Es war im Oktober 1973, bei Ausbruch des Jom Kippur-Krieges, als die Tänzerin und Choreographin Noa Eshkol beschloss: „Dies ist keine Zeit zum Tanzen“. Einer ihrer Tänzer war in das 19 Tage währende Blutvergießen eingezogen worden, das mehrere arabische Staaten initiiert hatten – und Eshkol, geboren 1924 im Kibbuz Degania Bet südlich des See Genezareth, hatte ein ausgeprägtes Gefühl für Gemeinschaft und Zusammenhalt, das sie angesichts des Gewaltausbruchs innehalten ließ. Im selben Moment begann sie ihre neue, sehr zurückgezogene Tätigkeit, die aber auch wieder in der Gruppe entstand: Aus Stoffresten, die die Tänzer ihrer Chamber Dance Group aus Fabriken und Schneidereien zusammentrugen, nähte sie Wandteppiche von so dynamischer, knallfarbiger Ornamentik, dass man sie auf den ersten Blick nie mit dem minimalistischen Tanzstil in Verbindung bringen würde, mit dem Eshkol Choreographiegeschichte geschrieben hat.
Gemeinsam mit ihrem Mann, dem Architekten Avraham Wachman, hatte sie 1958 das Eshkol-Wachman-Notationssystem entwickelt, das nicht nur den Tanz revolutionierte, sondern bis in medizinische Bereiche vordrang: Die extreme Verlangsamung von Bewegungsabläufen schenkt jedem Körperteil Beachtung und schärft so die Selbstwahrnehmung. Manche ihrer Tänze dauern nur zwei Minuten. Frei von Kostümen, Erzählungen und Bühnenbildern, allein zum Takt eines Metronoms, wirken sie wie pure Meditation. Inspiriert von Moshe Feldenkrais, dem Erfinder der gleichnamigen Bewegungsmethode und in Vorwegnahme der postmodernen Tanztendenzen, die sich bald am berühmten Judson Dance Theater in New York entwickeln sollten, wurden extreme Reduktion und die so entstehende Aktivierung des Raumes zu Eshkols zentralen ästhetischen Elementen. Den Weg dafür hatte in den Zwanzigerjahren die Palucca-Schule in Dresden bereitet, deren jüdische Leiterin Eshkols Lehrerin Tile Rössler war. Gret Palucca, die berühmte Tänzerin und Bauhaus-Muse, hatte ihr mit der Machtergreifung der Nazis 1933 linientreu gekündigt, woraufhin Rössler nach Israel emigrierte und noch im selben Jahr ihre eigene Tanzschule in Tel Aviv eröffnete – ganz so, als hätte sie sich Paluccas Worte zu eigen gemacht: „Das ganze Geheimnis besteht darin, jede Situation für das eigene Ziel auszunutzen.“
Wie sehr Noa Eshkols Schaffen mit der Historie ihres Heimatlandes verbunden ist, liegt nicht nur daran, dass ihr Vater Levi Eshkol 1914 aus der Ukraine in das damalige Völkerbundsmandat für Palästina emigrierte, dort den Kibbuz mitbegründete, in dem sie aufwuchs und ab 1963 Israels dritter Ministerpräsident war. Auch dass sie 1953 ein Stück zum zehnjährigen Gedenken an den Aufstand im Warschauer Ghetto entwickelte, macht klar, dass ihr, obwohl sie Politik nie thematisiert hat, die Belange Israels am Herzen lagen. Man sieht es auch an den Stoffresten, die sie ihren Wandteppichen einschreibt: Sie sind eine liebevolle Hommage an die Häuser und Menschen ihrer Umgebung. Eshkol belässt die Fundstücke unverändert und entwirft daraus Bilder voller Bäume, Pflanzen, Wälder, Wirbel und Abstraktionen, die eine Art textile Bestandsaufnahme des Alltags in Israel sind, zugleich aber auch die Ornamentik der islamischen Kultur anklingen lassen. Man entdeckt darin brave Spitzendeckchen und wolkig-braune Sofabezüge, Apfelbettwäsche für Kinderzimmer, blumige Küchengardinen und festliche Kleider aus Samt und Satin. Was in seiner Kompositionskraft beinahe wirkt wie die halluzinogene Welt des deutschen Expressionismus und entfernt an Sigmar Polkes textilaffinen Nachkriegsbiedermeierpop erinnert, entsteht bis wenige Jahre vor Eshkols Tod 2007 in ihrem Wohnhaus in Cholon in mühevoller Handarbeit, in der vor allem eins spürbar ist: Die Liebe zum Leben und zum Miteinander.
