Die Welt – 15. Dezember 2012
Ein Fuß, das sind 30,48 Zentimeter. Oder auch: Schuhgröße 48 ½.Die Maßeinheit, in der heute vor allem Piloten und Engländer denken, stammt also offenbar von einem Yeti. Ob Stanley Brouwn das im Kopf hatte, als er beschloss, unserem metrischen System eine eigenen Körpermaße einzuschreiben, werden wir nie erfahren: Der Künstler aus Amsterdam spricht nicht über sein Werk. Fotos von ihm gibt es ebenso wenige wie von seinen Arbeiten. Eröffnungen meidet er konsequent, so auch Erklärungen zu seinem Werk. Im Sommer hat er eine Ausstellung in Villeurbanne abgesagt, weil man ihn bat, vor Publikum zu sprechen. In der Tat wundert man sich über so eine Anfrage, wenn einer seit 52 Jahren konsequent schweigt und das als Teil seiner Arbeit ansieht.
Und so wissen wir über Stanley Brouwn nicht viel mehr, als dass er Schuhgröße 41 trägt – der Stanley-Brouwn-Foot misst nämlich 26 Zentimeter. Vielleicht noch, dass er 1935 geboren wurde, im lateinamerikanischen Suriname, damals noch eine holländische Kolonie. Mit 22 Jahren kam er in die Niederlande, die er 1982 auf der Biennale von Venedig vertrat.
Später erlebten ihn John Bock und Andreas Slominski als Professor an der Hamburger Kunstakademie, wo er aber nie über sich selbst sprach. Brouwn, der nun nach sieben Jahren wieder bei Konrad Fischer in Berlin ausstellt, ist bis heute ein Rätsel. Einer für Eingeweihte. Ein Künstler-Künstler, der 1960 mit dem begann, was ein paar Jahre später Konzeptkunst heißen sollte.
Als Sol Lewitt 1969 seine berühmten "Paragraphen" herausbrachte, in denen er vom Konzeptkünstler als Mystiker sprach, der irrationale Gedanken logisch verfolgt, hatte Brouwn längst Papierblätter am Boden ausgelegt und, voller Fußspuren von Passanten, wieder eingesammelt. Konzeptkunst avant la lettre, von einer performativen Poesie, die eher an die Gangart späterer Generationen denken lässt als an Lewitts Gitterkästen.
Doch Brouwn verlangt dem Betrachter viel Vorstellungskraft ab. So auch mit den zwei Aluminiumstäben, die nun bei Konrad Fischer wie Lineale am Boden liegen. Akkurat gen Nord-Süd beziehungsweise Ost-West ausgerichtet, verweist ein Schild darauf, dass "in diesem moment x personen" auf dem Alexanderplatz in eine der vier Himmelsrichtungen gehen. Mit der Stablänge von 126 Zentimetern bringt sich Brouwn selbst ins Spiel: 1 Meter plus 26 Zentimeter kombiniert das allgemeine Maß mit dem eigenen Fuß – ein Prinzip, das er seit seiner Ausstellung im Stedelijk Museum 1971 variiert. Von seinen Reisen aus rief er dort jeden Tag an und nannte die Zahl seiner Schritte, die auf Karteikarten vermerkt wurde.
Mit Richard Longs naturversunkenen Wanderungen hat das allerdings nichts zu tun. Bei Brouwn geht es um selbsterlebte Distanz und aufoktroyierte Einheit, körpereigene Proportion und allgemeinen Messwert. Er beschwört damit einen uralten Ansatz herauf. Bevor die Moderne das metrische System einführte, orientierte man sich an Gliedmaßen: Der Fuß – neben Elle, Schritt und Finger – war nur eines unter vielen, das je nach Region und Epoche schwankte. So entsprach er bei den alten Griechen noch 29,6 Zentimetern, um im Herzogtum Nassau des 19. Jahrhunderts auf Schuhgröße 75 anzuwachsen – und schließlich 1959 im "angelsächsischen Kompromissfuß" zu münden. Dem Yeti-Fuß eben.
Wo Brouwn nicht direkt mit dem eigenen Körper arbeitet, gräbt er im ethnologischen Archiv. Bei Konrad Fischer hat er mit Bleistift hauchdünn einen Meter auf eine Papierbahn gezogen, um daneben ein altes äthiopisches Maß namens Pikhalebi (68,6 Zentimeter) zu setzen und eine bulgarische Einheit mit dem schönen Namen Arschin (67 Zentimeter) – drei Linien, drei Mal Kulturgeschichte. Oder der vergessene Heidelberger Fuß: 27 Zentimeter formieren sich in einem Holzwürfel, einen Meter von der Wand entfernt. Nach der Ausstellung wird er zerstört.
So schwierig der Zugang zu so viel Reduktion im ersten Moment erscheint – Brouwns Arbeiten sind zutiefst anthropomorph. Den Körper als Maß aller Dinge schleust er zurück in die durchkalkulierte Welt, in der der Mensch auf Distanz zu sich selbst gegangen ist. Als Pionier eines Credos, das später in Land und Body Art münden sollte, unterwandert Brouwn dieses System bis heute. Und spaziert dabei geradewegs auf den Spuren der Romantik, die der Ratio das subjektive Empfinden entgegenstellt. Selten sah die Rückkehr der Sinnlichkeit so ephemer aus und zugleich so penibel.
© Gesine Borcherdt