Thomas Ruff
/ Die Welt

Ein konzentrierter Mao Tse-tung beugt sich im Zugabteil über ein Blatt Papier. Im grauen Mantel, den Stift gezückt, hat er die Unterarme auf das weiße Spitzendeckchen gelegt, auf dem eine golden verzierte Porzellankanne und so etwas wie ein Zuckerdöschen steht. Auch der Schutzbezug des Sessel-Kopfendes ist weiß, ebenso wie das am Tisch festgeschraubte Milchglaslämpchen in Fackelform. Der Große Vorsitzende im Schnellzug: sauber, sicher, pflichtbewusst, selbst in der spießigen Behaglichkeit des Erste-Klasse-Abteils im Dauereinsatz für das Volk. Und doch: Etwas stimmt nicht. Die Fotografie im Großformat ist seltsam verschwommen, genauer gesagt: von groben Pixeln durchzogen. Sie gehört zu der neuen Werkserie tableaux chinois des Künstlers Thomas Ruff, die derzeit im K20 in Düsseldorf und seit dieser Woche auch in der Galerie David Zwirner in Paris zu sehen ist. Wir finden dort auch das klassische Mao-Porträt, wie es schon Andy Warhol in eine Pop-Ikone verwandelt hat, ebenso wie einen friedlich sinnierenden Mao auf einer Parkbank unter blauem Himmel mit Wölkchen. Außerdem gibt es Blumen, Tuchtänzerinnen und emsige, Karren schiebende Arbeiter. Die Welt könnte nicht vollkommener sein.

 

Ruffs neue Arbeiten entstammen dem Konvolut eines chinesischen Propagandamagazins, das der Künstler vor einiger Zeit in Paris erworben hat: „La Chine“ war von den Fünfziger- bis Siebzigerjahren Chinas weltweit angepriesene Werbezeitschrift. Sie wurde mehrsprachig produziert und ließ die Volksrepublik so glücklich und strahlend aussehen, dass es nicht zum Aushalten war. Wenn Ruff daraus nun einzelne Motive wählt, sie scannt und groß aufzieht, um so die Halbtonpunkte des Offsetdrucks sichtbar zu machen, das Bild anschließend dupliziert und die Punkte in Pixel umwandelt, die dann schichtweise auf den ursprünglichen Scan gelegt und teils wieder entfernt werden – so entsteht daraus ein Spiel aus analog und digital, Geschichte und Gegenwart, Kitsch und Coolness. Ruff konfrontiert uns nicht nur ostentativ mit der überbordenden Geschmacklosigkeit, mit der China offenbar dachte, die westliche Welt von seinem gloriosen System überzeugen zu können, sondern er fasst auch die beiden Pole des Landes zusammen, wie wir es heute sehen: Auf der einen Seite die ewige kommunistische Partei, wie sie seit Maos Zeiten Märchen erzählt, auf der anderen der immense digitale Fortschritt, mit dem das Land gerade dem Westen den Rang abläuft – nur zum Wohle des Volkes, versteht sich. 

 

Der sogenannte Becher-Schüler Ruff, der schon lange nicht mehr selbst zur Kamera greift, sondern vielmehr ein Konzeptkünstler geworden ist, der ganze Archive medialer und historischer Bilder analysiert und transformiert: Er kommt mit diesen 2019 entstandenen Bildern im richtigen Moment. Das Thema China hat seit Beginn der Pandemie mehrere Runden durch die globale Image-Arena gedreht, vom Virusverbreiter zum Allesproduzenten, der die gesamte Welt komplett von sich abhängig gemacht hat, bis hin zum perfekt durchorganisierten und von diversen Demokratien unverhohlen bewunderter Spionagestaat, der sein Land schneller und kompromissloser in den Lockdown schickte als alle anderen und deshalb nun als Vorbild gilt, Zwangsarbeiterlager hin oder her. 

 

