Andro Wekua
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Andro Wekua macht aus Skulpturen und Gemälden ziemlich gruselige Raumcollagen. Nun zeigt er eine neue Albtraum-Vision in London

Welt am Sonntag – 26. Oktober 2014

Pink ist keine warme Farbe. Man spürt es, wenn man die Londoner Galerie Sprüth Magers betritt: Der Fußboden ist mit einem knallrosa Teppich ausgelegt, um den herum die klinisch weißen Wände wie Kühlelemente wirken. Auch vor dem Schaufenster ist eine Wand eingezogen. Der Galerieraum wird zur Kältezelle, in der eine adoleszente, androgyne Silikonpuppe mit dem Kinn an einer Glasplatte aufgehängt ist. Ab und zu zuckt ihr rechter Arm, der linke ist in eine Metallprothese eingefasst, vom Rücken schlängeln sich elegant drei schwarze Kabel herab. Silberne Turnschuhe, schwarzes Kleidchen, lange blonde Haare – man könnte meinen, hier habe ein Cyborg Suizid begangen.

Tatsächlich dreht sich bei dem Künstler Andro Wekua alles um ein Leben, das es nicht mehr gibt; das nur noch in der Erinnerung existiert, von der man nicht weiß, was Wahrheit ist und was Fantasie. Seine Kindheit verbrachte er im georgischen Sochumi, einem populären Ferienort, der sich in den Achtzigerjahren unter der russischen Miliz in einen Kriegsschauplatz verwandelte und heute eine halbe Geisterstadt ist. Sein Vater, der in der Unabhängigkeitsbewegung für Demokratie und Menschenrechte kämpfte, wurde 1989 ermordet. Mit der Mutter zog er nach Tiflis und emigrierte 1995 in die Schweiz – da war Wekua gerade 18 Jahre alt.

All das bildet den Teppich zu seinem Werk, in dem Skulpturen, Filme und Gemälde zu rätselhaften Raumcollagen verschmelzen. Und wenn dieser Teppich nun buchstäblich als pinkfarbene Auslegeware daherkommt, wie überhaupt Rosa, Rot und Violett Wekuas Palette dominieren, so ist das nicht einfach nur als Farbe zu verstehen – sondern als emotionaler Tonwert, in dem sich eine kitschig-kalte, latent gewalttätige Stimmung manifestiert. Flankiert von einer Miniatur der Puppe, die auf einem Wolf aus Bronze reitet, sowie von einer Handvoll Gemälde, die eine Art krude Ikonenmalerei in expressive Halbabstraktionen überführen, entsteht ein süßlich-mystischer Sci-Fi-Surrealismus, der das Ganze zu einem innenarchitektonischen Albtraum macht.

Für diese Grammatik kennt man Wekua spätestens seit 2006, als er an Massimiliano Gionis Berlin Biennale teilnahm. Seitdem bedient er Markt und Museen allerdings nur sparsam dosiert; man bindet die eigenen Befindlichkeiten ja auch nicht jedem gleich auf die Nase. Es hat etwas für sich, wenn sich ein Künstler auf große Einzelausstellungen beschränkt, etwa im Brüsseler Wiels, im Kasseler Fridericianum und in der Kunsthalle Wien, bevor 2011 die Nominierung für den Preis der Nationalgalerie für Junge Kunst folgte. Nun feiert Wekua Premiere bei Monika Sprüth und Philomene Magers, bei zwei Galeristinnen, die gerade von einer internationalen Jury für das Magazin "Art Review" auf Platz elf der 100 wichtigsten Persönlichkeiten im Kunstbetrieb gewählt wurden.

