Plötzlich Online
/ Welt am Sonntag

Keine drei Jahre ist die Pandemie her, und doch hat man sie beinahe vergessen: All die plötzlich auftauchenden digitalen Kunsträume, die nervten, irritierten, abstießen – und die zugleich zeigten, was auf einmal alles möglich war: Online Viewing Rooms, virtuelles Storytelling, Vermittlung via Apps, Zoom und Social Media – und das alles in einem Gewerbe, das eigentlich mit traditionellen Werten operiert und auf den analogen Kontakt zwischen Werk und Betrachter ausgerichtet ist. Bis Corona waren virtuelle Vermarktungsstrategien zwar in Vorbereitung, aber keineswegs selbstverständlich. Im Kunstmarkt wurde mithilfe von Staatsgeldern zwar digital aufgerüstet, damit Skulpturen, Malerei und Videos weiterhin gesehen und gekauft werden konnten, ohne dass man sich vom Sofa erheben musste. Doch nachdem nun alle wieder normal atmen können und tausende Kunstmenschen für Galeriewochenenden und Messen, um die Welt reisen, anders als gelähmt, hämisch oder angsterfüllt vorhergesagt: Was ist von den virtuellen Maßnahmen geblieben? Wie sehr und mit welchen langfristigen Methoden hat sich der Kunstmarkt auf den Bildschirm und auf das Display verlagert?

 

Schaut man sich auf den Webseiten von Kunstmessen wie der Frieze Art Fair oder der Art Basel sowie auf denen der Giga-Galerien Hauser & Wirth, Zwirner, Pace und Gagosian um, so fällt vor allem eines auf: Sie bieten eine enorme und erstaunlich hochwertige Menge an Inhalten – von kunsthistorisch fundierten Artikeln über Videos mit Atelierbesuchen, Ausstellungsrundgängen und Experteninterviews bis hin zu hochkarätig besetzten Podcasts: All das sind Tools für sogenanntes Storytelling, die, trotz des schrecklichen Worts, in ihrer Aufmachung sehr informativ, attraktiv und zeitgemäß wirken. Sie haben Ausstellungen, Messepräsenzen, hauseigene Magazine oder Künstlerkataloge nicht ersetzt. Aber der virtuelle Raum hat bei ihnen eine Präsenz erreicht, die aus dem Auftritt und dem Image dieser Global Player nicht mehr wegzudenken ist – einerseits, um eine jüngere Generation als Klientel zu erreichen, andererseits, um zu demonstrieren, dass die digitale Welt der realen Kunsterfahrung nicht im Wege steht; zumal in einer Ära, in der ein Großteil der spannendsten jungen Kunst am Computer entsteht. Selbst die glamouröse Atmosphäre mancher Kunstevents lässt sich seit der Pandemie am Smartphone erleben: Christie’s und Sotheby’s streamen inzwischen ihre Auktionen, so dass man von zu Hause aus mitfiebern kann. 

 

Wie sehr sich der Kunstmarkt digital ausgerichtet hat, kann man dem von der Art Basel und UBS lancierten Global Art Market Report von 2021 entnehmen: Die Einnahmequelle über rein digitale Auftritte hat sich in dem Jahr um 7 Prozent auf 13,3 Milliarden US-Dollar erhöht, etwa 20 Prozent der Verkäufe fanden online statt; im Vergleich zu 2019 war das mehr als das Doppelte. Zwar war Corona damals noch nicht vorbei – doch als Umsatzquelle hat sich die digitale Vermarktung fest etabliert.

 

Vor allem große Galerien und Messen haben nicht aufgehört, in Online-Strategien zu investieren und Personal für Programmierung, Mediendesign und Analysen einzustellen. Und wer sich derzeit die Stellenausschreibungen für Kunsthistoriker ansieht, trifft, ob man es mag oder nicht, immer öfter auf Positionen im Bereich digitales Marketing und Content Management, mit denen auch Museen mit der Zeit gehen wollen.

 

Doch nicht immer müssen derlei Aufgaben im selben Haus erfolgen. Wer Hilfe braucht beim Erstellen ansprechender Videos oder bei der Analyse und Strategieberatung von Webseiten und Social Media, kann sich an Agenturen wenden, die sich unter anderem auf den Kunstbereich spezialisiert haben. Hauptakteur ist hier Boros, der im deutschsprachigen Raum der größte Anbieter für die Außenwirkung von Kunst und Kultur, dessen enge Kontakte in die Kunstwelt auch für potente Unternehmen attraktiv sind. Doch auch kleine Agenturen wie Artbeats in Berlin bieten mit „Video Advertorials, Digitorials und VR-Erfahrungen“ Lösungen für designaffine Kunden aus dem Kunstsektor an – mit dem Auktionshaus Villa Grisebach etwa kollaboriert die Firma für Videoproduktionen auf der Webseite und auf Social Media, deren Inhalte das Haus wiederum selbst entwickelt. Die Agentur Culture Shifts hat sich auf die „Konzeption und Produktion von Medieninhalten“ im Kunstbetrieb spezialisiert, was in erster Linie klassische PR-Beratung bedeutet, zu der auch Digitales zählt. Programmiert wird hier allerdings nicht – so wie überhaupt Informatik-Kompetenzen nicht unbedingt zum Portfolio kunstaffiner Agenturen zählen. 

