Mit ihrer Kunst überwand Ruth Wolf-Rehfeldt die Grenzen der DDR. Nach dem Mauerfall aber wurde sie vergessen. Ein historischer Fehler
Die Welt, 27. August 2016
Marshall McLuhan hat gesagt, eine Schreibmaschine zu benutzen, sei wie einen Drachen steigen zu lassen. Vielleicht kannte Ruth Wolf-Rehfeldt diesen Satz. Sie saß in den 70er-Jahren in Ostberlin und hatte eine Kaufmannsgehilfenlehre hinter sich. Die Entscheidung aus dem sächsischen Wurzen zu ihrem Verlobten nach Berlin zu ziehen, hatte ihr Leben verändert.
Robert Rehfeldt hatte sich in den Kopf gesetzt, ihr Malen beizubringen, so wie er selbst es tat, und zeigte ihr wie man Leinwände aufzog. Ein paar Jahre blieb sie dabei. Aber etwas in ihr war stärker: Der Wunsch, Bilder aus Worten zu machen. Also setzte sie sich an die Schreibmaschine, zog Papier ein, so wie sie es im Büro getan hatte – und was nun entstand, gehört zu den erstaunlichsten Werkkomplexen der jüngeren Kunstgeschichte: Die „Typewritings“ der Ruth Wolf-Rehfeldt.
Zunächst sind es nur einzelne Wörter wie „Freedom“, „Stillleben“ oder „Wait“, die sie aufreiht und in geometrische Formengebilde verwandelt. Doch bald benutzt sie alle Zeichen der Schreibmaschine: Zahlen, Buchstaben, Schrägstrich, Komma, Plus und Minus. Sie werden zu Vierecken ineinandergeschoben, stolzen Pyramiden, geraten aneinander, springen davon, regnen herab. Es sind Abstraktionen voller Leben und zartem Humor, sehen ein bisschen aus wie Menschen, Bäume und Gefühlszustände und vor allem wie Gebäude – Kuben, Kästen, Käfige. Sie erzählen von dem existenziellen Gefühl, in Unfreiheit zu leben. Sie tun das aber auf eine verblüffend sanfte, leichtfüßige Art, so lebendig und luzide, wie es kaum einer ihrer Zeitgenossen vermag.
Konkrete Poesie ist damals die Dichtung der Stunde, in den 70ern erlebt die Kunst unter dem Einfluss Ludwig Wittgensteins den „Linguistic Turn“, Konzeptkunst wird zur Schrift. Ruth Wolf-Rehfeldt aber entwickelt ihre Sprache aus sich selbst heraus. Auch wenn sie sich mit Systemtheorie befasst, gehört sie keiner Gruppe an. Schon gar nicht in einem Land, das sich einem starrbiederen Figurenprogramm verschrieben hat. Dass auch bekannte Künstler wie Carl Andre, Jiri Kolar oder Henri Chopin Schreibmaschinenbilder fabrizierten, erfährt sie erst viel später. Und trotzdem war Ruth Wolf-Rehfeldt mit mehr Menschen auf der Welt vernetzt als alle anderen zusammen.
Viele ihrer Zeichnungen entstanden im Postkartenformat. Sie wurden zur sogenannten Mail Art – zunächst als Beigaben ihres Mannes, der dieses Genre eifrig befeuerte und dafür später berühmt wurde. Doch bald hatte sie ihre eigenen Brieffreunde: in Mexiko, den USA, Italien, Westdeutschland, Polen, der Schweiz. Mail Art war damals ein Ventil, sich zu verbinden, ohne konkrete Botschaften zu senden. Es reichten Linien, Andeutungen, halbe Sätze. Es ging um Gedankenfreiheit, die Erschließung neuer Horizonte, in der Kunst wie in der Kommunikation. Ruth Wolf-Rehfeldts Sprache ist grenzenlos und somit auch ihre Welt. „Ich hatte den Ehrgeiz, wie eine Spinne im Netz, zu jedem Ort der Erde meine Fäden zu spinnen“, notiert sie. Tatsächlich fängt die Stasi Briefe des Ehepaars ab, kann mit ihren Botschaften allerdings nichts anfangen.
Es ist ein seltsamer Himmel, in den diese Künstlerin ihren Drachen steigen lässt. Wie ein Glassturz überspannt er die DDR und den Underground, Kleinbürgerbürokratie und Weltkommunikation, Maschinenbetrieb und Informationszeitalter. Mit der Wende zerspringt er und schickt den Drachen in die Unendlichkeit. Ihr Mann stirbt, ein Auftrag für eine Wandarbeit wird abgesagt. Die neuen Techniken machen ihre Medien obsolet, Schreibmaschine und Briefpost sind plötzlich so schnell vorbei wie der Kalte Krieg. Und so hört Ruth Wolf-Rehfeldt 1989 auf. Sie schreibt ihrem Werk damit eine eigene Zeitlichkeit ein – doch der Zauber bleibt, auch wenn sich zunächst niemand daran erinnert.
Schreibmaschine, das heißt für viele vor allem Konrad Klapheck, der in Düsseldorf sitzt und seine Gemälde „Der Herrscher“ oder „Der potente Großvater“ tituliert und die Schreibmaschine zur Stellvertreterin des spießigen Nachkriegspatriarchats macht. Doch die westdeutsch vermuffte Pop-Symbolik könnte von Ruth Wolf-Rehfeldts Kompositionen nicht weiter entfernt sein. Die Käfighaltung des modernen Menschen wird bei ihr nicht gehämmert, sondern geträumt, gedacht, sorgsam gesetzt. Es ist eine Poesie, die bürokratische Prozesse spielerisch aufgreift, entlarvt und doch niemals plakativ wird.
Als ihr 2009 das Bremer Museum Weserburg eine Ausstellung widmet, ist Ruth Wolf-Rehfeldt überrascht – und noch mehr, als die junge Berliner Galeristin Jennifer Chert im Rahmen der Recherche zu einer Mail-Art-Ausstellung auf sie aufmerksam wird. Sie besucht sie in Berlin-Pankow, richtet ihr eine Einzelschau aus und zeigt sie als Solopräsentation auf der letzten Art Basel. Heute betreut die Galerie ihr Archiv: Eine Punktlandung, wie sie sich derzeit viele Galerien wünschen. Kaum eine kommt mehr ohne Wiederentdeckung aus, und sei sie noch so fragwürdig. Bei all der eilig produzierten jungen Kunst scheint es, als wäre das Alter allein ein Garant für Glaubwürdigkeit. Doch das stimmt nicht. Längst nicht jeder besaß den Mut zur Gegenläufigkeit – und schon gar nicht zum Aufhören. „Es gibt so viel Kunst, da muss ich nicht auch noch welche machen“, sagt Ruth Wolf-Rehfeldt in dem hinreißenden Film, den die Galeristin über sie gedreht hat. Manchmal wünscht man sich diesen Gedanken von der jüngeren Generation.
Es ist ja nicht das Produktionstempo oder die marktkompatible Erscheinung, die ein Werk museumsreif macht – sondern die konsequente Haltung einer Ruth Wolf-Rehfeldt. Ein Wunder, dass hier noch keine Institution aufgesprungen ist. Zugleich würde man sich mit Blick auf ihr außergewöhnliches Leben fast wünschen, dass jedes Blatt bei einem anderen Sammler auf der Welt landen würde. In alle Winde verstreut, wäre dieses Werk dann vielleicht der beste Kommentar – nicht auf unsere Zeit, nicht auf damals, sondern einfach auf den Wandel des Lebens (Preise von 200 bis 5000 Euro).
© Gesine Borcherdt