Nadja Tolokonnikowa sieht aus wie ein Goth-Model, von dem eine warme Energie ausgeht. Die Sonnenbrille ins lange schwarze Haar gesteckt, trägt sie einen Pulli aus schwarzer Spitze mit Sportbündchen über einem hoch geknöpften Hemd, aus dem eine Kette mit orthodoxem Kreuz auf ihre Brust fällt. Die schwarz-weiße Adidas-Sporthose und die schwarzen Chucks täuschen nicht über die schlanke Eleganz hinweg, mit der die Pussy-Riot-Gründerin selbst Glitzerpuder im Gesicht und schillernde Nieten am Nasenansatz in Haltung verwandelt.
Wir treffen uns vor dem Eingang der Neuen Nationalgalerie in Berlin, wo gerade die Lautsprecher für ihre Performance am Abend des 4. Juli 2024 aufgebaut werden. Bei „Rage“, so der Titel, wird sie aus vollen Lungen schreien, während die 50 teils auf Berlins Straßen engagierten Performer farbige Sturmhauben tragen – Markenzeichen des russischen aktivistischen Punk-Performance-Kollektivs Pussy Riot das jetzt in neuer Konstellation als Pussy Riot Siberia firmiert.
Tolokonnikowa, Jahrgang 1989, gründete die Gruppe 2011 mit zwei weiteren Aktivistinnen und wurde für ihr weltberühmt gewordenes „Punk-Gebet“ gegen Wladimir Putin in der Moskauer Christi-Erlöser-Kathedrale 2012 zu zwei Jahren Gefängnis und Zwangsarbeit verurteilt. Heute lebt sie an einem geheimen Ort im Westen der USA, wo sie kürzlich geheiratet hat. Ihr Mann John Caldwell, ein schmaler Surfertyp mit blonden langen Haaren, gehört zu ihrem Team. Darauf, dass die Künstlerin später stundenlang brüllen wird, lässt ihre zarte, leise Stimme nicht schließen, als wir in einem Büroraum im Untergeschoss des Museums Platz nehmen.
WELT: Schreien ist laut und anstrengend und nichts, was man freiwillig macht, es sei denn, man ist Teil einer Noise-Band. Was bedeutet Schreien für Sie?
Nadja Tolokonnikowa: Viele Frauen, non-binäre Personen und die meisten von uns fühlen sich nicht wohl damit, laut zu sein. Wir wollen Raum einnehmen und finden doch, dass wir schnell zu viel Platz beanspruchen. Wir haben das Gefühl, als müssten wir uns für unsere Existenz entschuldigen. Für mich ist Schreien eine Methode, das eben nicht zu tun, sondern im Gegenteil lauter zu werden, was mit einer großen Soundinstallation noch besser gelingt.
WELT: Der Titel Ihrer Performance lautet „Rage“, also Wut. Spüren Sie die beim Schreien in Körper und Geist?
Tolokonnikowa: Es ist ein Weg, Wut zu verarbeiten. Aber zugleich ist mein Schreien behutsam kalkuliert. Ich habe Unterricht genommen, um richtig schreien zu lernen. Der Schrei-Akt ist sehr emotional, aber er fällt mir nicht leicht – ich bin oft viel zu analytisch statt intuitiv.
WELT: Wie reagiert das Publikum darauf?
Tolokonnikowa: Wer Pussy Riot von Anfang an gesehen hat, sucht bei uns heute genau das. Ich habe das Gefühl, dass die Leute sich eher über meine Pop-Sets aufregen als über mein Schreien, denn das assoziieren sie eben mit Pussy Riot. Aber anders als damals ist die jetzige Performance präzise künstlerisch ausgearbeitet. Sie ist kein Punk-Konzert, sondern eher eine Soundinstallation.
WELT: Wie gehen die Menschen in Russland mit ihrer Wut um? Sind sie überhaupt wütend?
Tolokonnikowa: Der Name meiner Show geht auf einen Song zurück, den ich Alexej Nawalny gewidmet habe, als er zurück nach Russland kam und verhaftet wurde. Seine Witwe Julia Nawalnaja sagte nach seinem Tod: Ich will, dass Ihr Euch erlaubt, wütend zu sein! Fühlt nicht nur Trauer, sondern Wut! Es gibt in Russland nicht viele Möglichkeiten, diesem Gefühl Ausdruck zu verleihen und sich dabei sozial und politisch in Sicherheit zu wiegen. Eine davon war, dass tausende Menschen zu Nawalnys Beerdigung kamen. Aber man kann auch einfach nur seinen Lieblingssong hören, der Zeilen von Protest beinhaltet. Es gibt also viele Wege, sich in seinen eigenen vier Wänden zu trösten, um nicht verrückt zu werden. Denn es ist sehr schwer, bei Verstand zu bleiben, wenn dein Handeln nicht deinen Werten folgen kann. Wenn du es tust, riskierst du deine Freiheit.
WELT: Denken Sie oft an Ihre Zeit im Gefängnis?
Tolokonnikowa: Es ist lange her. Ich träume manchmal davon, aber meist mache ich einfach meine Arbeit, bin fokussiert und funktioniere, um gute politische Kunst zu machen. Das macht mich glücklich.
WELT: Ist das Schreien auch ein Weg, Dinge zu verarbeiten, die Sie im Gefängnis erlebt haben und an die sie lieber nicht denken wollen?
