Griechische Pein
/ Blau

Am 8. April eröffnet die Documenta 14 in Athen. Dort hält sich die Vorfreude in Grenzen. Eine Spurensuche vor Ort lässt auch für Kassel nichts Gutes erahnen

BLAU Nr. 18

Vielleicht wird ja am Ende doch noch alles gut. Vielleicht wird die Documenta 14 eine kluge, exzellent kuratierte Ausstellung, die das Bild unserer seltsamen Zeit widerspiegelt und die Fragen von morgen stellt. In der Kunst so gezeigt wird, dass sie uns beflügelt und verwirrt, in andere Welten führt und verändert wieder in die Wirklichkeit entlässt. Im Idealfall sind die 37 Millionen Euro aus dem Bundeshaushalt kein Luxus, den wir, wie Richard von Weizsäcker einmal über Kultur sagte, „uns leisten oder auch streichen könnten, sondern der geistige Boden, der unsere eigentliche innere Überlebensfähigkeit sichert“. Die Wiege der europäischen Kultur und unserer gar nicht mehr so selbstverständlichen Demokratie ist Athen – und so klingt die Idee des künstlerischen Leiters Adam Szymczyk, die Documenta zur Hälfte in die griechische Hauptstadt zu verlegen, gar nicht mal so verkehrt. Als Szymczyk seinen Plan vorstellte, war Athen das Zentrum eines europäischen Desasters: Grexitgefahr, Flüchtlingskrise, Hitlervergleiche. Die gravitätische provinzdeutsche Großausstellung an die bröselnde Akropolis zu hieven und ihr den Titel Von Athen lernen zu verleihen, das war smart und sexy, locker und linkspolitisch, fast so, als würde Schäuble sich vom Rollstuhl zu Varoufakis aufs Motorrad schwingen. Aber irgendetwas daran fühlte sich damals schon zu gewollt an. Szymczyk ist kein dezidiert sozialkritischer Kurator. Aber er weiß, was im Kunstbetrieb angesagt ist. Als Direktor der Kunsthalle Basel hat er trendkonform den Konzeptromantiker Bas Jan Ader ausgestellt und die geometrischen Bildchen von Tomma Abts, und er hat 2008 die sprödeste Berlin Biennale überhaupt ausgerichtet, die den Utopien der Nachkriegsmoderne hinterherflatterte wie ein Fähnlein im damaligen Kuratorenwind. Die Geste, nun erstmals eine Documenta zu verschiffen und dann auch noch an einen symbolbeladenen Ort, muss ihm also extrem radikal vorgekommen sein. Und radikal sein – ein Ansatz, den man eigentlich Künstlern überlassen sollte –, radikal sein wollen viele Superkuratoren, auch wenn nach allem Theoriegetrommel in ihren Ausstellungen meist wenig davon zu spüren ist. Die Documenta selbst war von Szymczyks Idee wenig begeistert. Sie stellte nur einen Bruchteil des Budgets für Athen zur Verfügung, weshalb Szymczyk andere, private Quellen in Griechenland anzapfen musste, was der größten deutschen Vorzeigeausstellung nicht gerade gut zu Gesicht steht. Das hielt den ehemaligen Außenminister Frank Walter Steinmeier nicht davon ab, sich über die „künstlerische Brücke“ zwischen beiden Ländern zu freuen. Daraufhin antwortete Szymczyk – der sich, wie die Documenta auf ihrer Website betont, gerade auf einer Recherchereise im südafrikanischen Johannesburg und in Bamako, Mali, befand –, die Documenta 14 „möge in der Tat dazu beitragen, eine Brücke zu bauen – und zwar die politische Brücke, über welche die Flüchtlinge, die ein sicheres Zuhause in Europa finden müssen, gehen können“. Das klang, als sei Szymczyk gerade als Weltpolizist unterwegs, der Steinmeier mal kurz seinen Job erklärt. Der Ton dieser Documenta war damit gesetzt. Er passt zu dem achtköpfigen Kuratorenteam, das Szymczyk sich als politisch versierte Schützenhilfe ins Boot holte und das