Dass der israelische Pavillon auf der letzten Biennale in Venedig die ganze Zeit geschlossen bleiben würde, hätte Ruth Patir nicht gedacht – und doch war es die Bedingung der israelischen Künstlerin: Solange die Geiseln des 7. Oktober 2023 nicht befreit wären und es keinen Waffenstillstand in Gaza geben würde, sollte man ihre groß an gelegte Videoinstallation (M)otherland nur von außen durch die Scheiben sehen können. Dem Publikum entging damit der wohl wichtigste und zugleich auch eindringlichste Beitrag einer Biennale, die den »globalen Süden« feier134 te und Aufrufe zum Boykott des israelischen Pavillons gestattete.
Nun hat das Jewish Museum in New York Patirs Arbeit gekauft, wo sie 2025 präsentiert werden soll. Erstmals öffentlich gezeigt wird (M)otherland vorher noch im März im Tel Aviv Museum of Art, dessen leitende Kuratorin Mira Lapidot mit ihrer Schwester Tamar Margalit vom CCA Tel Aviv-Yafo den israelischen Pavillon betreut hat. Die fünf Videos zeigen digital animierte Tonfiguren antiker Fruchtbarkeitsgöttinnen, wie sie von Archäologen vor der Küste Israels gefunden wurden. Patir nutzt Motion-Capture- Technologien und Aufnahmen ihrer eigenen Körperbewegungen, um die Figuren – vom handlichen Format auf Lebensgröße geblasen – durch Wartesäle und Kliniken zu schicken, wo sie auf ihren Smartphones scrollen und sich Hormone spritzen. Sie geben den Blick auf die Geschichte ihres Landes frei, das Social Freezing und künstliche Befruchtung fördert wie kaum ein anderes, aber auch auf das persönliche Leid der Künstlerin: Patir entschied sich, ihre Eizellen einzufrieren, da bei ihr eine Mutation des BRCA-Gens festgestellt wurde, die die Wahrscheinlichkeit, an Brustkrebs zu erkranken, immens erhöht. »Ich war überwältigt davon, wie die staatliche Politik in diesen Fruchtbarkeitskliniken zur Schau gestellt wird und dass sich die Gebärmutter dort anfühlt wie ein technisches Instrument«, so Patir über ihre Arbeit. »Als ich dort war, fühlte ich mich wie ein Gefäß. Meine Erfahrung zu dokumentieren, schien mir das einzig Richtige zu sein.«
Das fünfte Video, das unmittelbar als Reaktion auf die Angriffe vom 7. Oktober und den darauffolgenden Krieg entstand, zeigt die Figuren, wie sie – teils in Stücke zerbrochen – an einem Trauerzug teilnehmen, schwankend vor Wut und Trauer. Unterlegt von immersivem Sound, gehörten die Videos, wie man durch die Glasscheiben schon erahnen konnte, zu den bewegendsten Momenten der ganzen Biennale, was jedoch während der Preview im von den Veranstaltern geduldeten propalästinensischen Protestgebrüll zeitweise unterging. Dem hielt Patir im April 2024 ein Statement auf Instagram entgegen: »Wenn mir eine so bemerkenswerte Bühne gegeben wird, möchte ich sie nutzen. (...) Ich lehne einen kulturellen Boykott entschieden ab. Aber da ich das Gefühl habe, dass es keine richtigen Antworten gibt und ich nur das tun kann, was ich mit dem mir zur Verfügung stehenden Raum eben tun kann, ziehe ich es vor, meine Stimme mit denen zu erheben, die ich in ihrem Ruf nach ›Waffenstillstand jetzt, holt die Menschen aus der Gefangenschaft zurück‹ unterstütze.« Die Künstlerin hat ihre Entscheidung nicht bereut. In ihrem ersten Interview nach der Biennale sagte sie der »New York Times«: »Es gibt einen Moment, in dem du selbst die Macht bist. Du musst nicht so handeln, wie die Macht zuvor gehandelt hat, sondern so, wie du willst, dass die Macht handelt.« Auf der Biennale werden Kunstwerke in Nationalpavillons als offizielle Beiträge der Länder gezeigt – ein Prinzip, das die Künstlerin zugleich nutzte und aushebelte. »Ich habe mich geweigert, während eines verheerenden Krieges und eines anhaltenden Geiseldramas an dieser Plattform teilzunehmen. Aber das heißt nicht, dass ich das Gefühl habe, keine Kunst machen zu dürfen, oder finde, dass man sie nicht in ande- ren Zusammenhängen sehen sollte.« Immer wieder sei sie gefragt worden, ob der Pavillon immer noch geschlossen sei, obwohl sich an der politischen Situation nichts verändert hatte. »Ich hätte wirklich nicht gedacht, dass dies so bleiben würde.«
Dass (M)otherland nun erstmals in Israels ältestem Kunstmuseum gezeigt wird, ist auch deshalb so berührend, weil der Platz daneben seit den Attentaten zum »Hostage Square« geworden ist: Dort versammeln sich regelmäßig Freunde und Angehörige der Geiseln, um die Regierung zu einem Freilassungsabkommen zu bewegen. Tatsächlich ist die Aktualität von (M)otherland kaum zu übersehen: Die Tatsache, dass Israel massiv in Fruchtbarkeitsförderung investiert, hat ihren Ursprung auch in der Schoah – und die ist nun einmal ein Hauptgrund, warum Israel heute überhaupt existiert.