Carsten Höllers Ausstellung „Soma“ im Hamburger Bahnhof in Berlin ist spektakulär, unterhaltsam und epigonal
taz. die tageszeitung – 1. Dezember 2010
Berlin hat einen neuen Blockbuster: Carsten Höllers „Soma“ im Hamburger Bahnhof. Die Ausstellung bietet für jeden etwas – weihnachtliche Rentiere für Familien, Theoriejargon für die Kunstszene und ein über allem thronendes Bett für gut Betuchte, die darin für 1.000 Euro übernachten können. Eine Webseite www.somainberlin.de bewirbt das Paket.
Für sein Spektakel ließ der habilitierte Agrarwissenschaftler Carsten Höller (geboren 1961 in Brüssel), der sich auch als Künstler international einen Namen gemacht hat, die ehemalige Bahnhofshalle in zwei Hälften teilen. Jeweils spiegelbildlich wurde ein elegantes Gehege für insgesamt 12 Rentiere, zwei überdimensionale Käfige für 24 Kanarienvögel, zwei Vitrinen für 8 Labormäuse sowie Kühltruhen mit Fliegenpilzen und abgezapftem Rentierurin aufgestellt. Für einen Künstler, der in der Londoner Tate Modern Rutschen gebaut und gerade ein riesiges LED-Lichtfeld in Oostende neu installiert hat, eine ungewöhnlich organische, wenn auch nicht weniger unterhaltsame Inszenierung.
Rausch und Erkenntnis
Ausgangspunkt der Installation ist ein mythischer Trank namens „Soma“. Laut der hinduistischen Gründungsschrift Rigveda nahm ihn ein sibirisches Nomadenvolk im 2. Jahrtausend v. Chr. zu sich, um im Rausch Erkenntnis und Zugang zur göttlichen Sphäre, Glück, Reichtum und Siegeskraft zu erlangen. Im gänzlich durchtechnisierten und säkularisierten 20. Jahrhundert begaben sich emsige Forscher auf die Suche nach der verlustig gegangenen Zusammensetzung dieses Wunderwassers – bis Gordon R. Wasson, Bankier und Hobbymykologe, 1968 einen Forschungsbericht vorlegte, der den Fliegenpilz als entscheidende Basis von „Soma“ nannte. Wasson behauptete, dass dieser durch Urin gefiltert konsumiert wurde – wahrscheinlich durch Urin von Rentieren, die mit den Nomaden lebten. Carsten Höller nimmt nun ein vergleichendes Kunstexperiment zwischen „normaler Welt“ und „dem Reich des Soma“ vor: Auf der einen Seite seines „Tableau vivant“, so darf man mutmaßen, werden Fliegenpilze an die Rentiere verfüttert, deren Urin den anderen Tieren verabreicht wird. Auf der anderen Seite nicht. In dem Höller die Soma-Forschung in die Sphäre der Kunst rücküberführt, will er die Fantasie des Betrachters anregen, der über die halluzinogene Wirkung des Tranks auf die Tiere rätseln und zugleich die Beweiskraft der Wissenschaft hinterfragen soll.
Ein abgegrastes Feld
Doch ist damit der gigantische Aufwand der Schau gerechtfertigt? Wohl kaum. Denn Höller begibt sich mit seinen Rentieren auf ein reichlich abgegrastes Feld, stellt er doch Fragen, die sich die Wissenschaft längst selbst gestellt hat: Können Experimente den Irrationalismus widerlegen? Nein, lautete schon 1927 die Antwort von Niels Bohr, der mit seiner „Kopenhagener Deutung“ der Quantenmechanik die Grenzen der Wissenschaft skizziert und zugleich ihr mythisches Potenzial aufgedeckt hatte: Wie sollte man mit einer rationalen Sprache erläutern, dass Quanten Welle und Teilchen zugleich sein können? Bohr forderte sogar den Rückgriff auf die Lyrik, um diesen neuen, geheimnisvollen Raum zu umschreiben.
In der Folge bekam das Thema Mythos wieder Konjunktur: Claude Lévi-Strauss, Kurt Hübner, Karlheinz Bohrer und Roland Barthes sind nur einige der einschlägigen Autoren, die sich dem Mythos als „Regulator des Verständnisses von Welt und Wirklichkeit“, wie es der kürzlich verstorbene Kunsthistoriker Rolf Wedewer ausdrückte, widmeten. Auch in der Kunst ist der Mythos als Gegenpol zur Aufklärung, die bis heute alles Irrationale bekämpft, oft verarbeitet worden. Es war vor allem Joseph Beuys, der diese Tradition der Modernekritik in eine neue Avantgarde überführte. Seine Skepsis gegenüber dem Fortschrittsoptimismus kulminierte in einer Performance in der New Yorker Galerie René Block 1974, für die er sich mit einem Koyoten – dem in der indianischen Mythologie zentralen Tier – einsperren ließ: So radikal kann man den Verlust von Ganzheitlichkeit deutlich machen. Künstler wie Anselm Kiefer und Matthew Barney führten den Gedanken fort.
Der didaktisch ambitionierte Aufwand, den nun Höller betreibt, wirkt dagegen antiquiert. Bei seinem Versuch, den Mythos mit künstlerischen Verfahren zu analysieren, bleibt er in einer durchdesignten Laborästhetik stecken, die sich modisch interaktiv gibt. Dadurch wirkt Höllers „Soma“ eher wie die gleichnamige Droge aus Aldous Huxleys Roman „Schöne neue Welt“ von 1932, in dem die Menschen alles fröhlich mitmachen. Die Schau verhält sich wie die Lightversion des archaischen Tranks, der Weisheit und Erkenntnis brachte, was Kunst ja gleichfalls leisten will und kann – sofern sie es denn kann.
© Gesine Borcherdt