Wenn es einen roten Faden in der Kunst von Sheila Hicks gibt, dann den, dass ihr Faden immer anders aussieht: je nachdem, aus welchem Garn sie ihn spinnt und welche Farben sie kombiniert. Mal wird ein dickes Wollknäuel daraus, mal bilden Hicks’ Fäden eine haarige Kaskade oder ein zartes Geflecht.
Über 50 Jahre lang arbeitete die in Nebraska geborene heute 89-jährige Bildhauerin im Schatten der etablierten Kunstgeschichte. Begonnen hatte sie mit ihrem Studium an der Yale-Universität bei Joseph Albers. Der 1933 aus Deutschland in die USA geflohene Bauhaus-Meister dehnte mit seiner revolutionären, weil Licht, Textur, Größe und Material mitdenkenden Farbenlehre die Wahrnehmung von Malerei auf die Umgebung aus und ebnete der Farbfeldmalerei, Pop-Art und Minimal Art der 1950er- und 1960er-Jahre den Weg. Robert Rauschenberg, Donald Judd und Kenneth Noland hatten bei Albers am Black Mountain College studiert, in Yale unterrichtete er Eva Hesse und Richard Serra – und eben Sheila Hicks.
Doch anders als ihre Kommilitonen begann sie, sich auf Textilien und präkolumbische Kunst zu spezialisieren. Inspiriert hatte sie eine Abbildung peruanischer Mumienbündel, die sie in der Klasse von George Kubler sah, dem einflussreichen Historiker lateinamerikanischer Kunst, aber auch Albers’ Frau Annie, die mit ihrer Werkstatt für Weberei schon am Bauhaus in Dessau gefeiert wurde. Hinzu kam, dass Hicks, deren Familie in der Wirtschaftskrise von einem Ort zum anderen gezogen war, als Kind jeden Sommer in ihre Geburtsstadt Hastings zurückkehrte, wo ihre Großtanten ihr Spinnen, Nähen und Weben beibrachten.
Im Jahr 1957 erhielt Hicks ein Fulbright-Stipendium, um Webtechniken in den chilenischen Anden zu recherchieren. Von dort aus bereiste sie den Kontinent und vertiefte sich in dessen textile Traditionen. Wo andere Albers-Absolventen in die New Yorker Szene eintauchten, zog Hicks 1959 ins ländliche Mexiko, wo sie fünf Jahre blieb.
Fasziniert von lokalen Flecht- und Färbetechniken und in Kontakt mit dem Architekten Luis Barrágan, der für seine minimalistisch-knallfarbenen Bauten bekannt war, entwickelte sie eine Bildsprache, die in völlig neuer Form uraltes Kunsthandwerk, meditative Geisteshaltung, abstrakte Malerei und die weichen, raumgreifenden Formen der Postminimal Art miteinander verwob.
Wie innovativ und inklusiv sie vorging, als sie später auch Textiltechniken aus Japan, Indien, Südafrika, Marokko und Saudi-Arabien mitbrachte, verstand damals kaum jemand: Schließlich eignete sie sich nicht nur fremde, volkstümliche und vor allem von Frauen ausgeübte Tätigkeiten an, sondern bat auch um Interaktion: Draufsetzen, Anfassen oder In-die-Architektur-Einarbeiten, so, wie sie es 1969 mit ihren 19 Wandpaneelen aus handgestickter weißer Seide für die Business-Class der Boeing 747 von Air France tat, machen klar, dass Hicks keine Berührungsängste hatte, weder mit Industrie und Kommerz noch mit Spiritualität und Folklore.
