Die Erinnerung an den Mord kam ganz plötzlich. Nach zwanzig Jahren wusste Eileen Franklin-Lipsker auf einmal, wer 1969, als sie acht Jahre alt war, ihre beste Freundin vergewaltigt und ermordet hatte – nämlich ihr eigener Vater. Sie erinnerte, am Tatort dabei gewesen zu sein und dass er das Mädchen mit einem Stein erschlagen hatte. Polizei, Staatsanwaltschaft und Medien stürzten sich auf die Geschichte, die in einen spektakulären Präzedenzfall mündete: George Franklin, der 51jährige Vater, wurde als erster US-Amerikaner rein auf der Basis vermeintlich verdrängter Erinnerungen vor einem Geschworenengericht zu Mord verurteilt. Es war die Ära der frühen Neunzigerjahre, als das von Sigmund Freud erdachte Symptom der „verdrängten Erinnerung“ zunehmend Missbrauchsfälle an die Oberfläche spülte. Im Fall von Franklin warf es jedoch die Frage auf, ob tatsächlich die Wahrheit ans Licht kam, oder nicht vielmehr etwas, das von Therapeuten, Medien oder anderen Faktoren insinuiert worden war?
Die Brandstifterin dieser „Memory Wars“, die nun in einer gleichnamigen Filmdokumentation gewürdigt wird, ist die heute 88jährige US-amerikanische Psychologin Elizabeth Loftus. Die Wissenschaftlerin hinterfragt, wie Erinnerungen zustande kommen, speziell bei Augenzeugenberichten. Als Beraterin erklärt sie vor US-Gerichten, wie falsch und formbar Erinnerungen sein können, was oftmals zu Verurteilungen Unschuldiger führt. In ihrem Archiv stapeln sich die Akten von Gerichtsprozessen gegen Michael Jackson, Kevin Spacey oder Harvey Weinstein. Sie schlägt sich auf keine Seite, wird aber meist von der Verteidigung einbestellt. Ihre Erklärungen, die sie anhand von Studien belegt, führen nicht selten zum Freispruch von Menschen, die die Öffentlichkeit lieber hinter Gittern sehen will. Loftus ist emeritierte Professorin für Psychologie und Jura an der Universität von Washington D.C. Doch von Beginn ihrer Laufbahn an war sie Zielscheibe von Beleidigungen und Anfeindungen, besonders von Frauen, die von anderen Frauen automatisch „Solidarität“ verlangen, ohne dass die Schuldfrage des Mannes geklärt ist.
Im Fall von Eileen Franklin-Lipsker sitzt Loftus mit der Tochter in einer Talkshow und fragt: Wie kommt es, dass sie nur Fakten „erinnere“, die die Medien nach der Tat verbreitet haben? Als Loftus die Glaubwürdigkeit vermeintlich verdrängter Traumata bezweifelt, ahnt sie nicht, wie sehr sie damit unsere Gegenwart vorwegnimmt: „Dann kann ja jeder von uns kommen und sagen: Hey, ich habe das gesehen, und dein Leben ist vorbei.“ Nach ihrem Auftritt titelt die Presse Überschriften wie “Psychologin Elizabeth Loftus behauptet, dass ‚Opfer‘ von Kindheitstraumata Ereignisse erinnern, die nie passiert sind“. Doch Medien, so erklärt Loftus über den gesamten Film hinweg, können die Wahrnehmung so beeinflussen, dass Menschen sie für Wahrheit halten. Wiederholt gezeigte Ausschnitte von Film- und Fotomaterial ohne präzisen Kontext lenken die Meinung der Öffentlichkeit in eine bestimmte Richtung, und auch verbale Formulierungen kreieren Realitäten, die keine sind. Unwillkürlich denkt man an die Bilder hungernder Kinder aus dem Gazastreifen, die auf dem Cover der New York Times und in den Sozialen Medien landeten, bevor sich herausstellte, dass sie gefälscht oder anderen Zusammenhängen entnommen waren. Und man denkt an anklagende Zeitungsartikel gegen Menschen aus dem Kulturbetrieb, die zwar fragwürdige Charaktere darstellen mögen aber nicht zwingend Vergewaltiger sind. In manchen Fällen braucht es gar kein Gerichtsverfahren mehr: Dank der von Medien genährten öffentlichen Meinung sind diese Personen bereits so zerstört, dass eine gerichtliche Strafe kaum mehr nötig ist.
