Alles fliesst. Claude Parent bei Esther Schipper
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artnet – 21. Februar 2012

Architekturzeichnungen auszustellen, dürfte eigentlich kein besonders lukratives Geschäft sein. Wer kauft schon gern Gebäudeskizzen? Trotzdem widmet die Galerie Esther Schipper den Entwürfen des französischen Architekten Claude Parent eine Solo-Schau. Warum? Zum einen, weil sich die Künstler der Galerie Isa Melsheimer, Pierre Huyghe und Christopher Roth als Fans des streitbaren Utopisten outeten. Zum anderen, weil Claude Parent, Jahrgang 1923, ein Visionär von einem künstlerischen Esprit ist, wie ihn heute selbst Bildende Künstler häufig missen lassen. Einer, der die Dinge buchstäblich andersherum denkt und sich nichts einreden lässt, auch wenn er damit kommerziell nicht durchkommt. Und der seine Ideen keiner Political Correctness beugt. Worum es geht?

Claude Parent ist der Erfinder der Claude Parent ist der Erfinder der schiefen Ebene. Das, womit Zaha Hadid im römischen MAXXI den Besuchern den letzten Nerv raubt, wenn sie den Museumsparcours zur auf und absteigenden Gitterpartie macht, ist bei Parent keine demonstrative Virtuositätsgestik, sondern ein freier, formgewordener Geist, geboren aus der Tragödie des Zweiten Weltkriegs. Die Legende will es, dass Parent per Jeep gemeinsam mit dem Philosophen und Geschwindigkeitstheoretiker Paul Virilio Anfang der 1960er-Jahre die französische Atlantikküste abfuhr. In den Dünen versanken die Bunker, die die Deutsche Wehrmacht dort zwischen 1942 und 1944 zum Schutz gegen die Alliierten gebaut hatte: 8.200 auf 2.685 Kilometern. Abgesunken, vornübergekippt, vom Winde sandverweht, beinahe wie herabgepurzelt, duckten sich die Bauten wie umgeworfene Bauklötze im Sand. Der Philosoph und der Architekt traten ein – und verloren prompt die Orientierung. Unten und oben bekamen eine völlig neue Bedeutung, sie standen auf Wänden, tasteten sich über Decken – und landeten bei einer Behauptung, die sie „fonction oblique“ nannten: Die Theorie der fließenden Formen.

Parent, der zuvor im Atelier des Rechte-Winkel-Advokaten Le Corbusier gearbeitet und mit der Villa André Bloc in Antibes (1959-1962) den amerikanischen Bungalow Modernismus nach Frankreich geholt hatte, frönte fortan der Schrägstellung: Mit Gebäuden aus Rampen wie die Maison Drusch (1963) bei Versailles oder Le Pecq in Bois le Roy (1966), das aussieht wie eine Halfpipe, berauschte er sich am Taumel spielerischer Freiheit, traumähnlichen Bewegungsabläufen und einem neuem Körpergefühl, das dem eines Space-Shuttle-Insassen nicht unähnlich gewesen sein dürfte – was wiederum zu Virilios Theorie vom „rasenden Stillstand“ passt. Parents Bauten stellten nicht nur den dunklen Existenzialismus des Atomzeitalters auf den Kopf, der mit Heidegger aus den 1950er-Jahren vor allem nach Frankreich herübergeschwappt war und dort Sartre auf seiner Suche nach dem Absoluten begleitete, sondern waren das bildnerische Pendant zu Derridas Dekonstruktivismus.

Dass er auch sein eigenes Haus in ein phänomenologisches Abenteuer verwandelte, es beinahe höhlenhaft an die Landschaft schmiegte und sich jedes Sitzmöbels entledigte, lag da fast näher als die rundfließende, bunkerartige Kirche Sainte-Bernadette-du-Banlay (1966) in Nevers, für die das Wort rollstuhlgerecht eine bodenlose Untertreibung wäre. Dabei hatte Parent wohl weniger Gott im Sinn als etwas, das den Derrida-Anhängern wiederum ein Dorn im Auge war: Den Glauben an den Fortschritt, an die Technik, an die Kraft des Atoms. Weshalb Parent bald nicht nur reihenweise gigantomanische Supermärkte für die Kette Goulet-Turpin baute – für die allein man den Einkaufswagen hätte erfinden müssen – sondern auch die Atomkraftwerke Chooz und Cattenom. Da war dann auch für Parents größte Fans der Spaß vorbei, und wenn Anselm Kiefer heute sein Atelier am liebsten in einem stillgelegten Kernkraftwerk einrichten will, so sind die sauertöpfischen Feuilletonkritiken dazu nichts gegen den Aufschrei der Empörung, der dem Futuristen Parent entgegenschlug. Weshalb er bald selbst wie ein Küstenbunker in der Versenkung verschwand.

Doch auch, wenn er als Bauherr kaum mehr ein rechtes Bein auf den Boden bekam, blieb er produktiv: Seine Zeichnungen zeugen bis heute von einem immensen schöpferischen Potenzial, das engen Zwischenräumen und albtraumhaften Diagonalen, tiefen Fluchten und aufragenden Keilen den Hof macht. Labyrinthisch verästelt oder wie anatomische Detailstudien von Außerirdischen, wirken seine Entwürfe wie Film-Set-Skizzen für düster-rasante Sci-Fi-Streifen à la *Metropolis*, *Der Prozess* oder Ridley Scotts *Blade Runner* – und erinnern in ihrer Fantastik an surrealistisch-mystische Gebäudeorganismen, wie sie Matthew Barney für seinen Cremaster-Zyklus erfand. All das dürfte Parent allerdings nur insofern interessieren, als es sich mit seiner Auffassung einer Ästhetik deckt, die einfachste Archaik mit der Rasanz der Zukunft verbindet.

Die Ausstellung, die in Zusammenarbeit mit der Galerie Natalie Seroussi aus Paris entstand und gemeinsam mit dem Kurator Daniel Wust ausgerichtet wurde, ist eine Hommage an die Risikofreude. Und zwar im doppelten Sinne: Sie zeigt, dass Utopisten schönerweise immer noch die Chance haben, nicht durch den Kommerzschlucker in den Keller des Mainstreams zu rutschen, und trotzdem, oder gerade deswegen, wieder nach oben kommen können – und sei es, wie im Fall Parent, als eine jeder Funktion entkleidete Kultfigur. Und sie zeigt, dass auch Galerien gerne ab und zu Ausstellungen machen dürfen, die über das direkte handelsübliche Ziel hinausschießen Claude Parent liefert da geradezu eine Steilvorlage.

© Gesine Borcherdt