Der Herr der Handschriften
/ Welt am Sonntag

Egidio Marzona ist als Sammler von Minimal Art und Konzeptkunst bekannt. Wenige wissen, dass er auch 1,5 Millionen Künstlerbriefe, Notizen und Kataloge besitzt. Nun schenkt er sein riesiges Archiv den Staatlichen Museen zu Berlin. Ein Zuhause findet es in der Villa Parey an der Gemäldegalerie

Welt am Sonntag – 1. September 2013

Ich bin gerade am Sortieren“, entschuldigt sich Egidio Marzona und steigt über Zettelkisten und Bücherberge hinweg ins Wohnzimmer, wo sich aufgerissene Pappkartons türmen. Vergilbte Bildbände, signierte Kataloge und zerfledderte Zeitschriften ergießen sich auf zwei Granitplatten von Ulrich Rückriem, die darunter fast verschwinden.

Deutschlands wichtigster Sammler für Konzeptkunst lässt sich in der Sofaecke seines Hauses im Berliner Westend nieder und stopft seine Pfeife. Seit zehn Jahren wohnt er nun hier – aber eigentlich ist er immer unterwegs. „In den letzten zwölf Monaten habe ich mehr Archive gekauft als je zuvor. Sehen Sie mal“, sagt er nickend in Richtung Chaos neben sich, „dieses hier stammt aus Dinslaken. Da hat einer Konkrete Poesie gesammelt. Das ist auch ein Schwerpunkt in meinem Archiv – und von der Berliner Kunstbibliothek. Zusammen wird das riesig. Viel größer als die berühmte Sackner-Collection aus Miami.“ 

Konkrete Poesie? Kunstbibliothek? Archiv? Für alle, die sich noch an Marzonas großzügige Geste von 2002 gegenüber den Staatlichen Museen zu Berlin erinnern, klingt das im ersten Moment nicht ganz schlüssig. Damals übergab der gebürtige Bielefelder, der eigentlich die väterliche Baufertigteilefirma hätte übernehmen sollen, rund 700 Werke seiner Sammlung aus Minimal Art, Land Art, Arte Povera und Konzeptkunst an den Hamburger Bahnhof: ein Drittel als Schenkung, ein weiteres als Verkauf und das letzte als Leihgabe mit Schenkungsaussicht – ein Gesamtwert von damals 18 Millionen Euro, heute um ein Vielfaches gestiegen, mit Schlüsselwerken von Carl André, Donald Judd und Sol Lewitt.

Dass auch ein Archiv von 50.000 Manuskripten, Arbeitsfotos und Konzeptbeschreibungen dazugehörte, weiß kaum jemand – und schon gar nicht, dass es diese Dinge sind, die Marzona eigentlich interessieren. Sogar so sehr, dass er die Kunst seiner Generation schon lange nicht mehr kauft. Wozu auch: Seine Künstlerfreunde, die er in den Sechzigerjahren über die Galerien Konrad Fischer und Rolf Ricke kennenlernte und deren skulpturale Gesten gegen Kommerz und Museum er mit zahllosen Ankäufen honorierte, haben längst auch seinen zweiten Wohnsitz Verzegnis im italienischen Friaul verziert: In der alten Heimat der Marzonas, von wo aus der Großvater um die Jahrhundertwende ins Ruhrgebiet aufbrach, um Schiffshebewerke zu bauen, legte Richard Long aus Flussbettsteinen den größten Kreis seines Lebens, Bruce Nauman baute eine gelb leuchtende Pyramide ins Land, und Lawrence Weiner schrieb „taken to a point in time“ auf den Hubschrauberlandeplatz – auch wenn hier nie einer landet.

Ein Zeitpunkt ist nun endlich auch für Egidio Marzona gekommen, um das ans Licht zu holen, was ihn seit 20 Jahren immer wieder in die Keller und Dachböden dieser Welt treibt: sein Archiv zur Kunst des 20. Jahrhunderts. Über 1,5 Millionen Stücke hat er angehäuft, aus Nachlässen und Sammlungen, aufgestöbert dank Insidertipps. Seit Jahren kauft er kaum noch im Handel oder auf Auktionen, Messen meidet er sowieso. Das, was er sucht, würde er dort auch gar nicht finden: Briefwechsel, Konzeptentwürfe, Möbelstücke, Tonträger, Fotos, Skizzen, Notizen, Einladungskarten, Plakate, signierte Kataloge, Zeitschriften, Vertragsentwürfe, kurz: Ephemera und Artefakte der Avantgarde, ergänzt um einzelne Kunstwerke.