Im Film wird auch der Fall Rodney King besprochen, der 1991 um die Welt ging und durch den Mord an George Floyd wieder aufflammte. Das Video eines Schaulustigen zeigte, wie fünf Polizisten in Los Angeles brutal auf einen am Boden liegenden Afroamerikaner einprügelten. Es wurde in den USA auf allen TV-Kanälen gesendet, George W. Bush hielt eine Rede dazu – doch dann sprach man die Polizisten frei: Nicht allein der Ausschnitt des Videos war von der Jury bewertet worden, sondern auch die Tatsache, dass King auf die Polizisten trotz Vorwarnung zum Angriff überging, und zwar nach einer 160 Kilometer langen Verfolgungsjagd. Loftus war damals Beraterin des Anwalts der Polizisten und konnte erstmals durch Studien belegen, wie mediale Berichterstattung die Wahrnehmung beeinflusst. In diesem Fall schwächte das wiederholt gezeigte Video die Informationen, die sonst noch da waren. Doch der Öffentlichkeit war das egal. Nach dem Urteil stürmte ein wütender Mob die Straßen, steckte Autos und Mülltonnen in Brand, und auch Kings Fürsprecher im Fernsehen wollten die Polizisten hinter Gitter sehen. Fakten zählten nicht. Es war die Erzählung, die sie glauben wollten.
Es ist dieses Phänomen, für dessen Aufklärung Loftus immer wieder kämpft: Gedanken erzählen Geschichten. Ob durch Menschen, Medien oder schlichtweg die eigene Vorstellung implantiert – Loftus kann klar nachweisen, wie oft Menschen, zu denen auch Kronzeugen zählen, unabsichtlich die Unwahrheit sagen. Bei George Franklin führten ihre Analysen und Beweise, die sie eigens für diesen Prozess durchführte und vorbrachte, zu dessen Freilassung, wohlgemerkt nach sechs Jahren Haft – den Geschworenen waren die Medienberichte damals vorenthalten worden, offenbar, weil man der Tochter, die vor Gericht ihr Leid über den Vater klagte, schlichtweg recht geben wollte. Bei Harvey Weinstein sagte Loftus dagegen nach der ersten Runde ab: Zu sehr sah sie sich selbst von den Nachrichten manipuliert, zu sehr Anfeindungen von Frauen ausgesetzt, auch an ihrer Universität, wo manche sich weigerten, mit ihr den Tisch zu teilen oder ihre Klassen zu besuchen. Dass sie in ihrer Rolle als Wissenschaftlerin einen neutralen Standpunkt einnahm? Für Gerechtigkeit und eine Disziplin eintrat, die bei der Rechtsprechung noch viel zu wenig Gehör bekommt? Egal. Die moralische Vorverurteilung ging von Weinstein direkt auf Loftus über. Auch von Staatsanwälten wird sie immer wieder in die Mangel genommen. Der Film zeigt sie beim Verhör: Ob sie eine „Söldnerin“ der Verteidigung sei, von der sie ja bezahlt werde? Loftus bleibt sachlich und erklärt ihre Arbeit, doch man merkt ihr die Anspannung an. Dabei trägt sie nur die Ergebnisse ihrer Experimente vor, die beunruhigend eindeutig sind: Zeigt man Menschen ein Video von einem Autounfall, geben sie die Geschwindigkeit der Fahrzeuge später unterschiedlich an, je nachdem ob der Fragende davon spricht, die Autos seien aufeinandergeprallt oder ineinander gekracht. Auch, wenn kein Glas splitterte, erinnern sich die Teilnehmer bei dem Wort „krachen“ an Scherben, wohingegen der Aufprall diese Assoziation nicht evoziert. Die Studie anlässlich des Franklin-Falls war ebenso eindeutig: Will man jungen Erwachsenen einreden, sie wären als Kind im Einkaufszentrum verloren gegangen, muss man nur Fragen einbauen wie „Aber Sie erinnern sich doch, dass Ihr Name früher einmal öffentlich ausgerufen wurde? Dass Ihre Eltern große Angst um Sie hatten?