Revolution im Kopf. Ein Treffen mit Julie Mehretu
/ Welt am Sonntag

Julie Mehretu hat der abstrakten Malerei neues Leben eingehaucht, als alle Welt nur von Figuration sprach. Heute werden für ihre Bilder bis zu fünf Millionen Dollar bezahlt. Ein Treffen in Berlin

Welt am Sonntag – 5. August 2012

Es gibt wildere Orte als den Stuttgarter Platz im tiefsten Berliner Westen. Den Tahrir-Platz zum Beispiel. Dort hat Julie Mehretu gerade die Feiern für den neuen ägyptischen Staatschef Mohammed Mursi miterlebt. Eigentlich sollte sie in Kairo nur ein Seminar geben, zusammen mit anderen Documenta- Künstlern. Doch plötzlich war es, als stünde sie mitten in einem ihrer Bilder: ein wirres Gefüge, voller Energie, Ideen und Erinnerungen. „Das war unglaublich aufregend! Und jeder war sich bewusst, dass alles wieder zusammenbrechen kann. Wir wissen eben nichts über die Zukunft.“

Mehretu schließt vor dem „Gasthaus Lentz“ ihr Fahrrad an. Drum herum: Altbauten, Sandkästen, Feinkostläden. Ganz in der Nähe liegt ihre Wohnung, aus ihrer Zeit als Stipendiatin der American Academy in Berlin vor fünf Jahren. Seitdem kommt sie jeden Sommer aus New York, wo sie mit ihrer Frau und zwei Kindern lebt, hierher zurück. In diesem Jahr war Kassel ein weiterer Grund – und die vorläufige Krönung ihrer ohnehin schon rasanten Laufbahn. Auf vier riesigen Leinwänden hat sie für die Documenta 44 Plätze, die Geschichte geschrieben haben, wie Folien übereinandergelegt: Place de la Bastille, Roter Platz, Plaza de la Revolución, Wall Street, Tahrir-Platz. Steile, schemenhafte Fassaden, über die sich ein Schwall aus dunkel zitternden Wirbeln ergießt, durchschnitten von bunten Linien. Eine chaotische, empfindliche Ästhetik, die im Zeitraffer die Systeme der Welt auf Panoramafensterformat bringt und aussieht wie die Hirnwindungen unserer Zeit. Mehretu hat der abstrakten Malerei neues Leben eingehaucht, als Anfang des Jahrtausends alle Welt von Figuration sprach. Heute werden dafür bis zu fünf Millionen Dollar bezahlt. Am Primärmarkt, wohlgemerkt. Julie Mehretu, geboren 1970 in Addis Abeba, ist damit die teuerste Malerin ihrer Generation.

„Kassel waren 13 Monate Arbeit. Erst zehn Assistenten, 60 Stunden die Woche. Und die letzten fünf Monate war ich allein im Studio“, erzählt die Frau mit T-Shirt, Jeans und kurzen schwarzen Locken und bestellt einen Kamillentee, als könnte sie damit ihr Tempo bremsen. Als vor zwei Jahren die Einladung nach Kassel kam, hatte sie gerade zwei Bilder für die Punta della Dogana in Venedig beendet. Will heißen: für François Pinault, einen der weltweit mächtigsten Sammler mit gleich zwei Privatmuseen in der Serenissima. Einer, der das Glück hatte, wie zuvor das Guggenheim Museum oder das Bankhaus Goldman Sachs, eine Auftragsarbeit von Mehretu zu bekommen. Werke, die ohne Anlass entstehen, gibt es nicht. Aber dafür Wartelisten mit 500 Namen.

Und nun Carolyn Christov-Bakargiev, Über- Kuratorin mit Hang zum holistischen Weltbild. Dabei haben es Documenta-Chefs nicht unbedingt mit teurer Marktware. Pop und Pathos à la Damien Hirst oder Neo Rauch hätten in Kassel keine Chance. Doch Mehretu ist ein Grenzfall – vergleichbar mit älteren Kalibern wie Cindy Sherman und Marlene Dumas. Die Institutionen lieben sie, seit sie 2000 bei der legendären Schau „Greater New York“ im P.S.1 zu sehen war. Da hatte sie gerade die Rhode Island School of Design absolviert, von der auch große Namen wie Kara Walker und Andrea Zittel kommen. 2004 folgten Teilnahmen an der Whitney Biennale und Carnegie International. Nebenbei verdrehte sie den Sammlern so sehr den Kopf, dass sie bis heute einmal Ergattertes nicht mehr loslassen – weshalb Mehretus Bilder auf Auktionen praktisch nicht zu finden sind. Auch die Galeristen standen sofort Schlange. Den Zuschlag bekam Jay Jopling von White Cube, der sich die Vertretung mit carlier gebauer in Berlin teilt. In New York feiert sie nächstes Jahr bei Marian Goodman Premiere – aber nur, weil ihre erste Galerie The Project schließen musste: Der Galerist hatte eines ihrer Bilder angeblich zwei Sammlern gleichzeitig versprochen; einer klagte auf Schadenersatz, bekam recht und 1,7 Millionen Dollar.

Doch Marktmechanismen interessieren Mehretu höchstens als System, in dem wir leben. Etwa so, wie eben manche öffentlichen Plätze für Revolution stehen. Für Erinnerung und Aufbruch, für Versprechen ebenso wie für Verzweiflung. „So etwas wie der Tahrir-Platz ist ein starker sozialer Raum, hochgradig aufgeladen mit politischen Sehnsüchten und der Chance auf Veränderung – auch durch die Möglichkeit einer Katastrophe.“ Mehretu gerät in Fahrt und erklärt, dass es ein Aufsatz des Architekturhistorikers Nasser Rabbat war, der sie zu ihrer Kasseler Arbeit getrieben habe: In „Circling in the Square“ nimmt er die bewegte Baugeschichte des Tahrir-Platzes unter die Lupe, von den Mameluken bis zur Moderne. Dem virtuellen Raum aus Texten und Tweets, mit dem die Revolution heute vor allem assoziiert wird, stellt er so ein reales Pendant zur Seite.