Es ist das weltweit größte Archiv der Ismen des 20. Jahrhunderts. Und zwar nicht nur für bildende Kunst, sondern auch für Architektur, Design, Film, Musik, Theater, Tanz, Literatur – und somit auch für Konkrete Poesie. „Ich will die Mosaike der Avantgarde zusammenbringen“, erklärt Marzona. „Der kreative Ansatz ist mir sehr wichtig. Ich will keine Brands, sondern ein Zeitbild schaffen. Prozesse interessieren mich einfach mehr als Kunstwerke.“

Gewachsen ist das Archiv Marzona von Anfang an. Zunächst eher beiläufig, parallel zu den ersten Kunstkäufen in den Sechzigern, dann ab 1972 mit dem eigenen Verlag, in dem Marzona Bücher zu Bauhaus und Dada publizierte – um sich, wie er sagt, „mehr Wissen anzueignen“. Als er ihn 1994 schloss, warf er einen Blick in die Garage, wo die Dokumente lagerten. Ein Schlüsselmoment: Die meisten Papiere, darunter 200 Briefe von Meret Oppenheim, waren einer Überschwemmung zum Opfer gefallen. „Ich ging alles durch und stellte fest: Das ist ja eine Sammlung! Mir wurde bewusst, wie wichtig diese Dinge sind. Da begann ich, systematisch die Lücken zu füllen.“ Will heißen: Marzona häufte tonnenweise Dokumente an, ordnete sie akribisch – und ergänzte seine eigene Geschichte um die des Futurismus und Expressionismus, über Informel, Zero, Pop, Fluxus und Transavantgardia bis zur Postmoderne.

All das will er nun den Staatlichen Museen zu Berlin schenken. Noch vor dem 3. Oktober 2014 – Marzonas 70. Geburtstag – soll es in die Villa Parey hinter der Gemäldegalerie ziehen, den letzten Großbürgerpalais im Tiergarten, wo bislang Mitarbeiterbüros untergebracht sind. Marzona überlegt, auch den Umbau mitzufinanzieren, während die Staatlichen Museen für Erhalt und Bewirtschaftung zuständig sind.

Dabei ist das, was Marzona als Bedingung an seine Schenkung knüpft, mit Geld kaum aufzuwiegen: ein interdiszilinäres Forschungszentrum zum Anfassen, mit Ausstellungsfläche, Schubladen und Vitrinen voller Trouvaillen. „Alles, was ein Künstlerleben dokumentiert, wird dort zu sehen sein – ähnlich dem Getty Institut in Kalifornien. Aber dort gibt es keine Kunstwerke. Und: Zum 20. Jahrhundert habe ich mehr!“, sagt Marzona und steigt über die Bücherstapel hinab in den Keller, wo nur ein kleiner Teil des Archivs aufbewahrt ist – die anderen sind über mehrere Standorte in Wien, Bielefeld und Verzegnis verteilt. Von Beginn an ließ er Wissenschaftler und Doktoranden damit arbeiten. Und obwohl einmal ein amerikanischer Wissenschaftler Beuys-Briefe mitgehen ließ, darf man hier mit den Unterlagen so unbefangen auf Tuchfühlung gehen wie in keinem Lesesaal der Welt.

„Oskar Schlemmer hatte die schönste Handschrift“, sagt Marzona und zieht einen von Hunderten schwarzen Ordnern aus dem Regal, in dem sich die fein geschwungenen Zeilen des Bauhaus-Lehrers über mehrere Briefbögen verteilen. Die Worte von der Schreibmaschine springen dagegen eher umher, als hätte der Künstler sie auf den Knien gehalten. Sätze wie „Lieber Werner (gemeint ist der
Schauspieler Werner Siedhoff), Alma wird Dir geschrieben haben, dass die Volksbühne zugesagt hat, wie bekommen den Höchstsatz von 1200,–.“ sind Glückstreffer für jeden, der über Avantgardebühnen forscht. Ein weiteres Lieblingsstück ist die blaue Briefmarke von Yves Klein, die der französische Performance-Pionier auf einen Umschlag an den Kritiker Pierre Restany gemalt hat – die Post stempelte sie prompt ab.

„Der Keller ist voller Geheimnisse“, erzählt Marzona und schlägt den Briefwechsel zwischen dem legendären New Yorker Galeristen John Weber und dem Konzeptkünstler Roman Opalka auf. „Als Opalka vor gut zwei Jahren hier zu Besuch war, wurde er ganz blass bei der Erinnerung, dass er einmal ein Kunstwerk hinter dem Rücken seines Galeristen verkauft hat – das Weber zeitgleich selbst gerade veräußert hatte.“ Überhaupt, das Archiv John Weber. Marzona ersteigerte es dem Getty Institut vor der Nase weg, womit nun nicht nur diverse Kunstmarktanekdoten, sondern auch unschätzbare Fakten in seiner Hand sind: Der Künstler Dan Flavin etwa zeichnete sein gesamtes Werk auf Karteikarten und notierte die Käufer auf die Rückseiten – eine Fundgrube für Provenienzforscher, die hier hemmungslos durchflippen können. An anderer Stelle findet man Giftsalven von Sammlern und Galeristen, die über Dritte herziehen. Oder Briefe von später „entarteten“ Künstlern aus dem Dritten Reich, die mit „Heil Hitler“ unterschrieben. Fast jedes Stück ist eine kleine Sensation, je nachdem, wer hier über was forscht.