Dies (und sicher auch ihr Umzug nach Paris 1964, wo sie seither lebt) verstellte ihr allerdings den Weg in die damals aktuellen Diskurse der Männerdomänen Minimal Art und dessen softeren Ausläufer Postminimalismus. Hatte Frank Stella einst das lakonische Motto „What you see is what you get“ ausgerufen, um mit seinen monochromen Leinwänden bloß keinen Illusionismus zu triggern, fand Hicks, die Farbe nie ohne Material und Kontext dachte: „Textil ist eine universelle Sprache. In allen Kulturen der Welt spielt es eine bedeutende und essenzielle Rolle.“
Aus derart ethnologischer Perspektive zu sprechen, war für die Formalisten von damals ein No-Go. So passt es zu Hicks’ Grundverständnis, dass sie in den späten 1970er-Jahren Tausende Blusen von Krankenschwestern zu einer riesigen Collage verwob: Trotz aller reduzierter Abstraktion ist ihre Kunst nicht nur sozial, sondern muss zutiefst humanistisch verstanden werden. In diesem Sinn ist sie das Gegenteil der Kunstbewegungen der Nachkriegszeit, die zwar die körperliche Kunstwahrnehmung schärfen wollten, sich aber scheuten, dabei auf den Menschen mit all seinen Belangen zu schauen.
Hicks realisierte später zahlreiche architekturbezogene Auftragsarbeiten, etwa einen Wandbehang für das Restaurant in Eero Saarinens New Yorker Firmensitz von CBS sowie ein monumentales Wandrelief aus Seidenmedaillons für die Ford Foundation. Und sie beriet den Möbelhersteller Knoll in Textildesign. Eine Außenseiterin war sie also nicht, zumal auch andere Künstlerinnen anfingen zu spinnen: Die Polin Magdalena Abakanowicz, die noch bis zum 21. Mai 2023 eine großartige Retrospektive in der Tate Modern hat, kreierte in den 1960ern und 1970ern riesige, dunkeldichte Abstraktionen aus Wollfäden, die wie Geister im Raum hängen. Und Ruth Asawa, die ebenfalls bei Albers am Black Mountain College studiert hatte, nutzte Metallfäden für ihre schwebenden Webskulpturen, die an japanische Fischfangnetze und Lampions erinnern. Auch diese Künstlerinnen kamen bis in jüngster Vergangenheit in keinem Kunstlexikon vor.
Hicks ist erst seit gut zehn Jahren wirklich sichtbar – in einem lange nur westlich geprägten Kunstbetrieb, der heute ohne globale Weltwahrnehmung nicht mehr auskommt. Zu weit war sie ihrer Zeit voraus: Mit einer leuchtenden, sich immer wieder neu entfaltenden Farbpalette, die an Stoffe aus Südamerika und Indien denken lässt, ist sie nicht nur eine Mittlerin zwischen Bauhaus-Moderne und Gegenwartskunst, sondern auch zwischen Malerei, Skulptur, Handwerk und Architektur – und zwischen Kulturen, die sie über Kontinente hinweg verknüpft. Inzwischen hat sie auf der Biennale von Venedig ausgestellt, wurde mit einer Retrospektive im Centre Pompidou gefeiert und hat gerade eine Einzelausstellung im Kunstmuseum St. Gallen. In Deutschland gab es bisher noch keine institutionelle Soloschau.
Stattdessen zeigt nun die Berliner Galerie Meyer Riegger eine Präsentation, die einem musealen Auftritt in nichts nachsteht. Beinahe die gesamte Bandbreite ihrer Werke aus Wolle, Synthetik und Flachs ist hier zu sehen – von der handlichen Flechterei über fröhliche rote Wollwürste bis hin zu himmelblauen, durchs Fenster hinauswuchernde Stoffstreifen, gegen die Robert Morris’ minimalistische Filzbehänge wie Trauerschleifen wirken. Es ist diese haptische Qualität, mit der Hicks alle Wahrnehmungsebenen spielend erobert. Abstraktion und Erzählung, Farbe und Körper, Erlebnis und Reflexion werden eins.
„Hände, Augen und Hirn bilden das magische Dreieck“, hat sie vor einigen Jahren gesagt. „Es setzt sich aus Leidenschaft, Herz und Intellekt zusammen, und ist untrennbar von deinen Zeiten und deinen emotionalen Erfahrungen.“ Es mögen solche Statements sein, die Hicks auf ihre große museale Würdigung in ihrem Geburtsland USA noch warten lassen, schließlich tut sich der westliche Kunstbetrieb mit einer ganzheitlichen Perspektive immer noch schwer. Und doch kosten Hicks’ Werke heute zwischen 40.000 und 400.000 Euro: Preise, die sogar Berliner Privatsammler zahlen – und die sich Museen bald nicht mehr leisten können.