allein aus seinen Freunden besteht, die man teils aus seinem früheren Umfeld kennt. Es sind hartgesottene Diskurskuratoren wie Dieter Roelstraete, Hila Peleg oder Bonaventure Soh Bejeng Ndikung – ihre Themen mäandern zwischen deutscher Kolonialgeschichte, Handwerk und Digitalisierung, Dokumentation und Partizipation, Kultur der Affen und dem Ende der Kunst. In Athen wollen sie nun alle zusammen einen politischen Sound kreieren. Doch was man bisher hört, ist die pure Kakofonie – und Griechenland oder Europa spielen darin kaum eine Rolle. Das wurde spätestens im letzten Herbst klar, als das „Public Program“ der Documenta startete. Unter dem Titel The Parliament of Bodies wurde die antike Idee der Agora heraufbeschworen, des politischen Theaters, an dem jeder Einzelne mitbauen sollte. Es ging um „Freiheitsübungen“ und das „Versagen der Demokratisierung unter dem Regime des Neoliberalismus“. Der zehntätige Marathon mit stundenlangen Performances, Vorträgen oder Aktionen lief bewusst ohne Stühle oder feste Architektur ab, denn man wollte „der Haltung der ästhetischen Betrachter*innen und den neoliberalen Konsument*innen möglichst wenig Raum geben“. Umso wichtiger waren dafür Themen wie die kurdische Revolution in Rojava, Öko-Sex, Aids- Aufklärungskampagnen, Queer-Indigenismus und radikale Performativität. „Insgesamt entsteht daraus eine ganz andere politische und poetische Landkarte Europas als jene, die wir von der Europäischen Union kennen“, so lautete die Zielvorgabe. Doch das Ergebnis war eher eine Sickergrube. Griechenland und Europa, oder auch einfach nur die Kunst selbst, fehlten ebenso wie der Austausch mit dem Publikum. Das „Public Program“ war nur eine von vielen Enttäuschungen, die der Athener Kunstszene weitgehend die Lust auf die Documenta genommen haben. Besuche der Kuratoren in Ateliers, Galerien und Kunsträumen der Stadt fanden offenbar kaum statt, Anregungen und Kritik von Einheimischen waren unerwünscht. Stattdessen sah es bald so aus, als lieferte Athen nur die Hintergrundmusik für einen neokolonialistischen Trupp, der hier blindlings einmarschiert war und nun hinter verschlossenen Türen agiert. Untermalt wird dieses Bild durch die Tatsache, dass unter den Documenta-Kuratoren kein einziger Grieche sitzt. Stattdessen gibt es eine Reihe „kuratorischer Berater“, die im echten Leben selbst Kuratoren sind – auf der Documenta dürfen sie nur zuarbeiten. Ähnlich wurde offenbar mit griechischen Künstlern verfahren. Standen viele internationale Künstler schon vor zwei Jahren fest und hatten entsprechend Budget und Vorbereitungszeit, wurden mehrere Griechen erst letzten Herbst angefragt. Und so beschleicht einheimische Kuratoren und Künstler, Teammitglieder und private Förderer das schale Gefühl, die Documenta setze sich mit Athen nicht wirklich auseinander. Und was sagt der Rest der Stadt dazu? Nicht viel – zumindest wissen die meisten Hotelportiers und Taxifahrer, die normalerweise die Agenda der nächsten Monate auswendig kennen, noch nichts von der Veranstaltung. Dabei wird sie ab dem 8. April das EMST offiziell einweihen, das einzige öffentliche Museum für zeitgenössische Kunst im Land. Hinzu kommen das Konservatorium, Teile des Benaki-Museums, eine Ausstellungshalle sowie diverse archäologische Stätten – was bei einigen Archäologen offenbar für Verwirrung sorgte: Nicht jeder griechische Akademiker ist mit zeitgenössischer Kultur vertraut, sodass in Windeseile Grundsatzfragen