Über den Stuttgarter Platz zieht eine Regenwolke. Mehretu schnappt ihre Jacke und ist mit einem Satz im Innern des Cafés. Warum sie sich in Kassel ausgerechnet die Documenta-Halle für ihre Bilder ausgesucht hat, noch dazu einen Durchgangsbereich mit Blick zum Park? Schließlich ist die Stadt als Symbol der Nachkriegsmoderne mehr denn je selbst Thema der Schau, mit Ausstellungsorten in alten Bunkern und Wohnungen „Die Halle war Carolyns Idee, und ich fand sie gut“, meint Mehretu. „Meine Arbeiten konfrontieren den Besucher. Sie sprechen mit ihm, statt ihn in sich hineinzuziehen. Das passt gut zu der Fensterfront.“

Den Blick von außen hat man auch auf ihr Horizontalformat von gigantischen 24 mal 7 Metern, das in der Lobby von Goldman Sachs in Lower Manhattan täglich Hunderte Banker passieren: ein Allover aus unzähligen geometrischen Farbflächen, die wie Plastikschnipsel im Ozean die Fläche rhythmisieren. Darunter erkennt man vage Börsengebäude, Marktplätze und Handelsrouten. In Kassel hat Mehretu ihre Arbeit in vier vertikale Leinwände geteilt. „Mogamma“ lautet der Titel, wie der Regierungsblock am Tahrir-Platz. Auf Arabisch heißt das „Kollektiv“ – ein Wort auch für einen Bau, der Moschee, Kirche und Synagoge vereint. An den nervös hingeworfenen Schraffuren, die wie Protestwellen über die filigranen Konturen der Fassaden hinwegstürmen, sporadisch akzentuiert von bunten Vektoren und Farbrauten, hätten Futuristen wie Umberto Boccioni und Giacomo Balla ihre Freude: Vor hundert Jahren verwandelten sie die klassische Vedute in einen einzigen dynamischen Strudel. Im Gegensatz zu ihnen ist Mehretu zwar keine Militaristin, sieht in der Stadt aber ebenfalls ein Potenzial für Zerstörung und Zukunft zugleich – weshalb ihre Bilder aussehen wie eine Mischung aus Schlachtengemälde und Science-Fiction.

Mit der bildgewordenen Kollektivenergie passt die Arbeit zum Ansatz der Documenta, den Blick über privatmythologische Phrasen hinaus auf die Welt als Ganzes zu richten. Dabei hätte Mehretu auch von sich selbst viel zu erzählen. Von ihrem Vater, einem Professor für Geografie mit afrikanischen Wurzeln. Von ihrer Mutter, die aus einer weißen Familie in Alabama stammt und mit ihm in seine Heimat zurückging. Von ihrer Kindheit in Äthiopien, bis sie mit sechseinhalb Jahren nach Michigan zog. Und von den vielen Reisen durch Afrika und Europa, die früh ihr Bewusstsein für Urbanismus prägten. Doch Mehretu illustriert keine persönliche Migrationsgeschichte. Eigene Erinnerungen fließen bei ihr in eine Haltung, bei der Architektur stets der Gradmesser ist für politische Machtverhältnisse, wie sie seit jeher den Menschen bestimmen – ob es nun Regierungspaläste, Ruinen oder Shoppingmalls sind.

Und so verwundert es kaum, dass Mehretu beim Arbeiten Wert auf den Teamgedanken legt: Jeder der Assistenten in ihrem Atelier am West Highway von Manhattan hat eine spezielle Aufgabe, weshalb 80 Prozent des Erlöses in die Produktion fließen. In langwieriger Recherchearbeit werden Fotos aus Bibliotheken und dem Internet gesucht, am Computer bearbeitet, auf Leinwände projiziert und in akkurate Zeichnungen überführt. Bis Mehretu schließlich selbst Hand anlegt und ihnen diese intuitiv gekritzelte Écriture automatique einschreibt. Die Bilder werden so zu dem, was man heute gern als „mental maps“ bezeichnet: geistige Landschaften – eine Art Psychotopografie, wie sie in poppiger Form auch Franz Ackermann oder Ingrid Calame hervorbringen. Dagegen nimmt sich Mehretus Werk geradezu hochkompliziert aus. Und zugleich überaus sinnlich – was die Acrylschichten dann wieder bewusst abbremsen. 15 sind es insgesamt, die den Bildern in Kassel ihren wachsartigen Firnis verleihen. Versiegelt unter glatten Flächen, haben sie tatsächlich etwas von einer riesengroßen Scheibe. Doch wird der Blick hier nicht wie bei klassischer Malerei auf einen ganz bestimmten Punkt gelenkt, sondern er sucht im Chaos vergeblich nach Halt. „Meine Bilder funktionieren wie ein Palimpsest oder ein Notizbuch“, meint Mehretu, während draußen schon die Wolkendecke aufbricht. „Die immense Informationsflut mündet in ein Bild, das aus sehr vielen Erlebnisschichten besteht.“ Mehretu blinzelt, als die Sonne draußen über die Terrassenstühle tanzt. Irgendwie kann man verstehen, warum der Stuttgarter Platz ihre zweite Heimat geworden ist.

© Gesine Borcherdt