Von den Stoffen, die uns umgeben: Kassel entidealisiert die Natur mit Kunstharz und Knallbrause
Die Welt – 27. Mai 2014
Alles, was die Natur selbst anordnet, ist zu irgendeiner Absicht gut", erklärte vor langer Zeit einmal Immanuel Kant. Im Umkehrschluss hieße das: Wo der Mensch in die Natur eingreift, entsteht ziemlich viel Blödsinn. Nun ja. Das stimmt, denkt man an den Klimawandel, havarierende Ölbohrinseln oder Fukushima. Doch was ist das überhaupt – Natur? Wie sieht ihr Urzustand aus? Wie die Eiszeit? Planet der Affen? Die Sächsische Schweiz?
Und vor allem: Welche Absicht kann so eine abstrakte Größe wohl verfolgen? Eins steht fest: Natur lässt sich heute nicht mehr einteilen in die alte Vorstellung von künstlich und organisch. Vögel brüten auf Müllteppichen und bauen Nester aus Plastik. Silikon sitzt in Cremes und Haarshampoos und folglich in unseren Körpern. Herzschrittmacher und künstliche Hüftgelenke werden von Handywellen umflort. Und welche Absicht, bitteschön, verfolgt die Natur mit Kakerlaken?
"Den Originalzustand der Natur gibt es doch gar nicht", sagt Susanne Pfeffer, seit einem Jahr Direktorin des Kasseler Fridericianums. "Wind, Stein, Holz, Sonne, Wasser – heute wird alles sofort verwertet und fließt in ökonomische und soziale Strukturen ein. Natur ist folglich alles, was uns umgibt." Nun ist das Fridericianum aber kein Öko-Labor oder Greenpeace-Showroom, sondern ein Museum für zeitgenössische Kunst, in dem Pfeffer gerade ihre zweite Ausstellung "Nature after Nature" eröffnet hat.
Wie sehr dieses Thema gerade junge Künstler umtreibt, zeigt sich hier exemplarisch an Arbeiten von Nina Canell, Björn Braun oder Nora Schultz, sowie noch unbekannten Namen wie Alice Channer, Jason Loebs, Marlie Mul und Ajay Kurian. Sie verwandeln das Haus in ein Experimentierfeld aus fein komponierten Assemblagen, in denen Ölpfützen aus Kunstharz, wassergefüllte PVC-Kissen, komprimierter Plastikmüll, Epoxy-Knete, Knallbrause, Unkraut, Asphalt, Gummischläuche, Kreditkarten, Schneckenhäuser, Kühlschränke, Schokodrops, Rentierflechte und Kunstschaumerde vorkommen.
Auf den ersten Blick sieht das ein bisschen so aus wie mutierte Arte Povera, die in den Sechzigerjahren Stein, Draht, Glas, Kleidung, Salatköpfe und Plastikfolie in die Kunst einführte und daraus mystisch aufgeladene Abstraktionen baute, die den Menschen auf sich selbst zurückwarfen. Von derlei Archaik sind die Künstler in Kassel jedoch weit entfernt.
Wie schon in ihrer fulminanten Antrittsschau "Speculations on Anonymous Materials" stellt Susanne Pfeffer hier eine neue Generation vor, die auf nonchalante Weise überaus komplex über die Bild- und Materialvielfalt unserer Zeit nachdenkt und sie in Objekte überführt, die den Bogen spannen zwischen Biologie und Industrie, Konsum und Körper, Internet und Natur. Jedes einzelne Teil ist dabei so referenzbeladen wie die Welt, in der wir leben.
Und im Gegensatz zu der bunten Post-Internet-Optik der Vorgängerschau, die erstmals einen Überblick bot über die Haltung der Digital Natives zu den Konsumversprechen des 21. Jahrhunderts, wirken diese Skulpturen nicht poppig und illustrativ, sondern in einer Art gebrochener Manufaktum-Ästhetik schlicht und elegant: So hat etwa Nina Canell ein Ikea-Glas mit kondensierter Luft, die aussieht wie milchige Eiswürfel, auf einem Teppichrestquadrat à la Carl André drapiert.
Die filigranen Vogelnester aus Schnüren und Plastikblumen von Björn Brauns Zebrafinken kann man auf einem Regalbrett wie im Naturkundemuseum bestaunen. Und auch Jason Loebs hat seine schillernden Brocken Kupfer- und Siliziumerz, die das Rohmaterial digitaler Technologien bilden, wie archäologische Fundstücke auf ihre Versandkartons gehievt: Bestellt im Darknet – der dunklen Seite des Internets, in der auf anonymen Wegen Illegales vertrieben wird – und bestrichen mit Spezialfarbe, die als Sicherheitsmerkmal für Dollarnoten verwendet wird, leitet Loebs' formaler Minimalismus zu einer geistigen Schnitzeljagd an, bei der man wie bei Wikipedia von einem Thema aufs nächste stößt.