Tolokonnikowa: Das haben verschiedene Psychotherapeuten auch vermutet. Sie sagten, dass mein Trauma mich einfriert, damit ich keine negativen Emotionen spüren muss. Kann sein, dass das stimmt. Aber ich versuche, das nicht zu sehr zu psychoanalysieren. Mein Statement ist, dass wir sichtbar bleiben und für das aufstehen, woran wir glauben.
Die Welt neigt sich immer mehr in eine konservative, regressive Richtung. Ich bin hier, um diejenigen zu repräsentieren, die eher progressive Werte wie Diversität und Inklusion vertreten – und letztlich auch Freude. Ich sehe nicht viel Freude bei Menschen des rechten Flügels. Es gibt auch keine humanitäre Weiterentwicklung in der rechten Bewegung. Ich denke gerne über die Zukunft nach – darüber, wo wir in hundert oder tausend Jahren stehen werden, und wie wir einander akzeptieren und verstehen.
Ich wertschätze diese Haltung und vertrete viele Menschen, die auf dieser Seite der Geschichte stehen. Über das Schreien denke ich also eher instrumentell als psychologisch nach. Überhaupt bin ich bei Kunst sehr pragmatisch, beinahe utilitaristisch. Ähnlich wie Wladimir Majakowski, der Anfang des 20. Jahrhunderts über Agitation und Propaganda für die Werte eintrat, an die er glaubte. Er beging Selbstmord, aber die Leidenschaft für seine Werte ist mir sehr nah.
WELT: Wie ist ihr Verhältnis zu den Menschen in Russland? Sehen sie noch die Werte, für die Pussy Riot steht?
Tolokonnikowa: Ein Politikwissenschaftler sagte neulich: Selbst, wenn die Leute sehen, dass sich etwas ändern muss, haben sie keine Werkzeuge, um das System zu brechen. Sie unterdrücken bewusst oder unbewusst politische Gedanken, machen unpolitische Kunst oder geben sozial verträgliche Antworten. Aber die Geschichte der Diktaturen hat immer wieder gezeigt, wie sehr eine Gesellschaft die Demokratie umarmt, sobald dieser eine psychotische, machthungrige Mensch, der komplett den Realitätssinn verloren hat, verschwunden ist.
WELT: Wie und wann sind Sie zum Protest und zu der damit verbundenen Kunst gekommen?
Tolokonnikowa: Als Kind und Jugendliche waren Bücher meine Freunde. Ich las Philosophie, um die Welt besser zu verstehen. Und ich begriff, dass unser politisches System völlig daneben war. Aber ein Kind kann und darf träumen, und ich war überzeugt, dass Russland Teil von Europa werden würde. Es war auch der Traum meiner Eltern. Als ich 1998 acht Jahre alt war und wir unser erstes Europa-Visum bekamen, reisten wir sofort nach Paris und Berlin. Ich hoffte, Russland würde ein Teil Europas werden und ich nie mehr ein Visum benötigen. Damals herrschte noch Aufbruchstimmung, es gab Anlass zum Träumen und Hoffen. Putin war damals noch kein Vollblutdiktator. Die Stimmung kippte in den Nullerjahren.
WELT: Wie haben Sie und Jekaterina Samuzewitsch sich damals kennengelernt?
Tolokonnikowa: Wir waren Teil eines politisch aktivistischen Kollektivs namens Woina, was Krieg auf Russisch heißt – es stand für Krieg gegen die Institutionen, gegen Putins Regime. Aber wir wollten etwas Feministischeres, also gründeten wir Pussy Riot. Damals wurde Aktivismus gerade sexy. Die Menschen dachten 2011 tatsächlich, sie könnten noch etwas ändern. Das ist heute nicht mehr so.
WELT: Die Menschen in Russland sind abgestumpft?
Tolokonnikowa: Noch schlimmer, sie sind zynisch. Sie kennen das sicher, wenn jemand sagt: Jede politische Macht ist korrupt, man muss gar nicht erst wählen. Viele junge Menschen in Deutschland wählen nicht, und dann bekommt die Rechte mehr Stimmen, weil deren Wähler wählen gehen.
WELT: Erinnert man sich in Russland an Pussy Riot und deren Werte?
Tolokonnikowa: Manche Leute folgen mir auf Social Media, aber es ist schwer zu sagen, wie Kunst sie tatsächlich beeinflusst. Neulich stieß ich auf einen Post, auf dem eine Frau aus Sibirien auf ihrem Balkon protestierte und dabei eine Pussy-Riot-Sturmhaube trug. Ich hoffe, dass sie in Sicherheit ist. Normalerweise sehe ich so etwas in anderen Teilen der Erde, wo Kids gegen ihre eigenen Probleme protestieren. Aber das ist jetzt zu gefährlich in Russland. Letztlich wünschte ich, dass alle, die denken wie ich, das Land verlassen – man wird dort einfach nirgendwo aufgefangen, wenn man weglaufen will. Es ist beängstigend.
Ich kenne Ilja Jaschin, den jungen Oppositionspolitiker, der eine Haftstrafe von achteinhalb Jahren verbüßt. Obwohl er die Chance hatte, zu fliehen, entschied er sich bewusst für das Gefängnis und sagte: Das ist mein Land, ich gehe nicht! Das ist Heldentum und ich respektiere jedes bisschen davon. Aber wenn es um mich geht, möchte ich mein Leben nicht verschenken. Dein Leben ist alles, was du hast.