Neapel – Schaut auf diese Stadt!
/ Monopol

Neapel, das muss die Hölle sein. Eine Müllkippe, ein Mafialoch – ewig bedroht vom Vesuv. Doch hier herrscht auch gute Energie, hier brodelt die Kunstszene. Ein Rundgang durch Südeuropas kreativste Metropole

Monopol – Nr. 2/2008

Ballons. Hunderte von gasgefüllten Ballons, die wie gute Geister durch die Gassen schweben. Über Müllcontainern und Motorhauben, vorbei an zerbröckelten Fassaden, zwischen aufgespannten Bettlaken hindurch, weiter zum Himmel. Aber diese Aktion, die der britische Künstler Martin Creed 2003 geplant hatte, musste abgeblasen werden.

„In Neapel sind die Menschen einfach zu neugierig. Sie hätten uns die Bude eingerannt, um zu sehen, warum Ballons aus unserem Fenster kommen.“ Gigiotto Del Vecchio lacht und nimmt den Kaffee vom Gasherd. Mit den vielen Ausstellungsplakaten an den Wänden und den Gläsern von der Finissage am gestrigen Abend wirkt seine Küche angenehm unordentlich. Ein Balkon führt zu einem winzigen Hof hinaus, dahinter liegt Rione Sanità, eines der ärmsten und gefährlichsten Viertel Neapels. Die Camorra ist hier mindestens genauso verbreitet wie der Müll, der sich, wenn die Deponien wieder einmal streiken, wie eine Schimmelschicht zwischen den barocken Kirchen und Palästen ausbreitet. Dann versinken Madonnenstatuen und Mofas hinter den stinkenden, hochaufgetürmten Plastiktüten, über die sich nachts die Ratten hermachen.

Wenn die Stadt nicht gerade im Dreck erstickt, dann bestimmen Mafiamorde die Schlagzeilen: 111 Familien und über 6.700 Mitglieder der Camorra leben in Neapel. Jedes Jahr sterben etwa 100 Menschen bei Schießereien zwischen den Clans, wobei ein Querschläger auch schon mal einen Passanten treffen kann. Die Regierung hat diese Situation ebenso wenig im Griff wie das Verkehrschaos oder die 65 Prozent Jugendarbeitslosigkeit. Kein Wunder, dass die Camorra immer mehr Zulauf hat: Ein Kleindealer verdient leicht zehnmal so viel wie ein Pizzabäcker. Wer in einem der bassi – dunkle Wohnhöhlen auf Straßenniveau in der Altstadt – groß geworden ist, hat kaum Hoffnung auf einen ehrlichen Job.

Das Einzige, woran die Menschen hier glauben, ist der Schutzheilige San Gennaro, dessen Blut sich dem Mythos nach jedes Jahr zum Namenstag im Reliquienschrein des Doms verflüssigt. Neapel sehen und den Tod riechen – aus der einst glänzenden Metropole ist eine Müll- und Mördergrube geworden, aus der die Kirchtürme hervorragen wie Marterpfähle. Doch nicht alles ist dem Verfall anheimgegeben. Beinahe unbemerkt haben sich hier ein paar Pioniere eingenistet, die der Anarchie und der Armut souverän die Stirn bieten. Von ihren weißen Zellen aus kommunizieren sie schnell und effizient mit dem Rest der Welt und zeigen ihr die andere Seite des Molochs.

Einer von ihnen ist Gigiotto Del Vecchio. Zusammen mit seiner Freundin Stefania Palumbo betreibt er den winzigen Ausstellungsraum Supportico Lopez. Wolfgang Tillmans hat er schon gezeigt, Saul Fletcher und Daniel Pflumm – Künstler, um die ihn manche Galerie beneiden würde. Del Vecchio gießt den Kaffee in zierliche Tassen und schüttet ordentlich Zucker dazu. In seiner Wohnung bewegt er sich so wendig wie in Neapels Kunstszene. „Die zeitgenössische Kunst hat hier eine lange Tradition, die gerade wieder stark auflebt. In erster Linie ist das natürlich den Galerien zu verdanken.“ Galerien? In einer Stadt, die von der Globalisierung weiter entfernt scheint als von der afrikanischen Küste?