“ Plötzlich kommen bei den Teilnehmern Erinnerungen an etwas hoch, das nie passiert ist. Was George Franklin damals befreite, ist heute als „False Memory Syndrom“ bekannt aber längst nicht so weit verbreitet wie Freuds „Repressed Memory Syndrom“, was offenbar gut zu der Opferrolle passt, die sich einige Personen gern aneignen und die sich medial ausschlachten lässt. Dabei hat Loftus auch hier festgestellt: „Es gab keine glaubwürdigen wissenschaftlichen Beweise für diese Idee der massiven Verdrängung.“ Freud verließ sich lediglich auf die Dinge, die ihm Patienten erzählten. Loftus unterscheidet somit zwischen „Happening Truth“ und „Story Truth“: das reale Geschehen und die Geschichte, die sich Menschen selbst erzählen, um sich besser zu fühlen, auch wenn sie nicht stimmt. Denn eine Story erfüllt immer einen Zweck – auch bei denen, die nicht direkt betroffen sind, aber sich Betroffenheit aneignen: Ob Prominente durch #metoo vom Sockel geholt werden oder ob die Hamas falsche Fakten streut, die Linke und Studenten als alleinige Wahrheit posten: Das menschliche Hirn tendiert dazu, das zu glauben, womit man es füttert. Das Hinterfragen gesetzter Fakten, wie es im Zeitalter der Aufklärung mit der Bibel geschah, ist offenbar ein mentaler Kraftakt, den man aktiv aufbringen muss, damit die Gedanken nicht den Weg des geringsten Widerstands nehmen.
Am Ende des Films ist man Loftus mit den Worten ihres Bruders dankbar: Dafür, dass sie so tapfer zwischen Unschuldsvermutung und Vorverurteilung durch die Massen (Mob Rule) navigiert. Sie tut dies, um die Integrität eines demokratischen Rechtssystems zu wahren, das mehr denn je durch den medialen Tunnelblick korrumpiert ist und bereits an Vertrauen eingebüßt hat, wie man an Fällen von Amanda Knox über Kevin Spacey bis hin zu dem Briten sieht, der letzten Mai nach 38 Jahren Haft für unschuldig befunden wurde. Offen bleibt im Film die Frage, was mit denen passiert, die solche Menschen auf dem Gewissen haben. Ist es Strafe genug, mit den eigenen Irrtümern zu leben? Und was ist mit denen, die Straftäter davonkommen lassen, weil sie medienmanipuliert sind, falschen Erinnerungen glauben oder schlichtweg die Sympathien der Öffentlichkeit gewinnen wollen? Der Richter, der Ende Juli die radikale Palästina-Aktivistin Yasemin Acar frei- und ihr auch noch seine Hochachtung aussprach, ist nur einer von vielen, die sich entweder auf Social Media feiern lassen oder keinen Ärger von mit Tätern befreundeten Extremisten einhandeln wollen. „Ein Fall besteht aus mehr als dem, was die Medien erzählten,“ sagt Loftus im Film. Man wünscht sich, ihre psychologische Expertise würde noch viel weitere Kreise ziehen, um in einer Welt voller Fake News endlich wieder der Stimme der Vernunft Gehör zu verschaffen.