Wenn die Welt explodiert
/ Welt am Sonntag

Cyprien Gaillard in der Sammlung Stoschek und im K20

Welt am Sonntag, 7. Februar 2016

Bei der immensen Fülle an Gegenwartskunst taucht immer häufiger die Frage auf, was an dem Werk eines Künstlers eigentlich wirklich gut ist. So gut, dass man nach ein paar Jahren oder gar Jahrzehnten immer noch davon berührt wird und es für relevant hält. Relevant, weil es etwas vermittelt, das über den Zeitgeist oder eine bloße Behauptung hinausgeht. Weil es keine klaren Aussagen trifft, sondern eine Atmosphäre kreiert, die auch ohne Begleittext eine Erzählung in Gang setzt. Idealerweise eine ganz einfache. Zum Beispiel von Leben und Tod.

Die Arbeiten des Franzosen Cyprien Gaillard bewegen sich in solchen Zwischenräumen. Seine Filme, die in ihrer plastischen, mit Musik durchtränkten Bildwelt eigentlich Sound-Skulpturen sind, ziehen die Kunstwelt seit rund acht Jahren in den Bann. In ihrer dichten, dystopischen Raumwirkung erzählen sie von Verfall und Neubeginn, von Ruinen und verlorenem Glauben, von uralten Monumenten und modernen Architekturen, die heute sinnentleert sind – hineingesetzt in eine Natur, die sich die Orte zurückholt, ihnen ausweicht oder sich neue Wege sucht.

Gaillard reist dafür um die Welt, filmt mit neuester Digitaltechnik oder, wo keine Kameras erlaubt sind, mit dem Smartphone, dessen Aufnahmen er auf 35-mm-Film überträgt und damit eine gebrochene, quasi-historische Distanz zum Vorgefundenen erzeugt: Überreste der antiken Stadt Babylon, archäologische Relikte im Museum, Chipstüten in der Wüste und gigantische Moscheenneubauten ("Artefacts", 2011). Eine postmoderne Geisterstadt vor den Toren von Paris, in der sich riesige Torbögen über einen künstlichen See spannen ("The Lake Arches", 2007). Reste von Maya-Pyramiden in Cancún vor Hotelmonstren, die ihnen auf unheimliche Weise gleichen ("Cities of Gold and Mirrors", 2009). Im Wasserbassin vor den Balkonen ziehen Delfine ihre Bahnen – exotische Requisiten für Touristen, die Tier und Mensch gleichermaßen entwürdigen.

Vielleicht ist es das, was Gaillards Arbeit so faszinierend macht: Er sucht nach der Würde in den Dingen, in Natur und Kultur, bei Mensch und Tier. Er findet sie dort, wo es Schönheit gibt und Spiel, lässt sie kurz aufleuchten – und wieder verschwinden, im Orbit von Gestaltungsdrang und Größenwahn, für die diese Landschaften stehen. Seinem Blick haftet aber auch etwas Prophetisches an: zerstörte Tempel im Irak, graue Vorstädte von Paris – Gaillard drehte dort, lange bevor diese Bilder Schauplätze der täglichen Nachrichten wurden.

Die Stationen des 1980 in Paris geborenen Cyprien Gaillard heißen Kunst-Werke Berlin, Centre Pompidou Paris, Kunstbiennale von Venedig und MoMA PS1 in New York, seine Auszeichnungen Prix Marcel Duchamp oder Preis der Nationalgalerie für junge Kunst, seine Galerien Sprüth Magers und Barbara Gladstone. Wenn nun die Julia Stoschek Collection in Düsseldorf, die das weltweit größte Konvolut seiner Arbeiten besitzt, eine Auswahl der wichtigsten Filme zeigt, dann wirkt das wie das Kondensat einer Bilderbuchkarriere, die vor allem von Privatsammlern ermöglicht wird: Mit Preisen zwischen 35.000 und 220.000 Euro netto zählt Gaillard zu den teuersten mit Film arbeitenden Künstlern seiner Generation.

