Künstler wider Willen: Die Berliner Galerie Lehman zeigt Polaroids von Horst Ademeit
Die Welt, 30. März 2013
Horst Ademeit war ein Künstler wider Willen. Obwohl – zwischendurch wollte er ja einer werden. Nur kam er mit seinen braven Stillleben und Aquarellen in der Klasse von Joseph Beuys nicht so gut an, der Meister beschimpfte seine Arbeit als „Kunstgewerbe“. Woraufhin Ademeit, geboren 1937 in Köln, gelernter Anstreicher und Textildesigner, aufgewachsen zwischen Waisenhaus, Pflegefamilie und Kinderheim, erst verschnupft in die Pädagogik wechselte und sich schließlich als Arbeitsloser mit Renovierungsarbeiten über Wasser hielt.
Mit fünfzig bezog er eine Sozialwohnung im Düsseldorfer Stadtteil Flingern – und fand sein Lebensthema: die Kältestrahlen. Was sonst nur Batman-Fans kennen, deren Held gegen die Frostsalven eines rachsüchtigen Mr. Freeze ankämpft, umspinnt von nun an Ademeits Leben als unsichtbares Terrornetz: Gefährliche Kälte, die unbemerkt in Wohnungen eindringt, dort Insekten zum Erstarren und Hautkrankheiten zum Ausbruch bringt. Sie strömt aus Matratzen, Supermarkt-Einkäufen und Schlagzeilen der BILD-Zeitung, aus Fahrradschlössern, parkenden Autos, Kanaldeckeln und Sperrmüll.
Ademeit dokumentiert alles minutiös per Polaroidkamera. So entstehen rund zehntausend „Tagesfotos“ und „Observationsbilder“: Die einen säuberlich arrangierte Aufnahmen, auf denen Kompasse, Geigerzähler und Thermometer wie Beweismittel zwischen Zeitungen, Krimskrams oder leeren Packungen auf dem Küchentisch drapiert sind. Die anderen teils verwackelte, teils präzise geschossene Momentaufnahmen von verdächtigen Hinterhöfen, Baukränen und Straßenkreuzungen, von aufgekratzten Hautstellen, Ausgüssen und Spinnen in Zimmerecken. Selbst der Inhalt der heimischen Toilettenschüssel steht unter Verdacht.
Seine Aufnahmen umrankt Ademeit dicht mit winziger Schrift wie auf mittelalterlichen Miniaturen, die bruchstückhaft die Bedrohung in Worte fasst – es scheint, als traute Ademeit den Bildern nicht, wenn er schreibt „steht jetzt eine große alte Kühltruhe auf Parterre erst hat dieser Eckbau jahrelang leer gestanden!“ oder „dicker Zeh wird von der Zeh rechts wird von der Haut rechts im großen Hühnerauge abgestoßen“. Um sich vor dem „Widersacher“, wie er diese Übermacht einmal genannt hat, zu schützen, entwickelt er nach Experimenten mit Magneten und Heilkräutern schließlich Kügelchen im Durchmesser von acht Millimetern – was dem Durchmesser der menschlichen Pupille entspricht – und steckt sie sich in diverse Körperöffnungen. Noch Fragen?
Höchstens die, weshalb man darüber im Kunstmarktteil schreiben muss. Ganz einfach: Bei aller bürokratischer Biederkeit, die Ademeits Protokollen innewohnt, trotz aller spießbürgerlich überspannten Paranoia, die seinen Blick auf vermeintliche Banalitäten lenkt, ist Ademeits Welt ein Paralleluniversum, wie es im besten Sinne auf die Kunst zutrifft. Was medizinisch unter Zwangsneurose firmiert, mündet in eine stringente, systemimmanente Ästhetik, die einerseits der seriell angelegten Konzeptkunst von On Kawara oder Hanne Darboven nicht unähnlich ist, andererseits die Tradition der Street Photography evoziert. Zudem erinnert sie mit ihren Strategien des Archivierens und Dokumentierens an eine quasi-wissenschaftliche Spurensuche, wie sie seit den Neunzigern von Künstlern wie Mark Dion oder Gabriel Orozco betrieben wird.