Obwohl sie rund 1800 Wandcollagen anfertigt, stellt Eshkol sie zu Lebzeiten kaum aus. Während ihre Tanzmethode in der ganzen Welt berühmt wird und sie dafür sogar ein eigenes Forschungszentrum an der Universität Tel Aviv gründet, wo sie ab 1972 eine Professur innehat, kommen ihre textilen Werke erst seit rund zwölf Jahren ans Licht einer breiteren Öffentlichkeit – was ihnen einen Touch von Outsider Art verleiht. Dank der amerikanischen Künstlerin Sharon Lockhart, die auf einer Recherchereise nach Israel auf Eshkols Arbeiten stieß und ihr eine Fotoserie widmete, wurde deren Galerie neugerriemenschneider auf sie aufmerksam. Tim Neuger und Burkhard Riemenschneider reisten von Berlin nach Cholon, besuchten die Stiftung und verloren keine Zeit: Seit 2013 arbeitet die Galerie eng mit Eshkols Archiv zusammen und vertritt den Nachlass der Künstlerin, die seitdem in großen Ausstellungen zu sehen ist – zuletzt in Berlin im Kolbe Museum und in den Kunst-Werken letztes Jahr anlässlich ihres 100. Geburtstages. Aus diesem Grund zeigen auch neugerriemenschneider an ihrem Standort im Berliner Pfefferberg 22 Arbeiten in der Ausstellung textile traces (bis 15. März). Wie Quilts in der Größe von King-Size-Betten hat die Künstlerin Stoffstücke zu landschaftlich-floralen Formationen collagiert, deren leuchtende Präsenz einem den Atem raubt. Es sind Bilder wie Träume, voller Zuversicht und Menschlichkeit. Manche sehen aus wie Spuren wirbelnder Drusentänze und entfalten eine planetarische Sogkraft, die den Galerieraum regelrecht zum Schwingen bringt. Andere scheinen auf den singulären Körper zugeschnitten, variierend in Länge und Breite, so wie jeder Mensch unterschiedlich gebaut ist. In einem Raum hängen sie von der Decke wie ein Ensemble bereit zum Tanz, leuchtend bunt und geometrisch gemustert mit Elementen, die sich teils wie Körperteile ausnehmen. Sie geben die Sicht auf die Vernähungen an den Rückseiten frei, die zeigen, wie konzentriert hier Hände und Finger am Werk waren. Am Eindringlichsten sind die Großformate im Hauptraum mit Eshkols Collagen aus mystisch aufgeladenen Bäumen und Landschaften. Die Auffälligste ist ein rund zwei mal drei Meter großes Bild mit dem Titel Geula’s Tree von 1990. Die gemusterten Stoffe sind so zusammengesetzt, dass daraus ein fruchtbeladener Baum in Orange, Rot und Gelb entsteht – ein Zeichen der Verwurzelung und der Hoffnung, das in seiner symmetrischen Opulenz in den ganzen Raum ausstrahlt.
Trotz ihrer Farbenpracht war die Herstellung solcher Arbeiten für Eshkol stets ein Vertiefen und Zurückziehen ins Innere, in die eigene Intuition, befreit von allen Intellektualismen, wie sie die Künste der Nachkriegszeit vielfach bestimmten. Was als Antwort auf den Jom-Kippur-Krieg begann, um buchstäblich Ausschnitte aus der sie umgebenden, nicht minder zerteilten Welt in Bilder zu transformieren, die etwas Großes und Ganzes vermitteln, wurde zu einem eigenständigen Werk. Eshkol fand darin Kontemplation und einen visuellen Filter für das, was in ihrem Tanz kaum erkennbar war: Die Freude an Fülle und Farben – und an einem Leben in Gemeinschaft, die ihren Geist bis heute in die Welt hinausträgt.