„Die Ausstellung im K20 sollte eigentlich schon letztes Jahr im April eröffnen. Als dann aber Covid kam, dachte ich: Das geht nicht, die Leute schauen auf Bilder aus China nur noch durch die Brille des Virus“, sagt Thomas Ruff im Gespräch. „Zur späteren Eröffnung im September war Corona dann aber schon so alltäglich, dass man es nicht mehr sofort China assoziiert hat. Jetzt kann man mit normalem Blick auf diese Bilder schauen und ihre verschiedenen Aspekte würdigen.“ Man spürt: Ruff hat eine kindliche Freude an der inszenierten Glückseligkeit, die seinen Vorlagen zugrunde liegt. „Ich interessiere mich schon lange für Propagandafotografie. Aber die Chinesen haben es einfach geschafft, so unglaublich viel Kitsch dort hineinzubringen. Scheinbar herrscht dort ein Bedürfnis nach Kitsch! In ihrer schönen Perversität fand ich diese Art von Bildern schon immer faszinierend.“ Seine Begeisterung bekam dann vor 15 Jahren noch einen Schub, als er an ein Buch über Mao Tse-tung gelangte. „Das waren einfach die großartigsten Fotos von Mao, total retuschiert und glatt. Diese Art von Schönheitspropagandafotografie hat mir sehr imponiert.“ Von dem besagten Werbemagazin – zu deutsch „China im Bild“ – hatte Ruff bereits in den Neunzigerjahren eine einzelne Ausgabe entdeckt, als er an politischen Montagen arbeitete. Vor zwei Jahren konnte er dann ein ganzes Konvolut der französischen Version in Paris kaufen, das ihn zu seinen aktuellen Arbeiten inspirierte. „Irgendwann habe ich angefangen, damit zu spielen und bin auf die Idee mit den Pixeln gekommen: Historische Propagandabilder mit einer digitalen Struktur zu überlagern. Ich fand diese Kombination irgendwie absurd: Technologisch ist China auf dem gleichen Niveau wie der Westen, aber ideologisch steckt es noch immer in den Sechzigerjahren. Diese Schizophrenie wollte ich versuchen herauszuarbeiten.“ Herausgekommen sind Sinnbilder des perfekten Überwachungsstaats: in jeder Hinsicht künstlich und frei von jeder Rechtschaffenheit. Also eigentlich so wie jede Propagandafotografie. 

 

Warum Ruff sich ausgerechnet China vorgenommen hat, und nicht etwa Amerika? Wahlkampf und überhaupt alles, was für die USA Werbung macht, sieht dort ja nicht erst seit Trump aus wie eine im Weichzeichner ertränkte Bad-Taste-Reality-Show. Ruff winkt ab. „Diese Bilder sind mir viel zu hässlich.“ 

 

Für jemanden wie ihn, der Medienbilder gegen die eigene Fotografie eingetauscht hat, müssten dann aber doch zumindest die Handyfotos interessant sein, die gerade im Sturm auf das Kapitol in Washington entstanden sind. Einige davon wurden augenblicklich zu Ikonen eines gespaltenen Landes, zu Symbolen einer unterirdischen Präsidentschaft, die für Hass und Lügen stand und mit den sozialen Medien eine ganz eigene Propagandamaschinerie betrieb. Den Bildern aus dem Kapitol, auf deren mediale Wirkung Trump gesetzt hat, um den nächsten Protest anzustacheln, dürften dort genauso gehuldigt werden wie dem sterilen Mao-Kitsch in Pekings Partei. Sind Selfies also nicht die Propaganda des Digitalzeitalters? „Viele Bilder, die heute politisch genutzt werden, sind klein, sie zirkulieren nur im Internet“, sagt Ruff. „Sie werden nie groß gedruckt und haben somit eine andere Qualität, mit der ich momentan noch nichts anfangen kann.“ Tatsächlich haben seine Arbeiten – von abstrahierten Pornobildern bis hin zu Marsoberflächen – stets eine malerische Qualität, nicht nur aufgrund ihres großen Formats. Die Bildausschnitte sind sorgsam gewählt und kommen Kompositionen gleich, die einen Inszenierungswillen voraussetzen, der nur über Fläche funktioniert. Fotografie wird bei Ruff zu etwas anderem, auch da die Person, die sie gemacht hat, gar keine Rolle spielt – wenn es denn überhaupt eine Person war und nicht etwa eine Satellitenkamera.

 

Bei all der Beschäftigung mit den Bildern, die uns umgeben: Vermisst der Künstler – der gerne in einem Atemzug mit Andreas Gursky und Thomas Struth genannt wird: den anderen Düsseldorfern, die in den Neunzigern die Fotografie endgültig in den Kunststatus und vor allem in den Markt katapultierten – vermisst Ruff es nicht, selbst auf den Auslöser zu drücken? „Ach, wenn es sein muss, kann ich das schon“, sagt er auf diese nonchalant-bescheidene Art, wie sie Menschen an sich haben, die anderen schlichtweg nicht mehr beweisen müssen, wie gut sie sind. „Aber in den letzten Jahren gingen meine Untersuchungen einfach in eine andere Richtung, bei der ich vorhandenes Bildmaterial benutzt habe. Ich bin zu wenig kameraverliebt, als ich meine Kamera andauernd auf bestimmte Dinge richten muss. Wenn es andere besser können, überlasse ich den Job lieber denen.“