Unter den Machos der Minimal Art ist Robert Morris der emotionalste und intuitivste. In Berlin bitten nun seine alten und ganz neuen Skulpturen zum Tanz
Die Welt, 31. Dezember 2016
Die Karriere beginnt mit einer Platzwunde. In seinem Atelier an der Lower East Side in New York City – 1961 noch eine dunkle Zone auf dem Stadtplan Manhattans – klettert Robert Morris in eine aufrecht stehende Holzkiste, die genau seiner Körpergröße entspricht. Er will für seine Vorstellung am Abend im Living Theater üben, wohin der Musiker La Monte Young befreundete Künstler eingeladen hat. Jeder bekommt sieben Minuten für einen Auftritt. Morris braucht nicht mal eine: Er kippelt, die Kiste fällt um – und Morris schlägt sich die Augenbraue auf. Die Wunde wird genäht. Am Abend steht er leicht lädiert hinter der Bühne und bringt „Column“ mit einer Schnur zum Kippen: Die „Säule“ – in der Antike als Architekturpendant zum menschlichen Körper entwickelt – wird von der Schwerkraft niedergestreckt und bleibt als Skulptur am Boden liegen. Ein Moment, der Kunstgeschichte schreibt. Es hilft, diese Episode im Hinterkopf zu haben, wenn man heute eine Ausstellung von Robert Morris durchwandert – so wie jetzt in der Berliner Galerie Sprüth Magers, die ihn hier zum zweiten Mal zeigt. Allein der mannshohe, von innen verspiegelte Holzrahmen ist dort eine weitere Punktlandung aus dem Jahr 1961, die seinen berühmten L-förmigen Polyedern, den Spiegelboxen am Boden und den Filzstreifen, die sich wie Elefantenhaut von der Wand in den Raum pellen, in nichts nachsteht. Solche Objekte gehören zu den tragenden Säulen der Minimal Art und des Postminimalismus – Kunst aus einfachen, unpersönlichen Formen und Materialien, die man auf einen Blick erfasst. Doch sie sind vor allem eines: Körperkunst. Im Gegensatz zu anderen Beispielen dieser heute etwas altersstarr daherkommenden Ismen erlebt man Morris’ Skulpturen als anthropomorphe Module, die einen die eigenen Gliedmaßen spüren lassen und die Atmosphäre, durch die man sich bewegt. Ihre ruhige Präsenz lässt den Raum sanft pulsieren, wie eine Bühne vor dem nächsten Akt. „Die besseren neuen Arbeiten nehmen die Beziehungen aus der Arbeit heraus und machen sie zu einer Funktion von Raum, Licht und Gesichtsfeld des Betrachters“, schrieb Morris 1966 in seinen „Anmerkungen über Skulptur“. Der Kritiker Michael Fried beschwerte sich daraufhin über die Theatralität seiner Objekte, weil sie ihr Gegenüber auf Distanz halten. Und die Kunstgeschichte steckte ihn in eine Schublade mit den Minimal-Art-Machos Donald Judd, Carl Andre und Dan Flavin. Was sie jedoch gerne vergisst: Robert Morris (geboren 1931 in Kansas City, Missouri) kommt vom Tanz. Ende der Fünfzigerjahre lebt er mit seiner ersten Frau in San Francisco, der Tänzerin Simone Forti. Sie macht ihn mit strukturalistischen Ideen vertraut und entwirft Choreografien, die nur noch auf einfachsten Regeln basieren. Ihren Umzug nach New York beflügelt das Judson Dance Theater in einer Kirche am Washington Square Park: Im Umfeld von Yoko Ono, Merce Cunningham und Yvonne Rainer wird der moderne Tanz revolutioniert – man treibt ihm seine metaphorischen Züge aus und reduziert Bewegungen auf die pure Körperwahrnehmung. Robert Morris’ „Column“ ist ein Ergebnis dieser Zeit, ebenso wie die Arbeit „Box with the Sound of Its Own Making“: Der Musiker John Cage hockt dreieinhalb Stunden im Studio seines Freundes und lauscht in eine Kiste hinein, in der ein Tonbandgerät hämmernde Klänge von sich gibt. Es ist die Geburtsstunde einer neuen Kunst: Skulptur wird auf ihre faktische Information zu Form und Material reduziert, die Erzählung hat ausgedient. „Presence“ und „place“ sind nun die aktuellen Schlagworte. Die neuen Themen heißen Proportion, Form und Masse – was natürlich an amerikanische Industrieeinheiten denken lässt und somit doch einen gesellschaftskritischen Impetus versprüht. Persönliche Befindlichkeiten verschwinden aus dem Blickfeld, der mentale Raum eines Werks löst sich auf, und Bedeutung verlagert sich nach außen, auf das Umfeld und den Betrachter. Radikal-puristischer konnte der Schnitt mit den wilden Gesten des Abstrakten Expressionismus nicht sein, obwohl Morris einmal zugegeben hat, sein Tanzinteresse rühre von Jackson Pollocks Malperformance über der am Boden liegenden Leinwand her. Doch die New York School verkörpert einen in der europäischen Tradition verhafteten Formalismus, den die Minimalisten komplett ablehnen. Sie lesen lieber Maurice Merleau-Pontys „Phänomenologie der Wahrnehmung“, die gerade ins Englische übersetzt worden ist. Morris stürzt sich in eine Kunst, die nichts mehr darstellen, sondern urtümliche Wahrnehmungserlebnisse auslösen will: Holzkisten und Spiegelflächen werden zur angewandten Gestaltpsychologie, zu Zen-artigen Energiekörpern, deren Eleganz und Eindringlichkeit den Raum und den eigenen Körper in eine Art Schwebezustand versetzen. Nun muss man dazusagen, dass Morris als begnadeter Autor zahlreicher Aufsätze zu diesem doch auch theorielastigen Thema einen immens trockenen Humor besitzt. Im Interview antwortet er so einsilbig, dass man es nicht drucken kann. Und auf die Frage, wieso er nach so vielen Jahren dem immer gleichen Konzept hinterherjagt, sagt er: „Ich weiß nicht, wovon Sie sprechen. Ich folge meiner Intuition.“ Beim Anblick einer Holzkiste klingt das etwas seltsam. Doch genau diese Mischung aus Witz und Bauchgefühl ist bei Sprüth Magers zu spüren. Im Hauptraum hat er ein Spiegelkabinett aufgebaut, in dem man sich wie „Citizen Kane“ unendlich vervielfältigt sieht, was Verwirrung auslöst, aber auch die Wahrnehmung erhöht. Dass sich Morris tatsächlich von Orson Welles’ Klassiker inspirieren ließ, widerspricht der Referenzferne der Minimal Art. Doch eben dieser anspielungsreiche Unterton hebt Morris’ Arbeiten aus seiner Epoche heraus, macht sie sinnlich und süffisant. Und wenn man durch hölzerne Bögen spaziert, sich in einem schwebenden Aluminiumblitz betrachtet und auf einem rustikalen Balken niederlässt – dann fühlt sich das an wie eine Bühne, auf der einen die Skulpturen wie Schauspieler zum Tanz auffordern. Bewegen muss man sich allerdings noch selbst. Robert Morris zieht nur die Fäden.
© Gesine Borcherdt