Was nun in ihrer Londoner Galerie hängt, ist eine Verwandte der entpersonalisierten Figuren, die Wekua sonst gern auf gekachelten Podesten, Designerstühlen oder Motorrädern platziert. Teilnahmslos, träge und wie in einem futuristischen Labor zurechtmodelliert, oft kombiniert mit Fotokopie-Collagen und Gemälden mit Sowjetarchitektur, Berglandschaften, scharfkantigen Schatten und purpurnen Sonnenuntergängen, fungieren sie als Stellvertreter gelebter und geträumter Flashbacks, die immer wieder leicht verändert in ähnlichen Stücken auftreten. Die konkrete autobiografische Deutung ist dabei nur ein Aspekt von Wekuas Werk. Seine Jugenderlebnisse erklären vielleicht, warum er pubertierende Puppen baut oder sich bei seinen Konstruktionen vage an Aufnahmen von verlassenen Hotels und Bauruinen aus Sochumi orientiert. Überführt ins poetisch-psychologisch Unbestimmte wird daraus eine faszinierende Erinnerungsarbeit, die sich allein aus losen Fragmenten speist.

Die Figuren sitzen auf Bühnen, aber sie erzählen keine Geschichten. Es sind Gespenster, eingesperrt in einen Raum, der "mit Qualitäten aufgeladen ist, der vielleicht auch von Phantasmen bevölkert ist", wie Michel Foucault 1967 über Architektur mit Gedächtnis schrieb. Wekua baut diese Räume selbst und füllt sie mit einer Künstlichkeit, die schon mal bis zu einem knallrosa Teppich reichen kann. Im Grunde muss man Wekuas Werk als Kippbild verstehen – zwischen Ost und West, Pathos und Pop, Folklore und Science-Fiction. Das georgische Kino von Sergei Parajanov, der mit dem Sechzigerjahre-Kultfilm "Die Farbe des Granatapfels" die Ästhetik religiöser Riten in ein hyperästhetisiertes, symbolistisches Tableau vivant überführte, ist darin enthalten. Ebenso wie die nebligen Traumbilder von Odilon Redon oder Motive des Slasher- und Horrorgenres à la "Halloween", "Freitag der 13." und "Nightmare on Elm Street". Tatsächlich wirkt Wekuas Figur in London wie das "Final Girl", wie es die Filmtheoretikerin Carol Clover analysiert: die Begegnung der letzten Überlebenden mit dem Serienkiller, die mit dem Griff zur Waffe eine "phallische Appropriation" durchläuft und dabei androgyne Züge annimmt. Auch andere Künstler wie Peter Doig orientierten sich an diesem Motiv, bevor der Horrorfilm Ende der Neunzigerjahre Mainstream wurde.

Und so steht Wekua in einer Linie mit Künstlern, die durch psychedelische Environments den Illusionsraum des Tafelbildes – oder der Kinoleinwand – ins Dreidimensionale kippen und die Galerie zum Bilderrahmen machen. Stolperte man in den Sechzigerjahren plötzlich in die seltsamen Kulissen von Claes Oldenburg oder Edward Kienholz hinein oder sah die lebensgroßen Puppen von George Segal, Duane Hanson und John De Andrea, stand man später bei Mike Kelley und Robert Gober in Installationen, die auf Kindheitsängste und Teenager-Albträume verweisen. Heute sind es Kai Althoff, Gregor Schneider, Cathy Wilkes und Thomas Zipp, die den Besucher durch Situationen schleusen, in denen Puppen, Masken, Kostüme und Möbel ein geisterhaftes Eigenleben führen.

"Das Unheimliche", schrieb Sigmund Freud 1919, ist "jene Art des Schreckhaften, welche auf das Altbekannte, Längstvertraute zurückgeht", und sich, wieder aufgetaucht, "durch die Verdrängung in Angst verwandelt". Bei Wekua dient das Unheimliche weniger der Effekthascherei, wie bei diversen Gruselkünstlern der Gegenwartskunst, sondern als stille Syntax einer Sinnstiftung, die sich nicht rational erschließen lässt. Wenn also das "Final Girl" dabei ziemlich "Pretty in Pink" aussieht, ist das nur auf den ersten Blick eine schnöde Brücke zu Barbie. Denn Pink ist bei Wekua vor allem eines: die Farbe des Granatapfels.

© Gesine Borcherdt