artnet – 8 Juni 2012
Der Wind bläst scharf durchs Kasseler Fridericianum. Draußen regnet es Bindfäden, und man fragt sich, wann endlich einer die Tür schließt. Dass die beiden Seitenflügel im Erdgeschoss praktisch leer sind, sorgt für noch mehr Irritation: Das einzige, was man sieht, ist ein Regal mit Skulpturen von Julio González, die hier bereits 1959 ausgestellt waren, sowie ein langer Absagebrief des Kölner Künstlers Kai Althoff – präsentiert als museales Relikt in einer Vitrine. Wollte hier sonst keiner mitmachen? Langsam dämmert es: Der Wind ist Kunst von Ryan Gander, der die Erwartungen an ein Werk gerne eben mal auspustet wie eine Kerze.
Genau das macht Carolyn Christov-Barkargiev mit der dOCUMENTA (13), die morgen eröffnet. Wo andere Kuratoren Themen setzen, steht sie zu ihrer Konzeptlosigkeit. Wo zuletzt die Migration der Form waltete und eine verklausulierte Diskurshudelei hervorbrachte, wie sie heute im Kontext vieler Großausstellungen typisch ist, bleibt Christov-Barkargiev im Vagen. Sie erzählt von ihrem Hund und ihren Haaren und verstößt trotz einer ganzen Choreographie aus philosophischen Pirouetten gegen alle kuratorischen Codes, indem sie darauf beharrt, Künstler hätten bitteschön nicht das Thema eines Kurators zu illustrieren. Christov-Barkargiev hält es mit den Skeptikern – ihre Suche nach der Wahrheit kennt kein Dogma, keine eitlen, modischen Begrifflichkeiten. Stattdessen bewegt sie sich auf einem Pfad, über den in Kunstkreisen eher die Nase gerümpft wird, weil er aus den dunklen, verdächtig rauschenden Wäldern der Romantik kommt: Es ist der Pfad zur Einheit des menschlichen Lebens mit Natur und Kreatur – zum ganzheitlichen, non-rationalen Verständnis von Welt. Christov-Barkargiev will den Menschen vom Sockel der Erde stoßen, auf dem er seit der Renaissance wie angewurzelt steht. Sie will den Film des Lebens langsamer abspulen, das Gespür von Ort, Zeit und Raum zurückholen in die Ära virtueller Realitäten. Kurz: Es geht um eine neue Bescheidenheit. Wir erinnern uns: Die Amerikanerin mit den italienisch-bulgarischen Wurzeln kommt aus der Arte Povera – einer Kunst, die in den Sechzigerjahren für Materialsinnlichkeit und intuitive Wahrnehmung plädierte. Und eine archaische Ästhetik vor sich herschob.
Daher macht es Sinn, dass der Besucher die ersten Räume des Fridericianums fast nackt vorfindet. Kein dröhnender Blockbuster oder smarter Fußnotenfetischist wird hier bemüht, um den Gast in die Rotunde zu steuern, die Christov-Barkargiev als ihr „brain“ tituliert hat und nun vollends mit den Umgangsformen bricht: Man stolpert über Sam Durants Block aus Carrara-Marmor, der aussieht wie ein Sack Marmormehl, aus dem man heute Industriefarben herstellt. Bewegt sich vorbei an Stillleben von Giorgio Morandi und entdeckt eine Vitrine mit den Vasen, die ihm einst Modell standen. Beugt sich über handtellergroße Steinfiguren – die *Baktrischen Prinzessinnen* aus dem 2. Jahrtausend v. Chr. – und verharrt vor einer abstrakten Zeichnung Gustav Metzgers, die entstand, bevor er 1959 sein Manifest über autodestruktive Kunst schrieb. Und man wundert sich über eine antikisierende Porzellanfigur aus Hitlers Münchener Wohnung, in der Lee Miller am Tag seines Selbstmords für ein Foto von David E. Schermann in der Badewanne posierte. Spätestens hier beginnt eine Schau, die wie Christov-Barkargievs „brain“ aussieht: mal seltsam verstiegen, mal moralinsauer und manchmal unglaublich schön.
