DRAUSSEN DIE REVOLUTION
art. Das Kunstmagazin – 16. September 2013
Die 13. Istanbul Biennale ist den "Barbaren" gewidmet, jenen Menschen, die sich für die Meinungs- und Glaubensfreiheit einsetzen ungeachtet der Konsequenzen. Doch im Kontext der demonstrierenden Menschen draußen erscheinen die ausgestellten Arbeiten beinah wie Polit-Kitsch.
Die Abrissbirne ist ein grüner Gummiball. Vom Kran herab baumelt er harmlos neben dem Hauptausstellungsgebäude, dieser großen Betonhalle am Hafen, die demnächst weichen muss. Dann schwingt er plötzlich vor und trifft auf die Wand, prallt ab und schwingt wieder zurück. So geht das eine Weile – dann ist wieder Ruhe.
Ayse Erkmen hat damit den wohl treffendsten Kommentar auf das Dilemma der 13. Istanbul Biennale abgegeben: eine trotzige, melancholisch-verspielte Metapher für das Thema Stadt als Raum für Meinungsfreiheit, in den Erdogans Regierung hemmungslos Schneisen für Moscheen und Shopping-Malls schlägt.
Mit der Frage "Mom, am I barbarian", abgeleitet von einem Buchtitel der Dichterin Lale Müldür, wollte die Ausstellung die Kunst von 88 Künstlern und Künstlergruppen als das Andere, Unbekannte, im besten Sinn "Barbarische" in die Stadt hineintragen und dort zu neuem Denken anregen. Darin steckt der Ruf nach Poesie, Demokratie und zivilem Ungehorsam. Das Problem der Biennale ist jedoch, dass dieser Ruf auch ganz ohne Kunst seit dem Sommer durch die Straßen hallt – und zwar genau dort, wo ein gutes Dutzend ortsbezogene Werke geplant waren: im Gezi Park, am Taksim Platz und auf der Istiklal Caddesi.
Eigentlich ein perfektes Szenario für die 25-jährige Biennale eines Landes, das Künstler und Publizisten immer wieder ins Gefängnis wirft. Wo man, als die internationale Kunstwelt 1955 die erste documenta feierte, Kurden, Griechen und Juden aus ihren Häusern jagte. Wo in den Achtzigern die brutale Zensur der Militärjunta florierte. 2007 wurde der Journalist Hrant Dink, der in seiner Zeitung Agos über den Genozid an den Armeniern schrieb, auf offener Straße ermordet – dort, wo die Polizei nun Demonstranten mit Plastikgeschossen vertreibt. Doch die künstlerische Leiterin Fulya Erdemci, die mit ihrem Konzept den urbanen Raum als Ort der Poesie und Meinungsfreiheit zelebriert, verlegte lieber sämtliche Arbeiten nach innen, in privat geförderte Kunsträume. "Wir wollten nicht mit der Erlaubnis von Autoritäten dort ausstellen, wo anderen Menschen die freie Meinungsäußerung verboten wird", erklärt sie. "Die Kunst dort nicht zu zeigen, ist das stärkste Statement, das wir abgeben können."
Eine Absage der Autoritäten an die Biennale hätte glaubwürdiger geklungen, zumal der türkische Kulturminister die Kunst einmal als "Hinterhof des Terrorismus" bezeichnete. Doch nun werden fünf Standorte auf klassisch-institutionelle Weise bespielt, von denen zwei Kunsträume privater Großkonzerne sind: das SALT der Garanti Bank und ARTER des Hauptsponsors Vehbi Koç. Letzterer steht zwar mit Erdogans Regime auf Kriegsfuß und öffnete im Sommer sogar seine Hotels für fliehende Demonstranten. Aber als Produzent von Autoteilen, medizinischer Gerätschaft und Waffen profitiert er wie alle anderen türkischen Sammler und Sponsoren vom neoliberalen Turbokurs des Landes. Die Biennale will er noch bis 2016 fördern, dann eröffnet er sein eigenes Museum. Immerhin: ARTER und SALT liegen mitten auf der Istiklal, wo prompt am Vorabend der Biennale-Preview neue Proteste losbrachen, die die Polizei in einer riesigen Tränengaswolke erstickte. Doch angesichts Erdemcis dialogisch ambitionierten Konzeptes und ihrer euphorischen Schilderungen der Sommerproteste im Vorwort des Katalogs wirkt diese Biennale nun seltsam domestiziert.
