Alle zwei Jahre findet in der Hauptstadt die Welt-Kunstschau Berlin Biennale statt. Zuletzt war das oft öder Sozialkundeunterricht. Jetzt macht ein Kurator aus Mexiko die Schau wieder interessant.
Die Welt – 30. Mai 2014
Fast hatte man die Hoffnung auf eine interessante Berlin Biennale schon aufgegeben. Eine, die uns wie zuletzt Massimiliano Gionis Ausgabe von 2006 etwas darüber erzählt, wie Künstler heute über die Welt nachdenken und uns an seltsame Orte führt, ohne dabei auszusehen wie ein Demonstrationscamp, unfertige Renovierungsarbeiten oder einfach so, dass man sie hinterher sofort wieder vergessen hat. Auch von der 8. Berlin Biennale wird man einiges vergessen. Unter anderem, warum man die Hoffnung schon fast aufgegeben hatte.
Denn der diesjährige Biennale-Leiter Juan A. Gaitán, Kurator kanadisch-kolumbianischer Abstammung, ist von Mexiko-Stadt eigens an die Spree gezogen, wo er sich Berlin auf eine Weise genähert hat wie keiner seiner Vorgänger. Plötzlich geht es nicht mehr um die Lücken zwischen Ost und West. Es müssen keine Brachflächen mehr durchwatet und leerstehende Großgebäude auf morschen Treppen mehr erstiegen werden. Auch die Museen von der Touristenmeile sind passé. Stattdessen irrlichtert das Biennale-Publikum nun in den fernen West-Berliner Wohnbezirk Dahlem und landet in den alteingesessenen, halb vergessenen Institutionen der Stadt: Erst in der Idylle vom Haus am Waldsee, dann im Sechziger-Jahre-Klotz der Ethnologischen Museen – dem geistigen Epizentrum der Schau.
Der alte Westen im Blick
Der Traditionsstandort der Biennale, die Kunst-Werke in Mitte, will also diesmal von Westen aus erschlossen werden. Warum? Nun, weil der Parcours von den Schätzen des Kolonialismus über die frühere Industriellenvilla zum White Cube der ehemaligen Margarinefabrik den Leitgedanken dieser Biennale wiedergibt: Wieso sehen wir Kultur eigentlich immer noch durch das Auge des 19. Jahrhunderts? Wie wird sie seitdem definiert und präsentiert? Und wie spiegelt sich das in dem Bild, das eine Metropole im 21. Jahrhundert von sich abgeben will? Mit Blick auf die Tatsache, dass die Dahlemer Sammlungen im Jahr 2020 auf die Museumsinsel umziehen – in eine Kopie des Stadtschlosses, also einer imperialistischen Repräsentationsarchitektur – fragt man sich tatsächlich, was derlei Rekonstruktion von Geschichte eigentlich über unsere Zeit aussagt. Und Berlin bildet da keine Ausnahme.
Deshalb ist es auch unwichtig, dass viele der 53 Biennale-Künstler vorher keinerlei Bezug zur deutschen Hauptstadt hatten. Noch nie kamen so viele von ihnen aus Ländern wie dem Libanon, Pakistan, Nigeria, Kuba, Kolumbien, Südafrika oder Australien. Ganze 80 Neuproduktionen sind entstanden, die an allen Standorten so luftig präsentiert sind, wie man es auf Biennalen sonst kaum noch gewohnt ist. Und obwohl praktisch alle Arbeiten um das Thema Vergangenheit kreisen, macht sich kaum Nostalgie breit, wenn auch punktuell der spröde Charme eines Geschichtsseminars oder eine Idee von Folklore herüberschwappt.
Fetische als Requisiten
Gerade in Dahlem war die Gefahr groß, dass Eskimomalereien oder aztekische Fetische zu Requisiten junger Kunst werden, die hier in eigens freigeräumten Trakten zu sehen ist. Und tatsächlich geht es nach hinten los, wenn die Mexikanerin Mariana Castillo Deball ihre Gipsrepliken mesoamerikanischer Fundstücke am Boden ausbreitet oder Carsten Höllers Beleuchtungsgewitter auf Vitrinen mit präkolumbianischen Goldfiguren einprasselt.
Die besseren Werke der Ausstellung lassen jedoch die Finger von direkten Bezügen zur Sammlung und transportieren die Methoden der Geschichtskonstruktion in die Gegenwart. Zum Beispiel Wolfgang Tillmans: Er hat in seinem Raum die Erklärungstafeln des Hauses einfach hängen lassen und ihnen Vitrinen mit einem Riesenturnschuh und Fotos von menschenleeren Abfertigungsbereichen auf Flughäfen zur Seite gestellt – ein Bezug zwischen Text und Bildern stellt sich automatisch ein, und vor dem inneren Auge hat man plötzlich Expeditionen in nuklear kontaminierte Yeti-Zonen. Ähnlich ist Rosa Barbas Film "Subconscious Society", in der der Blick über menschenleere Speicherarchitektur in Wasser und Wüsten schwebt, eine Art postzivilisatorischer Kommentar auf unsere Zeit, den man beim Durchwandern der weitläufigen Museumsräume im Hinterkopf behält.