Keine Frage: Seit der Arte Povera ist die Welt komplizierter geworden und seit der Postmoderne unpathetischer – in dem Sinne, dass auch hier, wie schon in der Vorgängerschau, kein Künstler eigene Befindlichkeiten oder gesellschaftspolitische Missstände verarbeitet, sondern mit dem Narrationsgehalt anonymer Materialien hantiert. Wie sonst ist Ajay Kurians Nebeneinander von lackiertem Stein, poliertem Müll und Lutschbonbons mit Sedimentmuster zu verstehen, platziert in Terrarien, die aussehen wie eine Marslandschaft nach der Zivilisation?
"Das ist keine Kunst über Klimaschutz", sagt Pfeffer. "Die Arbeiten zeigen auf, wie idealisiert unsere Vorstellungen von Natur sind, und führen sie auf die Materialen zurück, die unsere Umwelt konstituieren. Dadurch deuten sie auf unsere massiven Umweltprobleme, aber ohne didaktisch oder moralisch zu werden." Das Öko-Design eines Olafur Eliasson, der mit seiner Solarzellenlampe "Little Sun" Menschen in Afrika erleuchten will, wäre hier also fehl am Platz.
Stattdessen geht es um ein neues Denken, wie es der Philosoph Timothy Morton beschreibt: Seine Bücher "Ecology without Nature" und "Hyperobjects" plädieren für die Abkehr von traditionellen Vorstellungen von Umwelt, hin zu räumlich und zeitlich kaum mehr fassbaren Dingen wie Klimawandel oder Nuklearwaffen, die unsere Realität längst mehr beherrschen als irgendeine ideale Natur. Ein theoretischer Trend, den auch viele der ausgestellten Künstler verfolgen.
Dabei ist es lange her, dass Natur Projektionsfläche für ästhetische Revolutionen war – damals, als die Impressionisten den Ausstieg aus dem Atelier in die Landschaft wagten, um dort Seerosen und Sonnenblumen auf Leinwände zu tupfen und erstmals den klassischen Bildraum zu sprengen. In der Nachkriegszeit diente Natur dann vor allem als Symbol für Ur-Energie – siehe Informel, Land Art und Arte Povera – um ab den Achtzigern in eine Vielfalt aus Verweisen auf Identitätssuche, Ausbeutung oder Erlebnispotenzial zu diffundieren.
Den letzten wirklich faszinierenden Gedanken dazu hatte der französische Künstler Pierre Huyghe, der auf der Documenta 2012 einen Komposthaufen in die Karlsaue implantierte, seine Windhündin mit rosa Bein von der Leine ließ und derzeit im Museum Ludwig mit Schalentieren und Aquarien das anthropozentristische Weltverständnis infrage stellt.
"Die Bilder von Natur, die jetzt entstehen, haben mit Materialien zu tun, die man früher nicht kannte. Etwa pigmentiertes Polyurethan-Gießharz, Bioresin oder pulverbeschichtetes Aluminium", erklärt Pfeffer. "Hier geht es weniger um raues Basismaterial, wie es Richard Serra mit seinen Stahlskulpturen aufleben ließ, sondern um Transformationsprozesse." Mit anderen Worten: Woher kommen die Stoffe, die uns umgeben, und wie verändern sie sich? Wie fließen sie in unseren Konsumkreislauf ein und wieder aus – und welche Geschichten erzählen sie über unser Verhalten?
Mit solchen Fragen kommt man in Kassel gerade mehr als anderswo den neuen Themen auf die Spur, mit denen sich Künstler heute beschäftigen. Sie illustrieren hier keine kuratorischen Ideen, wie es derzeit in so vielen Museen und Kunsthallen angesagt ist, und sie dienen auch keinen Blockbuster-Konzepten.
Mehr als zuvor als Leiterin der Berliner Kunst-Werke greift Pfeffer sich Künstler heraus, die für bisher unbeackerte Denk- und Handlungsfelder stehen und fasst sie als ästhetische Phänomene zusammen, deren Wurzeln in der Kunst selber liegen und nicht in den bloßen Behauptungen einer Kuratorin. Im Vergleich zu "Speculations on Anonymous Materials" verweist "Nature after Nature" nun weniger auf einen ironisch-smarten, sondern vielmehr sinnlichen Umgang mit den Ressourcen der Gegenwart.
Vielleicht haben wir es also doch mit Wiedergängern der Arte Povera zu tun: Banales Material wird poetisch umgeschrieben. So banal und poetisch wie komprimierte Luft, pigmentiertes Polyurethan-Gießharz oder Lutschbonbons eben sein können.
© Gesine Borcherdt