Letzteres gelingt, wenn der Amerikaner Mark Lombardi ein Stockwerk höher seine Verschwörungstheorien in zierliche, hochakkurate Schemata überträgt: Eine von Angst und Intellekt getriebene Ornamentik, die paradigmatisch steht für die vergebliche Suche nach Antworten – die man bis heute auch auf die Frage nach seinem plötzlichen Tod im Jahr 2000 sucht. Oder wenn Janet Cardiff und George Bures Miller die Besucher mit sanfter Stimme durch den Hauptbahnhof schicken – mit ipod-Video und biauralem Soundsystem im Ohr. Der Bahnhof im Film schiebt sich übers Hier und Jetzt, wenn die Künstler einen alten Mann vom Krieg und ein tanzendes Paar von der Liebe erzählen lassen, ohne in platte Symbolismen zu verfallen. Es öffnet sich eine Welt in der Welt, Poesie und Politik verschränken sich beinahe unbemerkt, wenn plötzlich jemand im Display erscheint, der die Aufnahmen kontrolliert und zum Zurückspulen auffordert.
Die Realitäten überlagern sich auch in der Orangerie bei Konrad Zuse: Von dem Erfinder des ersten programmgesteuerten Computers Z3, der auch Maler im Stil Lyonel Feiningers war, sehen wir futuristisch durchtränkte Bilder neben der Kopie des Versuchsmodells Z1 – beide Werke überzeugen durch ihre Hingabe an übermenschliche Utopien, die hier einfach zwischen die Apparate des Museums für Astronomie und Technikgeschichte geschleust wurden. Über- und unmenschlich auch Sam Durants hölzernes Schafott in der Karlsaue, das er durch ein kapitales Stahlgerüst hochgeschoben hat: Wie ein amerikanischer Gefängniszaun wächst es aus dem Boden, stemmt die Galgenarchitektur empor und versperrt die Sichtachse der Parkanlage durch eine Konstruktion von formaler Wucht, die auch den historischen Kontext aus den Angeln hebt.
Theaster Gates hat sich dagegen einen der diesmal zahllosen Außenstandorte ausgesucht und Kassels verfallendes Hugenottenhaus in eine einzige Skulptur verwandelt: Schutt hängt hier wie Bilder an die Wänden, Treppeneinbauten sind mit Blümchenmustern tapeziert, um sie dann gegen die Wand laufen zu lassen, und Bauteile aus einem Chicagoer Abrisshaus wurden zur Küchenzeile umgeformt: Das Haus als Recyclingkörper, samt Schlafzimmern und Konzertbühne. Den großen Auftritt legt schließlich auch Thomas Bayrle hin: Das Bild eines Flugzeugs, das aus hunderten kleinen Flugzeugen besteht, reicht bis unter die Decke der Documenta-Halle. Daneben erwachen diverse Apparate wie eine Kreuzung aus Konrad Klapheck und Rebecca Horn plötzlich zum Leben und verströmen in ihrer surrealen Unwägbarkeit etwas von Quantenphysik, die der Wissenschaftler Anton Zeilinger im Fridericianum mit Photonenexperimenten betreibt. All das sind Eindrücke, die sich abseits der Großhirnrinde ins Gedächtnis schieben.
Bei anderen Impulsen stellen sich dagegen die Nackenhaare auf. Zum Beispiel bei dem amerikanischen Duo Allora & Calzadilla, das die kalten Gänge im Kasseler Weinberg in eine Zeremonie pathetisch aufgemöbelter Archäologie verwandelt hat: In einem Film pfeift eine Musikerin, die auf alte Instrumente spezialisiert ist, krampfhaft ein paar Töne auf dem 35.000 Jahre alten Knochen eines Gänsegeiers – in Anwesenheit eines davon sichtlich angezählten Nachfahren. Die Künstler nennen das „eine Zeitkapsel aus Klang“, und da der Berg im Krieg zum Bunker wurde, muss der Aasfresser gleich doppelt für einen tumben Symbolismus herhalten. Historienklamauk geht auch in den Weinbergterrassen um: Der Argentinier Adrián Villar Rojas hat hier apokalyptisch anmutende Sci-Fi-Figuren und abstrakte Formen aus Zement auf den Rasen gestellt, die einfach nur wie zerbröselnde Replikanten aus Dürers *Melencolia* und dem Formenfundus der Moderne aussehen. Das ungute Gefühl macht sich breit, hier den nächsten Vanitas-Heroen à la Urs Fischer vor sich zu haben.