Öffentliche Museen können sich das nur selten leisten. Dass die Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen nun in den Genuss kommt, im Amerika-Saal des Düsseldorfer K20 Gaillards neueste, bisher aufwendigste und teuerste Filmarbeit aus Stoscheks Sammlung zu zeigen (bis 20. März), hat mit den enormen Ausmaßen zu tun: "Nightlife" (2015) ist eine Projektion von sechs mal elf Metern, die mit 3-D-Brille angeschaut werden soll und selbst für die Räume der Sammlerin zu groß war.

Tatsächlich dienen die Ausmaße nicht nur dem Showeffekt (den Gaillard bestens beherrscht), sondern spiegeln die Idee von Monumentalität, um die es in dem Film geht: Auguste Rodins "Denker" – eine Version vor dem Cleveland Museum in Ohio, die 1970 bei einer Protestaktion gegen den Vietnamkrieg stark beschädigt wurde – dient darin als Auftakt für eine nomadische Kamerafahrt durch ein Niemandsland in Los Angeles, vorbei an leeren Rolltreppen, Mauern und Palmen, die aussehen wie außerirdische Underdogs, die am Straßenrand einen surrealen Tanz aufführen. An Traumsequenzen erinnern auch die Feuerwerksexplosionen im Berliner Olympiastadion, die schließlich wieder nach Cleveland führen, wo eine kahle Eiche im Schulhof steht: Gepflanzt von dem Afroamerikaner Jesse Owens, der bei der Olympiade 1936 viermal Gold gewann und so Hitlers Rassentheorie vom überlegenen Arier verspottete. Zum Sieg erhielt er Eichensetzlinge, von denen er einen vor seiner alten Schule einpflanzte. Unterlegt sind die Bilder mit dem Sample von Alton Ellis' Rocksteady-Klassiker "Black Man's World". Der Refrain "I was born a loser" windet sich einem ins Ohr, wie die Herztöne einer unbehausten Welt.

Der Grund, warum man Gaillards Filme immer wieder sehen kann, hat mit seinem Gespür für die Inszenierung einer morbiden Weltwahrnehmung zu tun. Die hat Tradition: Nach der klassischen Ruinen- und Felsenromantik gewinnt sie vor allem ab den Sechzigerjahren an Fahrt: In J. G. Ballards Erzählung "Paradiese der Sonne" von 1962 verschlingt eine wuchernde Tropennatur die durch den Klimawandel versunkenen Städte. In "Theorem" von 1968 schickt Pier Paolo Pasolini den Fabrikbesitzer aus seiner Bürgerhaushölle in eine leere, vulkanische Mondlandschaft. Der stumme Dokumentarfilm "Koyaanisqatsi" aus dem Jahr 1982, für den Philip Glass die Musik schrieb, blickt in Land-Art-Manier auf Schluchten und Wüsten, um dann die Schnelllebigkeit der Städte zu zeigen, in denen Hochhäuser kurz nach der Errichtung wieder gesprengt werden. Auch Gaillard liebt Explosionen und erinnert an die Schlussszene aus Michelangelo Antonionis "Zabriskie Point" von 1970: Moderne Architektur wird zum Menetekel des menschlichen Planungsirrsinns, die Explosion zum fröhlichen Neubeginn.

In der zeitgenössischen Kunst sind die Ruinen der Moderne omnipräsent, von Gordon Matta-Clarks zersägten Eigenheimen bis zu Isa Genzkens brüchigen Betonfenstern. Doch Cyprien Gaillard, und das vergisst man schnell bei seinen groß angelegten Bildopern, deckt darin eine politische Brisanz auf, die nicht nur körperlich, sondern auch poetisch erfahrbar ist. Seine Arbeiten sind Elegien von suggestiver Kraft. Sie streifen Romantik und Science-Fiction ab, verheddern sich aber nicht in Nostalgie, sondern deuten auf die Anachronismen von heute.

Natürlich kann man fragen, ob das unbedingt so hochpreisig sein muss. Oder ob es nicht eine typische Superstar-Symbolik evoziert, die vor allem auf überwältigende Effekte setzt. Man kann das Fragen aber auch lassen. Denn was am Ende zählt, ist der Eindruck, den solche Bilder vermitteln: Sie gehen unter die Haut, pochen dort weiter. Und das kann man mit Geld ohnehin nicht beziffern.

© Gesine Borcherdt