Gemalte Bauchschmerzen
/ Welt am Sonntag

Der Künstler Bernhard Martin war schon mal ganz oben. Dann stürzte er ab. Jetzt ist er wieder da. Was er malt, ist für alle zu viel. Warum man seine Arbeiten trotzdem unbedingt sehen muss.

Welt am Sonntag, 16. August 2015

Eigentlich hat Bernhard Martin alles richtig gemacht. Mit 16 Jahren war er der Jüngste, der jemals an einer Kunstakademie aufgenommen wurde. In Kassel, wo er aufgewachsen ist. Später zog er nach Barcelona, wo ihm das Geld ausging und er Zwiebelsuppe gegen Bilder tauschte. In den Neunzigern stellte er in New York drei Schränke in eine Galerie: In den ersten baute er eine Single-Disco ein, in den zweiten einen Sandstrand mit Solarium und in den dritten eine Table-Dance-Bar. "Damals war die Transparenz der Architektur das große Thema. Aber ich wollte wieder Privatheit herstellen. Das war mein Durchbruch. Kurz darauf hatte ich eine Schau im MoMA PS1", sagt Bernhard Martin stolz. Er spricht ins Telefon, auf einer Landstraße in Südfrankreich. Hier hat er Empfang. Denn das Gemäuer, das er sich für seinen Sommerurlaub gemietet hat, ist von der Außenwelt abgeschnitten. Sich abnabeln – im Grunde ist das schon das ganze Bernhard-Martin-Prinzip: Gegen den Trend arbeiten. Autark bleiben.

Zehn Jahre lang, in denen er von der glamourösen Großgalerie Ropac in Salzburg und Paris vertreten wurde, lief er sehr gut damit. Seine Leinwände waren schrille, postmoderne Collagen mit geometrischen Interieurs, barbusigen Seifenblasengirlies, Comic-Köpfen und Airbrush-Ästhetik, die auch von zehn verschiedenen Malern stammen könnten. Parallel entstanden Installationen, die aussahen, als hätte man die Bilder einfach in den Raum gekippt. Martin nahm auf lässige Weise das vorweg, was später in Matthias Weischers brav gepinselten Wohnzimmern und Martin Eders lustigen Kätzchenbildern nach dem immergleichen Rezept weichgespült wurde. In der Ausstellung "Deutschemalereizweitausenddrei" war er einer der 61 Künstler, mit denen Nicolaus Schafhausen im Frankfurter Kunstverein den neuen Trend zur Figuration zusammenfasste. Die Generation der zwischen 1965 und 1975 Geborenen sollte in den kommenden Jahren den Kunstmarkt mit neoromantischen Symbolwelten für Rekordsummen befeuern.

Bernhard Martins Bilder wurden ans Museum of Modern Art verkauft, an die Deutsche Bank, die Sammlung Thyssen-Bornemisza und Gloria von Thurn und Taxis. Seine Fans mochten diesen seltsamen, sperrigen, pornösen Pop, der immer auch ein bisschen Romantik war, aber niemals nur Masche, dafür frei von pseudointellektuellem Pathos und platter Ironie. Während Neo Rauch und Daniel Richter Routine entwickeln, setzt Martin immer wieder eins drauf. Seine Szenen werden noch deftiger, noch sexistischer, noch eklektizistischer. Die artigen Kompositionen von Eberhard Havekost, Tim Eitel und Norbert Bisky überholen ihn von rechts, doch Bernhard Martin ist das egal. Als alle Turnschuhe tragen, kauft er sich Rolex und Siegelring und lässt sich im weißen Anzug in Davos ablichten. Schließlich kauft er sich in Brandenburg ein Schloss – und da kippt seine Bühne.

Das Schloss brennt ab. Die Versicherung zahlt nicht. Bernhard Martin sitzt auf einem Schuldenberg. Er flieht nach London, ins Eastend, in eine Bruchbude mit Ofenheizung. In dieser Zeit kippt auch seine Malerei. Aus der Ärmlichkeit entstehen Bilder, die alle vor den Kopf stoßen. Auch seinen Galeristen Thaddaeus Ropac. Zwei, drei Jahre lang wartet der auf das Ende dieser Phase, dann stellt er die Bilder schließlich doch aus, peinlichst berührt vor einer entsetzten Pariser Klientel und landet den erwarteten Flop. 2013 ist das Ende der Zusammenarbeit mit Ropac besiegelt. Doch Bernhard Martin malt weiter. Wenn er jetzt, mit fast 50, den Fred-Thieler-Preis für Malerei erhalten hat, ist das Juroren mit Faible für Schräges zu verdanken, wie Udo Kittelmann und Gerwald Rockenschaub. Und so stellt er nun in der Berlinischen Galerie aus (bis 24. August). Er zeigt die Bilder, die ihn seinen Ruhm gekostet haben. Und ist glücklich und stolz auf sie.