Man muss wohl ins Jahr 1965 zurückgehen, um zu verstehen, dass anstelle der Ballons der Geist eines Galeristen durch die Stadt weht. Von ihm spricht jeder, der in Neapel mit Kunst zu tun hat, wie von einem seligen  Der 1994 verstorbene Lucio Amelio gründete damals Italiens erste Avantgardegalerie und schaffte es, Künstler wie Andy Warhol, Joseph Beuys und Robert Mapplethorpe anzulocken. Beuys konnte gar nicht genug von der Stadt am Vesuv bekommen, ihre Lebenskraft fesselte ihn. In seinem Stammlokal La Campagnola aß er am liebsten Risotto Primavera, während seiner Documenta-Auftritte ließ er Spezialitäten aus der Region verteilen. „La Rivoluzione siamo noi“ und die „Capri-Batterie“ – eine Glühbirne, die in einer Zitrone steckt – sind in Neapel entstanden. Einen Monat vor seinem Tod im Januar 1986 zeigte Beuys hier seine letzte Ausstellung.

Heute sitzt in Amelios alten Räumen Alfonso Artiaco. Als Beuys starb, war er 22 Jahre alt und debütierte gerade als jüngster Galerist Italiens. Dafür, dass in Neapel so viel in Kunstdingen passiert, hat er eine Erklärung: „Der Vulkan! Die Stadt ist unterhöhlt von Gas, wir leben ständig mit dem Tod vor Augen.“ An den Hängen des Vesuv sind in den vergangenen zwanzig Jahren trotz Warnungen und Wegzugprämien mehr als 50.000 Häuser gebaut worden. Statt den Politikern vertraut man eben San Gennaro. Dass auf den Mauern Neapels zahllose Skelette und Totenköpfe sitzen, zeugt von einem fröhlichen Fatalismus: Der Tod wird nicht gefürchtet, sondern gefeiert. Artiaco beugt seinen massigen Körper nach vorn und flüstert: „Diese Energie überträgt sich auf die Menschen, im Guten wie im Schlechten!“

Die gute Energie bekommt Giangi Fonti gerade stark zu spüren. Der 34-Jährige hat sich im internationalen Kunstbetrieb in kurzer Zeit einen Namen gemacht. Seine aktuelle Ausstellung von Seb Patane, der gerade in der Tate Gallery zu sehen war, ist ausverkauft – alle Arbeiten an neapolitanische Sammler. Neulich war der Kurator Adam Szymczyk zu Besuch und hat Michel Auder – 62-jähriger Filmkünstler aus New York und Exmann von Cindy Sherman – zur 5. Berlin-Biennale eingeladen.

Wenn man Fonti fragt, was es mit Neapels Kunstszene auf sich hat, raunt er den Namen Amelio: „Er war der Galerist der ersten Stunde und hat Neapel auf die Kunstlandkarte geholt.“ Aber nicht alles hat mit Galerien zu tun. Etwas ganz Besonderes sei die „Metropolitana“: Auf jeder U-Bahn-Station der Linie 1 ist Kunst zu sehen, die Menschen mögen das. In Berlin hätte man Jannis Kounellis’ Wandarbeit aus aufgereihten Lederschuhen sicher längst zum Fußabtreter umfunktioniert. Die Installationen auf der Piazza del Plebiscito werden dagegen nur vorübergehend, nämlich jedes Jahr zu Weihnachten, errichtet. Rebecca Horn griff 2004 tief in die Esoterikkiste und überzog den von Säulengängen und Prachtbauten gerahmten Platz mit runden Leuchtstoffröhren, die wie Heiligenscheine über bronzenen Totenschädeln am Boden schwebten.

Doch die Achtziger-Jahre-Kunst bekommt immer mehr Gegenspieler. Im vergangenen September eröffnete der Sammler Maurizio Morra Greco eine Stiftung, in einem brüchigen Palazzo in der Nähe des Doms. Gerade zeigt er Eric Wesley, einen Künstler aus Fontis Programm: Der Kalifornier hat im Keller ein Schwimmbecken installiert und im oberen Stock ein paar knallorange Abflussrohre aufgetürmt. Früher war hier eine Klosterschule, später wurde sie in Apartments aufgeteilt. Morra Greco hat sie aufgekauft und nun öffentliche Unterstützung beantragt, um sein Artist-in- Residence Programm umzusetzen. Am Eröffnungsabend schüttelt Eric Wesley so viele Hände, dass er ständig mit Weinglas und Zigarette jonglieren muss. Er ist begeistert: „Neapel hat eine ähnliche Energie wie Mexiko-Stadt. Chaotisch, heiß und kreativ!“ Auch wenn Morra Greco kühl wie ein Profi lächelt: Seine Augen glänzen, denn der Palazzo ist so voll wie eine Sonntagsmesse. Befreundete Ärzte und Anwälte, Studenten, Verwandte, Galeristen – man kennt den Zahnarzt mit der Kunstsammlung, in der „alles außer Malerei“ zu finden ist. Gigiotto Del Vecchio schmunzelt in sich hinein, wenn er davon hört: Er hat Morra Greco jahrelang beraten und ihm gezeigt, dass es außer Gemälden des 19. Jahrhunderts auch Videos und Installationen gibt.

