Eine Erfolgsbilanz des Direktors der Berliner Nationalgalerie nach fünf Jahren im Amt
art. Das Kunstmagazin – 03/2014
Udo Kittelmann, geboren 1958 in Düsseldorf, ist seit 2009 Direktor der Nationalgalerie in Berlin, zu der insgesamt sechs Häuser gehören. Seine Karriere ist ungewöhnlich: Nach dem Abitur absolvierte er zunächst eine Augenoptiker-Lehre und begann 1987, Ausstellungen zu kuratieren – mit Gespür für effektvolle Inszenierungen. In Köln holte er als künstlerischer Leiter eine poppig bemalte Halfpipe von Michel Majerus in den Kunstverein, mit Gregor Schneiders Haus UR gewann er 2001 den Goldenen Löwen für den Deutschen Pavillon in Venedig. Als Direktor des Museum Moderner Kunst (MMK) in Frankfurt schleuste er auf Ebay ersteigerte Objekte in die Sammlung ein und hob so Marcel Duchamps Behauptung, dass Kunst sei, was im Museum stehe, auf die nächste Ebene. Für Berlin schien er der richtige Mann zu sein: Nach neun Jahren Peter-Klaus Schuster, der über Dürer promoviert und die Museumsinsel zu seinem Lebenswerk erkoren hatte, aber kaum Interesse für Gegenwartskunst zeigte, war der Ruf laut nach einem Direktor mit Gespür für den Zeitgeist. Er sollte einen behäbigen Institutionskoloss aufmischen, und den bisher ignorierten Superstars der Hauptstadt einen gebührenden Auftritt verschaffen. Nach fünf Jahren ist es nun Zeit für eine Debatte: Ist ein experimenteller Ausstellungsmacher wie Udo Kittelmann der richtige Direktor für dieses bedeutende Haus?
Pro
art-Redakteur Ralf Schlüter
Wie nennt man das, wenn bei extremer äußerer Aktivität innere Leere herrscht? Burn-Out-Syndrom! Es kommt auch bei Museen vor.
Versetzen wir uns zurück ins Jahr 2004. Es war die Zeit der Besucherschlangen. Menschen lagen in Schlafsäcken vor dem Eingang: das MoMA in Berlin! Ein neues Jahrhundert hatte begonnen, und die Neue Nationalgalerie feierte das alte. Als hätte man vergessen, die Millenniumsparty zu beenden. Monet, Van Gogh, Warhol, Richter: Es gab hier nur noch Meisterwerke, Meisterwerke, Meisterwerke. 2,1 Millionen Menschen sahen das Best-of aus New York – ein Publikumswunder, aber auch ein gutes Zeichen?
Die Frage, was denn Kunst heute sein soll, im 21. Jahrhundert, wurde anderswo behandelt. In den Ateliers und Galerien von Berlin etwa, wo Jonathan Meese die Mythen mixte, Olafur Eliasson die Natur noch einmal erfand, Monica Bonvicini den White Cube zum Domina-Studio machte. Die Nationalgalerie blieb davon unberührt. Ihr Direktor Peter Klaus Schuster liebte den Kanon und inszenierte ihn am liebsten in Komplettpaketen wie „Das XX. Jahrhundert – ein Jahrhundert Kunst in Deutschland“ (1999). Der letzte große Hit war 2007 die Impressionisten-Schau „Die schönsten Franzosen kommen aus New York“, für die das Metropolitan Museum was schickte? Na, Meisterwerke!
Etwas musste passieren in diesem Berliner Museumskoloss, der so erfolgreich war, und der so wenig Interesse am Jetzt hatte. Die Frage, wie man Gegenwartskunst im Zeichen des „Anything Goes“ überhaupt sinnvoll präsentieren kann, schien hier niemanden zu interessieren. Auch die Sammlung war wie erstarrt, während der Direktor sich als „Sammler der Sammler“ verstand und immer weiter Privatkollektionen akkumulierte, statt den Beständen neue Erkenntnisse zu entlocken.