Zum Beispiel mit Thomas Hirschhorn: Statt einer Übersichtstafel seiner Projekte im öffentlichen Raum wünscht man sich eine seiner pathetischen, kapitalismusanklagenden Materialschlachten am Ort des Geschehens. Oder Jiri Kovandas legendäre Performance-Fotos: Mit bloßen Blicken und Schritten im Prag der siebziger Jahre wirken sie wie eine Anleitung für das, was mit "Standing Man" bereits am Taksim Platz stattfand. Kunsthistorisch wasserdicht sind auch Gordon Matta-Clarks Fotografien und Filme selbstzerlegter Häuser. Doch auf einer Biennale als Zeitgeist-Schau sind sie nicht nur fehl am Platz, sondern lassen manche jungen Künstler dagegen ziemlich blass aussehen.
LaToya Ruby Fraziers dokumentarische Selbstporträts in der postindustriellen Tristesse Pennsylvanias fügen dem Konzeptkunst-Klassiker nichts hinzu außer einer persönlichen Note. Guillaume Bijls Nachbau eines durchsuchten Künstlerateliers hat etwas von einer Filmkulisse aus Aktenzeichen XY. Und Bertille Baks Dokumentarfilm über Bewohner eines Baukomplexes bei Bangkok, die mit Taschenlampen gegen dessen Sprengung anmorsen – ohne Erfolg, am Ende geht der Bau zu Boden – wäre als Straßenperformance großartig, doch als institutionalisierter Gestus, allein für den Blick des Kunstkonsumenten, wird daraus Polit-Kitsch.
Überhaupt kommt die Ansammlung bekannter westlicher Künstler und neuer Namen aus Mexiko, Palästina oder der Türkei etwas disparat daher. Dass die Haupthalle zudem kuratorisch auseinanderfällt, weil sich Videosounds überschneiden und man zwischen verstreuten Minimal-Assemblagen umhermäandert wie auf einer Messe, die genauso gut in Berlin oder Shanghai stattfinden könnte, lässt sich noch verschmerzen. Doch dass die gesamte Biennale durch fehlende Wandtexte das breite Publikum verprellt, das sie doch mit freiem Eintritt eigentlich einladen will, ist unbegreiflich.
All das heißt aber nicht, dass Erdemci keine guten Werke ausgewählt hätte. Andreas Siekmann und Alice Creischer, die ursprünglich ein abrissfertiges Gebäude hinter dem Taksim-Platz in eine Art Merzbau verwandeln wollten, zeigen nun eine Filmfabel, in der sie Landnahme, Gentrifizierung und Sponsoring von Kunstbiennalen thematisieren – die aber auch als poetisches Rätsel lesbar ist. In der ehemaligen griechischen Grundschule, dem stimmigsten und durch seinen Authentizitätsgehalt dankbarsten Ausstellungsort, haben Elmgreen & Dragset eine dunkle Stube für Tagebuchschreiber eingerichtet, die hierher kommen, Gedanken notieren und wieder gehen. Der Ägypter Basim Magdy versieht eine sanftfarbige Fotostrecke mit subtilen Versen – unter dem Bild zweier Rolltreppen liest man: "We came and we left and nothing changed".
Stimmt. Denn mit ihrem überambitionierten Konzept lässt ausgerechnet diese Biennale die Kunst demonstrativ am Leben vorbeiziehen. Vielleicht hätte es besser funktioniert, wenn Erdemci die Schau nicht so sehr auf das Protestvermögen der Kunst zugeschnitten hätte. Die wenigsten Arbeiten halten es aus, wenn man sie in ein politisches Korsett zwängt; schon gar nicht, wenn draußen rebelliert wird. Immerhin: Ayse Erkmens Ball schwebt über den Dingen – und pocht trotzig gegen die Wand.
© Gesine Borcherdt