Slawen und Tataren
Auch der Biedermeier-Charme vom Haus am Waldsee fühlt sich plötzlich etwas anders an, wenn Mathieu Kleyebe Abonnenc, geboren 1977 in Französisch Guyana, hier sein Fotoinventar afrikanischer Objekte und dabei gleich die eigene Familiengeschichte ausgebreitet. Ein Stockwerk höher hat der Schwede Matts Leiderstam seine kopierten Ölportraits von Unbekannten in depotartigen Sperrholzgestellen verteilt. Man kann diese Konfrontation belehrend finden, ebenso wie die Sound-Installation des eurasischen Duos Slavs & Tatars, die draußen in einem Grashügel sitzt: Der Ruf des Muezzin, den Atatürk in den Deißigerjahren auf Türkisch übersetzen ließ, ertönt hier gerade laut genug, um die Nachbarn nicht aufzuwecken. Doch für Zeigefinger-Provokation, die auf Exotismus, Bildungsbürgertum und Kulturrevolution verweist, sind die Arbeiten dann doch zu verstiegen und ihre Botschaften nicht laut genug. Eher meint man, jemand hätte im Haus eine versteckte Tür geöffnet, von der es nun kühl durch die Stube weht.
Leise ist es auch in der großen Halle der Kunst-Werke, wo zahllose kleine Zeichnungen von Irene Kopelman Wände und Vitrinen spicken. Die Argentinierin arbeitet gerade an der Seite eines Forschungsteams im Dschungel von Panama und befasst sich mit dem Kampf ums Dasein anhand von Lianen oder der Fauna, die an Schiffsrümpfen über den Kanal geschippert wird. Ihre Beobachtungen abstrahiert sie fast bis ins Nichts, dessen Qualität sich allerdings eher durch die Idee der akribischen Arbeit dahinter erschließt. Die poetische Kraft, die viele solcher Arbeiten erst auf den dritten Blick entfalten, gelingt der Portugiesin Leonor Antunes ganz direkt; ihr Raum im ersten Stock ist wohl der eindrücklichste dieser Biennale: Zierliche Ledernetze, Seile und Holzspiralen hängen hier wie ein Memorandum an Eva Hesse von der Decke, in dessen Komposition das Handwerk eines indigenen Stammes Brasiliens ebenso eingeschrieben ist wie das modernistische Glashaus der Architektin Lina Bo Bardi in Sao Paolo. Mit minimalen Mitteln entsteht hier ein Parcours durch die Ferne, wie man ihn im Grunde mit der gesamten Biennale abläuft.
Niemand vermisst die Malerei
Es ist diese überaus komplexe und zugleich offene, spielerisch reduzierte Ästhetik, durch die das Thema Kolonialismus nicht zum Karneval der Kulturen wird und seine Aufbereitung nicht zur archäologischen Streberhöhle. Die Frage nach Wissensproduktion, wie sie im 19. Jahrhundert in Europa eingeführt wurde und sich nach wie vor behauptet, ist für Akademiker zwar alter Wein in neuen Schläuchen – postkoloniale Studien und Bildwissenschaften sind diesen Themen mit Claude Lévi-Strauss und Aby Warburg längst auf der Spur. Doch die Transformationsprozesse, die die Künstler mit ihren eigenen Blicken und Biografien hier leisten, wollen mit der Wissenschaft gar nicht konkurrieren; es geht um ästhetische Modelle, die dem Verortungsdrang einer global orientierten Generation Ausdruck verleihen.
War die letzte Biennale Tagespolitik im Protestgewand, kommen die besseren Arbeiten dieser Ausgabe mit den Denkmechanismen der Gegenwart ins Gespräch, die noch immer als identitätsstiftend und sinngebend gelten. Malerei sucht man dabei übrigens vergeblich, doch vermisst sie auch nicht. Stattdessen sorgen die suggestiven Filme von David Zink Yi oder Patrick Alan Banfield über unberührte Natur und ihre Eroberung für ein Grundsummen der Schau, das der Idee des Kurators auf eine Weise in die Hand arbeitet, die den Künstlern mehr Raum lässt als ihm selbst. Nicht alle können damit umgehen. Aber an die anderen wird man sich erinnern.
© Gesine Borcherdt