2008 fiel die Entscheidung, Udo Kittelmann nach Berlin zu holen. Es gab Beifall, aber nicht nur. Wenn es um die Karriere des Rheinländers geht, fällt schnell das Stichwort „Optiker“. Obwohl Kittelmann seit fast 30 Jahren Ausstellungen macht, wird er mit Hinweis auf seinen Lehrberuf immer wieder lustvoll zum Außenseiter gestempelt: kein Kunstgeschichte-Studium, keine Promotion, keine jahrelange Stillarbeitsphase im Depot. Seinen „unorthodoxen Blick“ wollte man haben in Berlin. Und hatte zugleich auch Angst davor.
Kittelmanns erster großer Auftritt 2009 im Hamburger Bahnhof schien die Befürchtungen zu bestätigen. Wie konnte man nur seiner Antrittsschau den Titel „Die Kunst ist super“ geben? Und später: Wie konnte man nur einen naiven Tiermaler wie Walton Ford groß feiern? War nicht überhaupt Zoologisches das Rezept des neuen Direktors? Wer hätte sich für Carsten Höllers „Soma“ interessiert, wenn nicht Rentiere durch den Hamburger Bahnhof getrottet wären? Bald hatte der Neue den Ruf des „Zirkusdirektors“ weg.
Dabei beruht der Vorwurf des Populismus an Kittelmann auf einem Missverständnis. Dass er große Gesten beherrscht, spricht noch nicht gegen ihn.
Denn „groß“ wird hier gleich gesetzt mit „oberflächlich“. Dabei hat Kittelmanns Art, Ausstellungen zu machen, viel mehr mit Marcel Duchamp zu tun, als mit Marketing. Er beherrscht wie kaum ein anderer den performativen Teil der Museumsarbeit – das, was Kuratoren „Setzung“ nennen. Dazu gehört auch die Auslassung. Dass er seinen Konzepten ganz vertraut, und sie nicht schon selbst relativiert und verwässert, ist eine von Kittelmanns Qualitäten. Das Verdrehte, Irritierende, Vertrackte ist dabei meist schon Teil der Grundanordnung. Wer sonst hätte es gewagt, der Bilder-Kopistin gleich ein ganzes Museum zu geben, wie es Kittelmann noch in Frankfurt mit Elaine Sturtevant tat? Durch diesen Kniff wurde gleich das ganze Museum zu einem Appropriation-Kunstwerk. In Berlin stellte er 2009 den entleerten Historienbildern von Thomas Demand Texte von Botho Strauß zur Seite, das Haus wurde mit Stellwänden und Vitrinen dekoriert wie eine Stadtteil-Biliothek – das war seltsam, beklemmend, ironisch – aber doch wohl kaum populistisch.
Kittelmanns Methode kann auch misslingen, zuletzt im vergangenen Herbst: In der Malerei-Ausstellung „Dame Bube König Ass“ ging die Setzung gründlich schief – weil sie unklar war. Warum wurden hier die vier Malermänner Eder/Kunze/Scheibitz/Reyle zu suggestiver Größe aufgeblasen? Es war eine unsägliche Ausstellung, die zeigt, das Kittelmann auch im Scheitern keine halben Sachen kennt.
Doch erst die Entschiedenheit seiner Arbeit macht es möglich, dass über die Kunst wieder leidenschaftlich gestritten wird. Das zeigt sich besonders im Umgang mit der Sammlung. Hier gibt es tatsächlich noch die vielbeschworenen „Sehgewohnheiten“, den in Jahrzehnten der Meisterwerk-Routine erstarrten Blick auf die Kunstgeschichte.
Wie produktiv eine freiere, offenere Methode sein kann, beweisen Kittelmann und sein Kuratorenteam in der aktuellen Schau „Ausweitung der Kampfzone“. Es ist das dritte Kapitel der Neupräsentation der sehr heterogenen Sammlung des Hauses, behandelt werden die Jahre 1968 bis 2000. Kittelmann bezieht kunstimmanente Kategorien wie Stil, Methode, Konzept mit ein – aber er lässt sich nicht davon leiten. Stattdessen inszeniert er die Werke als Zeugen gesellschaftlicher Kämpfe.