Wer die Fondazione Morra Greco sucht, wird oft in die Einrichtung eines anderen Herrn Morra geschickt, Vorname Peppe. Der ehemalige Galerist hat im barocken Palazzo dello Spagnuolo, vor dessen opulentem Eingangstor die fliegenden Händler ihre gefälschten Prada-Taschen gleich neben den Fischständen auslegen, die Fondazione Morra gegründet. Hier betreibt er heute eine Bibliothek, ab und zu gibt es Lesungen und Performances, gerade läuft eine Ausstellung von Hermann Nitsch mit blutbefleckten Bettlaken. „2001, kurz bevor all die jungen Galeristen kamen, habe ich meinen Laden zugemacht.“ Der freundliche Herr Morra, der zu Amelios Zeiten auf Body-Art und Wiener Aktionismus spezialisiert war, schüttelt den Kopf, als schon wieder ein Poststapel für seinen Namensvetter auf seinem Schreibtisch liegt. Mit dessen Kunstkonzept hat er nämlich nun gar nichts gemein.

1974 fand in seiner Galerie die legendäre Performance von Marina Abramovic statt, bei der das Publikum die jugoslawische Künstlerin mit allerlei Utensilien – darunter ein Lippenstift, eine Gabel, Weintrauben und eine Pistole – traktieren durfte. Sie endete beinahe mit dem Tod von Abramovic, als jemand nach sechs Stunden den Revolver nahm und ihn entsicherte. Ein Zuschauer ging rechtzeitig dazwischen – und brachte so Neapels Kunstszene um eine eigene Märtyrerin.

Galeriegeschichte hat auch Lia Rumma geschrieben. Sie tut es noch. 1971, als die Konzeptkunst noch am Anfang war, zeigte die Grande Dame mit der heiseren Stakkatostimme schon Joseph Kosuth. In den achtziger Jahren holte sie mit Cindy Sherman und Andreas Gursky die Stars der Fotografie nach Italien. Damit war sie so erfolgreich, dass sie später eine Dependance in der Marktmetropole Mailand eröffnete, wo die Bürgersteige genauso blank poliert sind wie die Marmorstufen von Dolce & Gabbana. „Von hier aus verkaufe ich besser nach Deutschland und in die Schweiz. Aber meine Galerie in Neapel würde ich niemals schließen. Inzwischen haben wir hier das Museo Madre und das PAN – zwei Museen, auf die andere italienische Städte seit Jahrzehnten warten!“

Das ist ein altbekanntes Kreuz: In Italiens Ämtern interessiert man sich für Kunst nur, wenn sie älter als 300 Jahre ist. Außer in Turin und Rivoli gibt es kaum zeitgenössische Institutionen im Land – und wenn, dann sind sie privat initiiert. In Neapel hat man das Madre vor allem einem Politiker zu verdanken, der eine üppige Förderung durch die Region Kampanien arrangiert hat. In der Nähe des Doms wurde 2005 auf alten Mauerresten der helle Neubau von Álvaro Siza errichtet. Im Obergeschoss kann man einen fast lückenlosen Schnellkurs in jüngerer Kunstgeschichte durchlaufen, von Donald Judd bis Douglas Gordon; unten zieht sich ein labyrinthisches Raumkonzept mit Wechselausstellungen junger Künstler bis in den Innenhof. Alles wirkt noch etwas unbeholfen, was vielleicht auch daran liegt, dass in jedem noch so kleinen Raum eine Aufsichtskraft ist, aber kein einziger Besucher. Doch Gigiotto Del Vecchio steht auch hier beratend zur Seite, gerade hat er die Ausstellung mit Lorenzo Scotto kuratiert – auch er ein Künstler von Fonti.

Das PAN wurde im selben Jahr, 2005, gegründet – in einem Palazzo im Boutiquenviertel, wo statt Abfalltüten Palmen und Schaufenster die Straßen säumen. Bei einer Arbeitslosenquote von 25 Prozent kann das PAN als städtisch gefördertes Museum kein großes Budget vorweisen. Julia Draganovic, die deutsche Direktorin, zeigt hier zwar nicht Erstklassiges, aber immerhin Internationales. Momentan junge Kunst aus Taiwan, die hinter den alten Mauern wirkt wie ein iPod in einem Reliquienschrein.

