andre wurde wegen Mordes angeklagt und vom Gericht freigesprochen – es konnte nie geklärt werden, was wirklich geschehen war. Keinen Freispruch erhielt er jedoch vom amerikanischen weiblichen Kunstpublikum, das Andre des Femizids bezichtigte und immer wieder seine Ausstellungen stürmte.

 

In Europa und vor allem in Deutschland war das anders, vielleicht, weil hier der Feminismus weniger stark und der Kunstbetrieb noch viel mehr eine Männergesellschaft als in Amerika war. Auch medial machte der Fall weniger Schlagzeilen. Erste Retrospektiven von Andres Kunst fanden deshalb auch nicht in den USA statt, sondern 1996 im Kunstmuseum Wolfsburg. Die Dia Art Foundation in New York, die seine Werke frühzeitig kaufte, organisierte erst 2014 eine große Überblicksschau.

 

Andre, der stets Vollbart und Blaumann trug, verstand sich als Kunstarbeiter, der nicht nur Balken und Steine, sondern auch Worte mit der Schreibmaschine zu Konkreter Poesie zusammenschob. Aufgewachsen in der Industriestadt Quincy, Massachussetts, prägte ihn sein Job als Bremser bei der Eisenbahn, wo ihn der Umgang mit schweren, rostigen Waggons für Material und Gewicht sensibilisierte. Es war wohl ein Grund dafür, dass er seine zunächst kleinteiligen abstrakten, an russischen Konstruktivismus erinnernde Skulpturen von Sockeln auf den Boden verlagerte und sie von dort aus auf die Architektur einwirken ließ.

 

Doch so raumgreifend es werden konnte, wenn Holzbalken und Metallplatten die Galerien füllten: Mit den einzelnen Elementen, die er zu geometrischen Formen kombinierte, orientierte sich Andre stets am menschlichen Maß. Das macht seine Skulpturen nahbar und regelrecht sinnlich – schon daher, weil sie Präsenz ausstrahlen (was der Kunsthistoriker Michael Fried als „Theatralität“ beschimpfte), die einen innehalten und den eigenen Körper besser wahrnehmen lässt. Dass Andre sein strenges Werkprinzip und das daraus entstandene Repertoire nie verändert hat, brachte ihm den Vorwurf ein, der viele langlebige Künstler eint, nämlich ständig „same old stuff“ zu machen, wie der Kritiker Jeffrey Inaba 1999 schrieb.

 

Aus heutiger Sicht stehen diese Skulpturen für eine sehr spezifische Phase, kurz bevor sich die Kunst endgültig öffnete und alle technologischen Grenzen sprengte. Andre, Judd und Co. mussten später viel Kritik einstecken, an der sich jedoch die großen Institutionen auffällig wenig beteiligten. Im Gegenteil: Die Männer wurden binnen kürzester Zeit institutionell aufgefangen und kunsthistorisch abgesegnet. Am 24. Januar 2024 ist nun aber der letzte von ihnen gegangen. Carl Andre ist im Alter von 88 Jahren in New York gestorben.