„Die Sammlung wird nie vollständig sein“, sagt Marzona. „Aber ich sehe mich als Spurenleser, der fragt, was heute bleibt.“ Eine Haltung, mit der er mehr Materialien angehäuft hat als das New Yorker MoMA, das Smithsonian Institute in Washington D.C. oder das MART in Rovereto – alles Museen, die ebenfalls mit großen Avantgarde-Archiven arbeiten und in Zukunft hinter den Staatlichen Museen zurückstehen müssen.

Doch warum hört das Ganze eigentlich bei den Jungen Wilden auf? Die jüngsten Vertreter, Jean-Michel Basquiat und Keith Haring, wären schließlich heute auch schon über 60. Würde man nicht auch gerne Postkarten von Olafur Eliasson lesen oder E-Mails von Monica Bonvicini? Marzona schüttelt den Kopf – die Kunstwelt seit der Postmoderne ist ihm eher suspekt. „Es fing eigentlich schon Ende der Siebzigerjahre an, als die Kunstplötzlich einen Markt bekam. Da gestalteten die Künstler ihre Einladungen nicht mehr selbst, sondern überließen das den Grafikern. Die Erfindung des Faxgeräts hat dann die Kultur des Briefeschreibens ausgelöscht. Der persönliche Duktus ist verloren gegangen.“

Umso näher will er die nachfolgenden Generationen dort heranführen. Das Forschungszentrum soll eine Art „kleinteilige Geisterbahn“ werden und nach Aby Warburgs Denkprinzip die Objekte nebeneinander statt nach Sparten separiert zeigen. Gegen den Forschungstrend des 20. Jahrhunderts will Marzona die Grenzen zwischen den Disziplinen verwischen und alles als einen großen gedanklichen Raum inszenieren. Und das ausgerechnet in den Staatlichen Museen zu Berlin: einem bestandsreichen, aber budgetlosen Bürokratiekoloss, der vor allem auf Blockbustermomente und Sammlerwohltaten hinlebt – allerdings ohne für reibungslose Kooperationsabläufe berühmt zu sein: Man muss nur an die Schenkung des Berliner Ehepaars Pietzsch denken, das lange auf die Zusage für eine Unterkunft seiner Surrealismus-Sammlung warten musste.

Hans-Heinrich Thyssen-Bornemisza verlor bereits Anfang der Neunzigerjahre die Geduld über die Berliner Schwerfälligkeit, weshalb seine Sammlung nun in Madrid die Massen anzieht. Auch Marzona musste schon herbe Enttäuschungen einstecken. Und es grenzt an ein Wunder, dass er nicht längst einem anderen Anwärter den Zuschlag gab. „Aber ich arbeite schon länger sehr gut mit dem Personal von Kupferstichkabinett und Kunstbibliothek zusammen. Man versteht dort, dass das Archiv als Ganzes zusammenbleiben und auch so präsentiert werden muss.“ Die Villa Parey ist zwar nur eine Übergangslösung – für sämtliche Objekte braucht man einfach mehr Platz. „Aber ich hoffe, dass sich daraus neue Möglichkeiten für eine Gesamtpräsentation ergeben – in Zusammenhang mit den Neuplanungen für die Galerie der Moderne“, so Marzona.

Als Ergebnis der Machbarkeitsstudie zur Gestaltung der Berliner Museumslandschaft – in deren Rahmen auch geprüft wurde, ob die alten Meister der Gemäldegalerie an die Museumsinsel wechseln können –, favorisieren die Staatlichen Museen einen Erweiterungsbau der Nationalgalerie für das 20. Jahrhundert am Kulturforum. Dort hätten die Sammlungen Marzona, Marx, Flick und Pietzsch endlich mehr Platz. Dennoch: Marzonas Forschungsmuseum wird auch in diesem Fall eine eigene Abteilung brauchen. Eigentlich ein Fall für eine weitere Kooperation. Mit den Berliner Universitäten, die ja ohnehin schon lange das Archiv nutzen und sich finanziell beteiligen könnten. Und? Gibt es dazu auch schon Pläne? Marzona schmunzelt und stößt Pfeifenrauch aus.

© Gesine Borcherdt