 

Eine kleine Firma, die alle virtuellen Angebote unter einen Hut bringt – von Programmierung von Webseiten über Texte, Grafik und Videos bis hin zu Online-Marketingstrategien, Analysen und Social Media – ist treat aus Wien. Gegründet wurde sie 2012 von dem Wirtschaftsinformatiker und Kunsthistoriker Istvan Szilagyi. „Wir arbeiten interdisziplinär, sind also nicht nur technisch versiert, sondern kennen uns auch sehr gut im Kunstbetrieb aus.“ Noch bevor die Art Basel im ersten Lockdown erstmals Online Viewing Rooms präsentierte, hatte treat mit befreundeten Galeristen aus Wien schon eine eigene virtuelle Messe mit nur zehn Teilnehmern entwickelt, die unter dem Namen „Not Cancelled“ bald auch in Frankreich, Osteuropa, Japan und Brasilien Schule machte. Heute berät treat die Art Basel in Sachen Webseitenverkehr: Aus welchen Ländern kommen die Klicks und was wird angeschaut? In welche Themen und Sprachen soll die Messe entsprechend investieren? Auch entstehen Videos mit Ausstellungsdokumentationen und Experteninterviews, etwa für die Berliner Galerie Wentrup und für das Auktionshaus Karl & Faber – die Inhalte werden gemeinsam erörtert. Ganzheitlich berät treat die Wiener Secession. „Der neue Vorstand nimmt die Digitalisierung bezüglich Zielgruppen, Bildungsauftrag und Sammlungsarchiv sehr ernst. Wir setzen die neue Webseite samt Podcast und Social Media-Marketing strategisch und analytisch um.“ 

 

Dennoch sind nicht alle Akteure im Kunstbetrieb online-affin. Viele Galerien bewegen sich digital genau da, wo sie vor Corona standen. Und auch viele Auktionshäuser haben Käufer jenseits der 50, die gerne ins Haus kommen und analog kaufen. Was bei kleineren Händlern durchaus sympathisch erscheint, wirkt bei einem Frachtschiff wie der Art Cologne schwerfällig und unzeitgemäß. Die Webseite der „ältesten Kunstmesse der Welt“ wirkt tatsächlich genau wie ihr Claim: altbacken und staubig, im lethargischen, ewig gleichen Grau-Rot, dem Auftritt der Sparkasse zum Verwechseln ähnlich. „Die Art Cologne hat sich dem digitalen Wandel, wie ihn andere Messen und Galerien vollzogen haben, weitgehend versperrt“, sagt Szilagyi. „Es gab während der Pandemie halbherzige Online Viewing Rooms, die nur per Einladung sichtbar waren – davon sieht man keine Spur mehr, als hätte es das nie gegeben.“ Die Leute kaufen aber trotzdem Kunst, könnte man jetzt sagen, die sind doch froh, dass alles wieder analog zugeht. Wozu da noch an solchen Hilfsmaßnahmen festhalten? „Die jungen Leute brauchen das Digitale. Wer langfristig denkt, kann das nicht ignorieren. Wie sonst will man die neue Generation zum Sammeln bewegen? Es ist ja nicht die Aufgabe der Museen zu erklären, warum man Kunst kaufen soll. Das machen die Art Basel, die Frieze und die internationalen Großgalerien, aber in Deutschland kümmert sich niemand darum.“ 

 

Tatsächlich setzen die ganz jungen Galerien, die praktisch ohne Budget agieren, vor allem auf Social Media – mehr noch als auf die eigene Webseite. Aber auch ein altgedienter Händler wie Brett Gorvy legt das Handy auf Messen kaum aus der Hand, um seinen Kunden sein Angebot klassischer Moderne auf seinem Instagram Account zu zeigen – der übrigens 153.000 Follower hat. Wenn man bedenkt, dass die Gagosian Gallery auf 1,5 Millionen und die Art Basel auf 2,3 Millionen Follower kommt, erahnt man die Macht einer digitalen Präsenz, mit der potentiell die Schwellenangst zur Kunst und somit auch zum Kunstkauf abgebaut wird. Entsprechend sind die Geschäftsmodelle, die sich an die neue digitale Selbstverständlichkeit anschließen, aus dem Kunstmarkt nicht mehr wegzudenken. Sie bieten eine Chance, neben den kommerziellen Interessen der Akteure auch deren Bildungsauftrag auszudehnen und mehr Menschen mit Kunst zu erreichen. Wie viele davon zu Sammlern werden – vor allem zu solchen, die auf Qualität und Langfristigkeit setzen – wird sich zeigen. Doch die Produktion von Wissen über Kunst, die heute mit Online-Maßnahmen entsteht, hat schon jetzt eine Reichweite, die bis vor wenigen Jahren unvorstellbar war.