All das dürfte in weiter Ferne an Ademeit vorbeigezogen sein. Doch dass er Kompositionsgespür besitzt, ist unverkennbar – die Zeichensysteme, in denen er denkt, münden bei ihm ein bildnerisches Potential, das in seinem Aberwitz künstlerische Qualität entfaltet. Ademeits Chronogramme erinnern an das zeitungstapezierte Büro des Mathematikers John Nash, gespielt von Russell Crowe in „A Beautiful Mind“, der in der Welt eine einzige große Verschwörung sah, die es aufzudecken galt.
Die künstlerische Komponente von Ademeits Obsession erkennt auch der Arzt des Seniorenwohnheims, in das Ademeit 2008, zwei Jahre vor seinem Tod, übersiedelt. Als seine Wohnung von einer Mitarbeiterin geräumt wird, übergibt sie ihm die Säcke mit Polaroids, die er dankenswerterweise an die Kölner Galeristin Susanne Zander weiterleitet: Ein Jahr später stellt sie die Bilder aus und holt Ademeit aus seiner hermetisch abgeriegelten Nische.
Zander hat sich den kreativen Geisteskranken verschrieben, wie die Kunstwelt sie seit einigen Jahren unter dem Titel „Outsider Artists“ für sich entdeckt hat. Schon in den Viezigerjahren prägte Jean Dubuffet den Begriff „Art Brut“ für die Werke manischer Eigenbrötler, die am Rande der Gesellschaft jenseits jeder akademischen Ästhetik vor sich hin werkeln. Seit knapp zwei Jahren widmet ihnen der Hamburger Bahnhof die Ausstellungsreihe „Secret Universe“, die mit Ademeit ihren Anfang nahm.
Nun ist er in der Berliner Galerie Gebrüder Lehmann zu sehen: Die Polaroids sind hier schwarz gerahmt im abgedunkelten Raum aneinandergereiht. 850 Euro pro Stück sind kein hoher Preis für Kunst, die in ihrer Nicht-Intention besser ist als Vieles, das heute gern unter Berufung auf Marcel Duchamp einfach als Kunst tituliert wird aber nicht so aussieht. Doch bisher gehen Ademeits Bilder nur in kleinen Serien an Institutionen, die sich auf OutsiderKunst spezialisiert haben. Trotz ihrer delikaten Feingliedrigkeit, ihrer gestalterischen Konsequenz und poetischen Dimension werden Einzelstücke praktisch nicht verkauft, schon gar nicht an private Sammler.
Vielleicht fürchten die, sich mit Ademeits Blick auch gleich seine Krankheit mit ins Wohnzimmer zu holen. Denn spinnt man den Bogen mit den Outsidern einmal weiter und gemeindet jede Form von akribisch betriebenen Obsessionen in die Kunst ein, dann ist auch jemand wie der hochsensible Kannibale Hannibal Lecter aus „Das Schweigen der Lämmer“ ein Künstler, ebenso wie der gesuchte Killer, der übergewichtigen Frauen die Haut abzieht und sich daraus Kleider näht. Doch in seiner Besessenheit hat Ademeit nie das Leben anderer gefährdet, sondern sich nur selbst in einen Wahn gesteigert, der ebenso faszinierend wie ungesund war – so wie viele andere Künstler auch: Etwa Bas Jan Ader, der auf der Suche nach dem Rätsel der Welt den Pazifik in einer Nussschale überqueren wollte und seitdem verschollen ist. Oder der Dauerexzentriker Martin Kippenberger, der sich bei seinem Berserkertum tot soff. Und Marina Abramovic, die sich bei einer Performance in Neapel fast erschießen ließ.
Dass Ademeit sich selbst nicht als Künstler sah, macht sein Werk nicht weniger groß. „Ich war und bin letztlich darüber erstaunt, dass diese Bilder ein so weites Interesse auslösen konnten, denn im Ursprung war alles eigentlich nur ein Registrieren, Fotografieren, Tatsachen-Anerkennen zum eigenen Schutz“, schrieb er kurz vor seinem Tod an Susanne Zander. Gestorben ist Ademeit zwar an Krebs. Doch es scheint, als wäre er bei seiner jahrelangen Jagd auf Kältestrahlen einfach verglüht.