zur Gegenwartskunst geklärt werden mussten. Von Athen lernen? Das will diese Documenta wohl kaum – und das ist fatal. Selbst wenn die Kuratoren bestimmte Ideen und eigene Hintergründe mitbringen: Will man einen Ort unterstützen, gebietet es allein schon der Anstand, die lokale Kulturszene nicht zu übergehen. So aber verkörpert diese Form vermeintlich kuratorischer Radikalität genau das, was sie verurteilt, wenn sie von Kolonialismus spricht. Und das färbt auf den anreisenden Kunstjetset ab, der es kaum erwarten kann, ins sonnige, brüchige, billige Athen zu fliegen. Yanis Varoufakis hatte schon vor anderthalb Jahren im Kunstmagazin Spike von der Documenta in Athen als „Krisentourismus“ gesprochen – nun spielen ihm Szymczyk und seine Theoretiker in die Hände. Doch wo bleibt bei all dem eigentlich Kassel? Wie wenig Szymczyk sich für den Hauptstandort interessiert, wo die Documenta am 10. Juni eröffnet, ist spätestens seit Anfang März klar: Das Fridericianum, historisches Herz der Documenta, überlässt er Katerina Koskina, der Direktorin des EMST. Sie soll hier eine Auswahl von rund 200 Werken der bisher weitgehend ungesehenen Sammlung ihres Hauses ausstellen, die seit ihrer Gründung im Jahr 2000 ein Nomadendasein fristet. Die Idee war ein Hintertürchen, womöglich, weil Szymczyk zu lange darauf spekulierte, hier die Sammlung des Nazi-Kunsthändlers Hildebrand Gurlitt zu zeigen, für die nun die Bundeskunsthalle Bonn mit ihren klassischen Kunsthistorikern den Zuschlag erhielt. Noch im Januar sprach Koskina davon, den Athenern nach Abzug der Documenta endlich Künstler wie Shirin Neshat, Bruce Nauman, Bill Viola, Lucas Samaras und George Lappas vorzustellen – Künstler, von denen die meisten ihre Sternstunden bereits hinter sich haben. Nun wandern solche Werke nach Kassel. Wir werden also im Jahr 2017 in der Hauptspielstätte der Documenta Werke von Künstlern sehen, von denen jedes zweite Museum in NRW oder Frankfurt längst wichtigere Frühwerke in der Sammlung hat. Selbst wenn sich die Schau zu zwei Dritteln aus Werken auch unbekannter, teils jüngerer Griechen zusammensetzt: Koskina besitzt als Kuratorin kein internationales Renommee, und sie wirkt ein wenig müde, wenn sie davon spricht, Athen und Kassel würden nun „gegenseitig voneinander lernen“. Dabei entsteht vor allem der Eindruck, der Documenta-Leiter hatte einfach keine Idee für sein Haupthaus. Gut möglich, dass er nun in Athen Werke großartiger Künstler zeigen wird, von Hiwa K, Rick Lowe und Nevin Aladag oder Andreas Angelidakis, Marina Gioti und Mary Zygouri – so lauten ein paar Namen der hochgeheimen Liste, die bisher durchgesickert sind. Einige von ihnen werden auch in Kassel ausstellen: in der Grimmwelt, dem Ballhaus und der Alten Hauptpost, in der heute ein Fitnessstudio sitzt. Wozu braucht man da überhaupt noch ein Fridericianum? Diese Frage könnte sich tatsächlich bald stellen. Denn wie lange wird sich die Kunstwelt noch von Kuratoren traktieren lassen, die in größtmöglicher Abstraktion einen Sound des Widerstands zelebrieren und dabei vor allem sich selber feiern? Sichern Konzepte, die von einer denunziatorisch-verschwurbelten Rhetorik leben und die Kunst selbst kaum zu Wort kommen lassen, „unsere eigene innere Überlebensfähigkeit“? Die Documenta wurde 1955 als Zeichen von Dialog und Demokratie gegründet. Beides haben wir von Athen gelernt. Doch ausgerechnet diese Documenta verhält sich so, als ginge sie das alles nichts an.