"Ich mache Bilder mit benutzerfreundlicher Oberfläche und benutzerfeindlichem Inhalt. Sie wirken erst lecker, aber dann sieht man die Abgründe." Eigentlich sieht man sie sogar sofort. Martins Leinwände der letzten vier Jahre sehen aus, als hätte jemand versucht, Bauchschmerzen zu malen. Es sind Albträume in Aquarell, hauchzart auf die Leinwand gepudert. Dantes Inferno in Zuckerwatte. Otto Dix auf LSD in Las Vegas. Durch dieses süßliche Sfumato schwebt ein Zombie-Personal zwischen Zwanzigerjahre-Burleske und psychedelischem Futurismus, mit Zylinder, Mieder, Motorradhelm. Es lockt und lechzt, spielt und schlachtet, füßelt nackt unterm Tisch, streckt einem Brüste und Hintern entgegen. Ein Pandämonium, in dem offenbar jemand Filmszenen von Quentin Tarantino nachmalen wollte und bei Dalí gelandet ist. Genau das will Bernhard Martin: "Meine Bilder sehen immer aus wie etwas oder jemand, aber sie sind es nicht", erzählt er. "Sie lösen Assoziationsketten aus, die in einer Sackgasse enden. Es sind Fakes. Geschichten finden nicht statt."

Was er in der neuesten Serie anreißt, soll an Szenen im Hotel erinnern. An der Bar, in der Lobby, im Schlafzimmer und im Restaurant. "Im Tourismus wird einem eine künstliche, heile Welt vorgegaukelt. Alle sind Selbstdarsteller, aber sie produzieren nichts. Doch ich werte nicht, will nichts schlechtmachen", erklärt Bernhard Martin. Er weiß, dass er malen kann. Besser als alle anderen. Nur dieser Bruch, diese bewusste Geschmacklosigkeit, hält außer ihm selbst keiner aus. "Ich begründe wie in der Renaissancemalerei meine eigene Mythologie. Ich male nicht den Speisesaal, sondern dessen Psychologie", freut er sich.

Martin schwelgt gern in seinem Können, ist begeistert von seiner überbordenden Fantasie und handwerklichen Virtuosität. Seine Worte sind keine Witze, sondern spiegeln sich auf fast schon tragische Weise in den Bildern. Es ist die Banalität, dieses simple Surreal-Vulgäre, ohne intellektuellen Dreh oder versteckte politische Botschaft, was praktisch alle Sammler, Kritiker und Galeristen davonlaufen lässt. Was man sieht, ist was man sieht – und das ist eben viel zu viel.

Die Bilder erzählen von Sex, Spiel, Leben und Tod, doch fehlt ihnen der werbemäßig gewiefte Twist eines Jeff Koons oder Damien Hirst für den Wow-Effekt. Es sind kitschige, hässliche, nervtötende Bilder, deren Technik so gut ist wie Bellini und deren Obszönität so saftig wie Balthus. Kein Hans-Ulrich Obrist und keine Ingvild Goetz werden sich je dafür interessieren. Doch Bernhard Martin ist das egal. Er akzeptiert die Ablehnung, hat sogar Verständnis dafür. Er ist auf Galileo-artige Weise überzeugt von dem, was er tut. Und genau diese Beharrlichkeit macht ihn gut. Und nicht nur das. Er ist besser als viele, sehr viele, die gerade Biennalen und Kunstmessen mit Gebilden fluten, die sich in schlauer, symbolisch-politisch interpretierbarer Gefälligkeit dem Konsumenten andienen.

Beim Anblick von Bernhard Martins Bildern schämt man sich fremd. Und trotzdem: Das Inferno auf ihnen ist eines, durch das auch Martin selber geht – freiwillig, abseits und allen Widerständen zum Trotz. Gut möglich, dass er in einer Programmgalerie mit Schwerpunkt auf Männermalerei heute anders dastünde. In einem testosterongeladenen Umfeld, wo Galeristen in der "Paris Bar" auf Tischen tanzen und die Hosen runterlassen, so wie es Martin früher auch schon mal gemacht hat, als er noch den Siegelring trug. Immerhin: Seine Preise zwischen 10.000 und 75.000 Euro sind seit der Wirtschaftskrise 2008 und seiner eigenen nicht gesunken. Doch in der Galerie Thomas Schulte, die ihn netterweise als einzige noch vertritt, sehen seine Bilder aus, als wollte Peek & Cloppenburg die Unterwäsche-Abteilung mal mit einem Dildo-Stand aufmischen.

Andererseits: Was machen eigentlich Martin Eder und Daniel Richter, die Maler der Stunde von 2003? Wie sehr bewegen uns gerade Rauch, Havekost und Weischer? Was sagen uns denn ihre einst so hochgejazzten Bilder heute, in einer Zeit, in der Künstler oft nur ein Rezept entwickeln müssen, aus dem sich eine marktkonforme Marke generieren lässt? Vielleicht sind Bernhard Martins wirklich fürchterliche Bilder genau deshalb wichtig: Weil sie zeigen, wie man als Künstler autark bleiben kann. Authentisch und im eigenen Tempo. Gegen alle Regeln des Kunstmarktes. Und gegen den Rest der Welt.

© Gesine Borcherdt