Marc Camille Chaimowitz
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Die Welt – 25. Oktober 2014

Ende der Sechzigerjahre, als andere Künstler den White Cube entdeckten und darin Objekte aufstellten, die ebenfalls wie Würfel aussahen – hart, kantig, maskulin –, entschied sich Marc Camille Chaimowitz, den Raum mit der Flüchtigkeit des Lebens zu füllen. Mit acht Jahren hatte es ihn aus dem existenzialistisch umwölkten Nachkriegs-Paris, in einen Londoner Vorort geworfen. Doch die Sehnsucht nach der Stadt seiner Großmütter ließ ihn nie los, und man muss sie immer mitdenken, wenn man heute in seine ephemeren, eleganten, seifenfarbenen Rauminstallationen eintritt wie in eine Zeitkapsel.

Nun hat man dazu ausgerechnet in einem alten DDR-Trafohäuschen Gelegenheit, in dem die Berliner Galerie Neu sitzt. 40 zartbunte Kanarienvögel flattern hier durch den Raum, ihre Pendants sind 40 Keramikvasen an den Wänden. Produziert wurden sie von einer Majolika-Werkstatt im italienischen Faenza, wo schon die Futuristen ihre Entwürfe brennen ließen. In das Szenario fügen sich zwei rostige Fahrradständer am Boden, die der Künstler Manfred Pernice dort platziert und den Finken einen Lieblingsplatz eingerichtet hat; an der Wand hängt ein Vogelhäuschen von Klara Lidén, dessen Holzlattenfront wie eine kaputte "Unité d'habitation" wirkt.

Chaimowitz kollaboriert gern. Und wenn das Ergebnis einerseits seinem Hang zu Dekoration und Kunsthandwerk entgegenkommt, andererseits den dekadenten Unterton seiner Arbeit betont, entsteht das, womit er zu einem interessanten, dem breiten Publikum aber nach wie vor unbekannten artists' artist geworden ist: Feinsinnige Innenräume mit selbstgestalteten, semi-abstrakten Tapeten, Vorhängen, Möbeln, Teppichen, Keramiken, Fotocollagen, Bildern, Architekturelementen – gelegentlich mit Kanarienvögeln, die alles wie ein unsichtbares Band zusammenfassen und die aquarellartige Atmosphäre der Interieurs unterstreichen. Den Situationen haftet etwas Intimes und Zerbrechliches an, sie klingen melancholisch. Und sie verkörpern, was Gaston Bachelard 1957 in "Die Poetik des Raumes" über das Haus als libidinös besetzten Raum der Erinnerungen und Träume schrieb, der "nicht der indifferente Raum bleiben (kann), der den Messungen und Überlegungen des Geometers unterworfen ist. Er wird erlebt. Und er wird nicht nur in seinem realen Dasein erlebt, sondern mit allen Parteinahmen der Einbildungskraft."

Das war kurz bevor die Kunst in weißkantige Kühlschränke abwanderte. Chaimowitz dagegen hatte schon damals keine Scheu vor viktorianischen Altbauwohnungen als Ausstellungsort.

Dabei hatte Chaimowitz an der Slade School of Art eigentlich als Maler angefangen. Leinwände zerlegte er in mehrere Teile und verteilte sie am Boden: der Auftakt zu den Polyptychen, die später in seinen Installationen auftauchen. Ende der Sechziger kaufte er einen großen Haufen Second-Hand-Schuhe, die er silbern bemalte und als edle Objekte mit einem Freund in der Stadt verteilte.

"Mysterious Activities" nannte er das, bevor er sich entschloss, doch lieber zu Hause zu arbeiten. Denn Fluxus, Happening, Body Art – alles, was damals mit einem dadaesken, anarchistischen Performance-Gestus aufkam – waren ihm fremd, ebenso die kunstimmanenten Themen seiner Zeit. "Rein formalistische Aktivitäten konnten nur in die Isolation führen", erklärte er. Stattdessen wünschte er sich einen Ort, der eine eigene Zeitlichkeit besaß, die sich im Privaten entfaltete und nicht in der Öffentlichkeit. So entstanden Anfang der Siebziger erste Rauminstallationen mit Fotomontagen, auf denen andere, alte Zimmer zu sehen waren – es ergab sich eine Narration außerhalb des Alltags, eine Art idealisierte Realität, in der sich Fragen nach Identität, Erinnerung, Gender und Gesellschaft unterschwellig stellten.

"Das Persönliche ist politisch. Ich unterschrieb die Idee, dass unser inneres Verhalten eine politische Dimension haben kann", sagte Chaimowitz. Tatsächlich steht man in der Ausstellung wie in einem hyperstilisierten, sinnlich-sentimentalen Fantasiegebilde, in dem nichts greifbar ist und trotzdem alles zu spüren. Umhüllt von einem raumgewordenen Gedicht, zwischen Charles Baudelaire und Jean Genet, denkt man ans Paradies und die Ruinen der Moderne, an rätselhafte Bühnenbilder, Concept-Store-Ästhetik und psychedelisches Design à la Memphis – und am Ende diffundiert alles in ein filigranes Gezwitscher. Kitschfrei. Wenn sich hier etwas einfangen lässt, dann wie flüchtig ein Leben ist.

© Gesine Borcherdt