Dass Neapels Museen ihren Blick weit über die ewige Fundgrube der Arte povera hinaus richten, hat ähnlich wie bei den Galerien eine Tradition, die in Italien einzigartig ist: Als es das PAN und das Madre noch nicht gab, brachte man Richard Serra und Damien Hirst einfach im Archäologischen Museum unter. Und selbst die berühmte Gemäldegalerie, das Museo Nazionale di Capodimontemit seiner Caravaggio-Sammlung, besitzt eine Sektion für Zeitgenössisches, wo der Popfotograf David LaChapelle vor zwei Jahren seine „Very Important Portraits“ zeigte. Der Totenkult, den Neapel so leidenschaftlich pflegt wie Mailand seine Lifestylelabels, bezieht sich also nicht auf die Künstler.

Erst recht nicht bei T293. Das Programm der Galerie ist so jung und konzeptuell, dass man sie eher in einem Baucontainer als in der Via Tribunali vermuten würde. Zwischen überquellenden Müllsäcken, kaputten Sperrholzkisten und Weihnachtskrippenwerkstätten voller blinkender Madonnen und Plastiktotenschädel, die sich in der Gasse das ganze Jahr aneinanderreihen, öffnet sich eine kleine Eisentür zu einem feuchten Gang, der aussieht, als führte er in die Katakomben oder direkt in ein Massengrab. Stattdessen kommtman in einen kleinen, schicken White Cube, wo Marco Altavilla und Paola Guadagnino seit vier Jahren arbeiten. „Wir sind Aliens hier“, sagt Altavilla leise, während draußen die Alarmanlage eines Autos losheult. „In Neapel ist alles chaotisch und kompliziert. Allein einen Boten von A nach B zu schicken geht nicht so einfach. Man muss sich jeden Tag neu erfinden.“ Fremd sind auch ihre Künstler, von denen kein einziger in Neapel lebt. „Sie kommen nie für länger, sondern nur, um etwas zu produzieren. Neapel reizt sie – es ist nicht so kalt und strukturiert wie Mailand und nicht so historisch überfrachtet wie Rom. Und der Markt läuft gut: Wir verkaufen 50 Prozent nach Neapel und Italien, 50 Prozent ins Ausland.“

Wenn er so etwas hört, verzieht Umberto Raucci von der Galerie Raucci Santamaria den Mund zu einem schmallippigen Lächeln. „Die jungen Galerien müssen sich erst noch bewähren.“ Mit seinem Partner Carlo Santamaria hat er sich lange mit Designhandel über Wasser gehalten, heute findet man Italiens Möbelmeister Gio Ponti und Carlo Scarpa nur noch in den Wohnräumen hinter der Galerie: ein eleganter Neubau mit Garten hinter einer Tankstelle am Fuß des Capodimonte-Parks, mit Blick auf die löchrigen Dächer von Rione Sanità. Zurzeit wird eine Ausstellung mit Norbert Schwontkowski abgebaut. „Wir haben den Weg für die anderen frei gemacht. Weil der Markt gerade boomt, ist es nicht mehr so ungewöhnlich, hier eine Galerie zu haben.“

Vor allem aber, weil hier mehr kreative Kraft liegt als in jeder anderen Metropole Südeuropas. Neapel brodelt, ohne sich wichtigzumachen. Der Sammler Maurizio Morra Greco öffnet seine Wohnungstür im Unterhemd, um den Gästen aus Basel und Berlin höchstpersönlich fünf Gänge neapolitanische Hausmannskost zu servieren.

Und dennoch: In einer Stadt, in der sich alle paar Monate Abfallhaufen wie kleine Vulkane in zugeparkten Straßen auftürmen, wo Gesetze höchstens gutgemeinte Ratschläge sind und selbst die Camorra- Clans nach Chaostheorien handeln, muss man schon die Abgeklärtheit eines Paten besitzen, um das nächste Kunstprojekt vorzubereiten.

Wer es aushält, dieses Leben zwischen Blutwundern und Müllbergen, Straßenschlachten und Totenkult, weiß nur eines sicher, wenn er den Tag beginnt: dass abends die Sonne hinter dem Vesuv im Meer versinkt. Langsam und schwebend, wie ein großer, roter Ballon.

© Gesine Borcherdt