Die Reise rückwärts tritt auch Kader Attia im Fridericianum an: Ein schummriger Raum mit Vitrinen und Regalen voller silberner Patronenhülsen und militärischer Portraits, Dias zerschossener Soldatengesichter aus dem 1. Weltkrieg und Schmucknarben afrikanischer Stammesmitglieder, genähte Haut und reparierte Lederschalen ziehen Aby Warburgs *Mnemosyne*-Methode auf den Tunnelblick der Kolonialzeit herab. Pedro Reyes hingegen lädt den gestressten Großstädter in sein Sanatorium in der Karlsaue ein – mit Gruppensitzungen und harmlosem Godoo (anstatt Vodoo)-Zauber. Ähnlich auch der Pavillon des Wahlkaliforniers Marcos Luytens, der Hypnosesitzungen und Barfuß-Therapietänze anbietet. Und es gibt weitere Beispiele für Mitmachkunst mit Volksfestcharakter und 68er-Nostalgie. Doch muss die Suche nach der Einheit von Mensch, Natur und Dingen, wie sie von der Romantik über den Expressionismus auch in die Sechzigerjahre schwappte, unbedingt in aufgewärmtem, durchdesigntem Hippiegehabe münden? Waren wir mit der Arte Povera nicht schon einmal weiter – und zeigen nicht die Beispiele konzeptueller Poesie wie von Cardiff und Co., wie man die Sehnsucht nach Sinnlichkeit und Sensibilität in einer zeitgemäßen Form artikulieren kann?
Keine Frage: Es atmet sich gut in dieser antizyklischen Böe, die vom Fridericianum aus durch Kassel weht. Sie zeigt, dass die Luft raus ist aus dem überhitzten Ballon der Diskurs- und Kommerzevents, wie er etwa auf der letzten Biennale von Venedig aufstieg und spurlos im Äther verschwand. Doch trägt dieser neue Geist eine ganze Ausstellung? Taugt er als Band, das über 200 Werke da zusammenhält, wo ihnen selbst die Substanz fehlt? Rechtfertigt die philosophische Grundhaltung einer Kuratorin die Belanglosigkeit zahlloser Arbeiten? Die Antwort ist: Ja – auch wenn es manchmal wehtut. Carolyn Christov-Barkargievs Verdienst ist es, dass sie Künstler aufgespürt hat, mit denen sie sich einig ist über das große Ganze. Über Ästhetik wurde dann offenbar nicht mehr gesprochen. Doch jede Reise beginnt mit dem ersten Schritt.
Diese dOCUMENTA (13) zeichnet aus, dass sie keinen krampfhaften, theoretisch ambitionierten Bogen zwischen Werken spannen will, die am Ende doch alleine dastehen – sondern ein existenzialistisches Stimmungsbild zeichnet. Dass sie den Menschen wieder auf eine faustische Suche nach der Wahrheit schickt. Dabei fächert sie einen Reigen aus poetischen Schlaglichtern auf – und fällt zugleich komplett auseinander in ein moralisierendes Allerlei aus Folklore, Reliquienschreinen und Authentizitätskitsch. Christov-Barkargiev wollte ihre Künstler nicht selektieren, sondern, wie sie sagt, akkumulieren – und das in einem Kassel, das plötzlich von der schnöden Kulisse zum Gesprächspartner avanciert ist. So ist etwas entstanden, das mit Grashügeln und Quantenphysik, Wüstenzelten und Hundepavillons von der Grundidee der Ganzheitlichkeit summt. Ein schöner, sanfter Ton, den man gerne noch ein bisschen deutlicher hören würde.
© Gesine Borcherdt