Gegen den banalen Alltag hilft nur Magie
/ Welt am Sonntag

Im Jahr 1958 stand James Lee Byars an der Kasse des Museum of Modern Art in New York und wollte die Adresse von Mark Rothko. Nach seinem Besuch im Museum verspürte er das dringende Bedürfnis, sich mit dem Maler zu unterhalten. Er redete so intensiv und überzeugend auf das Kassenpersonal ein, dass man schließlich die Kuratorin Dorothy Miller rief. Sie war von der Obsession des 26jährigen Künstlers sofort fasziniert. Ob sie ihm Rothkos Adresse verriet, ist nicht überliefert, aber sie arrangierte, dass er seine Zeichnungen in einem Fluchttreppenhaus des MoMA zeigen konnte, wenn auch nur für wenige Stunden.

 

Es wurde Byars‘ erste Ausstellung, der bis heute eine der unglaublichsten Erscheinungen der jüngeren Kunstgeschichte ist. Sein Auftreten war das eines Magiers, der das Publikum unweigerlich in seinen Bann zog. Mit goldenem Anzug, schwarzem Zylinder und schwarzen Handschuhen hatte er das Gesicht oft hinter einem Schleier verborgen. Er war der schillernde Exzentriker, der die Welt in ihrer Banalität völlig aus den Angeln hob, ihr Schönheit und Rätsel abgewann und das Gefühl, dass der Mensch sich in eine pure Energiequelle verwandeln konnte.

 

Bis heute versucht man, ihn zwischen Minimal Art, Konzeptkunst und Fluxus einzuordnen, einfach weil der Kontext der Sechzigerjahre dies nahelegt. Auch der Personenkult um Joseph Beuys und Andy Warhol wird oft zitiert. Doch Byars interessierte sich nicht für die Ismen der Kunst. Auch hatte er keinen politischen Auftrag, und die Ironie von Pop lag Lichtjahre von ihm weg. Byars erzählte seine ganz eigene Geschichte – und die ist so ungreifbar, als käme er von einem anderen Stern.

 

„The Palace of Perfect“ heißt die Schau, mit der er nun erstmals in der Galerie Kewenig in Berlin zu sehen ist. In den prachtvollen, neobarocken Räumen macht sie auf schönste Weise klar, dass Byars mit der Kunst seiner Generation nur insofern zu tun hatte, als er deren reduzierte Formensprache aufgriff, um sie zu konterkarieren: Wo die Minimalisten Stahlboxen und Aluminiumplatten im Raum platzierten, ließ Byars Kugeln und Säulen aus Marmor schmirgeln und drapierte einen Narwal-Zahn (der die Welt lange an Einhörner glauben ließ) auf Unmengen weißer Seide. Wo die Konzeptkunst nur noch aus Sprache bestand, legte Byars eine riesige, uralte Amphore auf den Boden und vergoldete sie. Und wo Fluxus einen dadaesken Kampf gegen Hochkunst und Bürgerlichkeit führte, legte sich Byars in einen vergoldeten Raum und tat so, als würde er sterben.

 

Sterben als Transzendenz, als höchste Form der Vervollkommnung: Es ist die letzte Konsequenz eines Werks, das in seiner seltsamen Sinnlichkeit ganz um die Idee der Perfektion kreist. Byars, geboren 1932 in Detroit, reiste von 1958 an zehn Jahre lang immer wieder nach Japan. Der Grundgedanke des Buddhismus – die Beseeltheit der Dinge, gekoppelt an eine zeremonielle Behutsamkeit zum Leben und zu den Materialien – prägte sein Werk von Anfang an. Dass er bald auch in Europa bekannt wurde, ist Anny de Deckers zu verdanken, die ihn hier als erste in ihrer berühmten Galerie Wide White Space in Antwerpen ausstellte. Bald vertrat ihn die Galerie Michael Werner aus Köln. Byars wurde in den Museen Europas heimisch und nahm schließlich an fünf Ausgaben der Documenta teil. Joseph Beuys traf er mehrmals – doch seine Sichtweise auf Mystik und Rituale könnten nicht weiter von dem Deutschen entfernt sein: Hier Fett, dort Marmor, hier Filz, dort Seide, hier die dunkle Schwere der Romantik, dort die vornehme Präzision von Zen.

 

„Mit ihm hatte man das Gefühl, dass es keinen Alltag gab. Er hatte eine irrsinnig positive Ausstrahlung“, erzählt die Galeristin Jule Kewenig. „Unsichtbares konnte er sichtbar machen. Lief man mit ihm durch den hässlichsten Stadtteil, schien es dort plötzlich wunderschön.“ Byars, das war der Künstler auf der Suche nach dem Wunderbarsten. Und mit seinem Hang zur Schönheit und zum Geheimnis, übertragen auf edle Materialien, symbolbeladene Formen und mystische Erzählungen war er der Vorläufer der Postmoderne schlechthin.

 

So ist es nur passend, wenn man in der Galerie Kewenig vor allem Arbeiten aus den 80er-Jahren begegnet. Allein „The Moon Books“ (1989) machen klar, in welchem Kosmos Byars lebte: Auf einem vergoldeten Tisch, der mit fünf Metern Durchmesser einen ganzen Raum ausfüllt, sind Bücher als Halbmonde aus Marmor geschnitten und mit Gold überzogen – sie symbolisieren verschiedene Mondphasen, den Kreislauf des Lebens, die Suche nach dem Sinn. Im oberen Stock sind glattgeschliffene Marmorobjekte in Holzvitrinen drapiert, die aussehen wie abstrahierte Fetische: eine Kugel, ein dreieckiger Klotz und ein Halbkreis so rund wie ein Stoßzahn. Es sind sphärische Objekte, archaisch, voller Grazie und unerklärbar wie der Monolith aus Stanley Kubricks Odyssee im Weltall. Dass so etwas überhaupt realisiert werden konnte, ist Mäzenen und Galeristen zu verdanken. „Er hat immer um Geld gekämpft“, sagt Kewenig. Dass seine Werke verkauft wurden, habe er kaum mehr erlebt. Heute kosten seine Werke zwischen 200.000 und 5 Millionen Euro.

 

Byars starb 1997 in Kairo, wo er nach Kunsthandwerkern suchte, die Gold blasen konnten wie Glas. Zu seiner Idee der Vollkommenheit zählte auch, dass er sich sein Weinglas immer bis zum Rande füllen ließ – geschah dies nicht, gab er es zurück. Ganz oder gar nicht: Kaum jemand hat Kunst und Leben so verschmolzen wie er. Er hat darin die Liebe gesehen. Genau deshalb ist er heute wichtiger denn je.