Wer durch die Räume streift, erlebt eine kühle Bestandsaufnahme, die Jahre seit der 68er Revolte werden neu gelesen, als Summe partikularer Konflikte. Da geht es um die visuelle und reale Präsenz des Militärischen (Wolfgang Tillmans‘ Serie „Soldiers. The Nineties“ hängt gegenüber einem gigantischen Camouflage-Bild von Andy Warhol), um Klaustrophobie und Paranoia im Privaten (Ed Kienholz füllt einen Raum mit Volksempfängern, die Blumes zelebrieren den „Küchenkoller“), um den Kampf in den Straßen (in Katharina Sieverdings „Schlachtfeld Deutschland“ und den Fotos aus der Punkszene von Michael Schmidt). Die Schau gibt Themen vor, lässt aber auch viel Raum für eigene Versionen des Geschehens.
Der britische Theoretiker Roy Ascott sagt, man solle das Kunstwerk nicht als Objekt betrachten, „sondern als Auslöser für eine Erfahrung“. Erst durch Kittelmanns Arbeit ist richtig deutlich geworden, was der Nationalgalerie zuvor gefehlt hat: der Wille, diese Erfahrung immer wieder neu in Gang zu setzen.
Contra
art-Autorin Gesine Borcherdt
Wie war das noch mit den gerufenen Geistern? Man wird sie nicht mehr los? Nun ja – vielleicht will man das ja gar nicht. Schließlich hat man ja bewusst einen Museumsdirektor gerufen, der anders ist als die Konkurrenz. Der eben nicht durch profunde Fachkompetenz glänzt, sondern durch Ausstellungen, die man in einem klassischen Museum nicht erwartet. Die da heißen „Die Kunst ist super“, „Bube Dame König Ass“ oder „Ausweitung der Kampfzone“.
Dass sie trotz solcher Volksnähe inhaltlich nicht immer ganz nachvollziehbar sind – geschenkt. Vielleicht braucht diese Stadt eben einen, der lieber mit Menschen, Tieren, Sensationen lockt statt mit dem bitteren Ernst eines Museums, dessen Aufgaben da doch eigentlich lauten: Sammeln, Bewahren, Vermitteln. Doch was zählt schon die Kunstgeschichte, wenn man dafür spektakuläre Coups bekommt wie Carsten Höllers „Soma“ – eine Rentierfarm mit mietbarem Hochbett im Hamburger Bahnhof – oder eine Late-Night-Show wie die Inszenierung von Duchamps „Belle Haleine“: ein Parfümflakon, der 72 Stunden lang im gläsernen Mies van der Rohe-Bau auratisch schimmerte. Ach ja, wo wir uns befinden? Na klar. In Berlin.
Hier sorgt Udo Kittelmann seit beinahe fünf Jahren mit Ausstellungen für Furore, die einen ostentativ naiven, antiwssen- schaftlichen Blick feiern. Nun sind solche Gesten auch anderswo immer häufiger das Salz in der musealen Suppe, wie sie Kuratoren der alten Schule oft anrühren. Problematisch wird es jedoch, wenn ein Effekt den nächsten jagt, ohne an anderer Stelle einen Gegenpol zu setzen. Wie zum Beispiel ist die Verwandlung der Neuen Nationalgalerie in eine Art Messestand zu rechtfertigen, wo man mit Anselm Reyle, Thomas Scheibitz, Michael Kunze und Martin Eder eine virile Breitseite zum letzten Kunstherbstmotto „Painting Forever“ abfeuert? „Bube, Dame, König, Ass“ – mit solchen Jokern pokert man um den Ruf des Hauses, das in besseren Zeiten seinen Freundeskreis zum Erwerb von Hauptwerken wie George Grosz’ „Skatspielern“ animierte. Dass die Nationalgalerie heute Ankäufe tätigt, die sich eher wie spontane Bauchentscheidungen anfühlen denn wie strategischer Sammlungsaufbau, war zwar schon vor Kittelmann so. Trotzdem: Der Erwerb wirklich relevanter Werke wie Hans-Peter Feldmanns „Schattenspiel“ (2009) bleibt in einem Konvolut zahlreicher Eintagsfliegen auch unter seiner Ägide eher die Ausnahme.
Derzeit läuft in der Neuen Nationalgalerie der dritte Teil der Sammlungspräsentation unter dem Titel „Ausweitung der Kampfzone“ mit Werken von 1968 bis 2000. Wie schon die beiden Vorgängerschauen „Der geteilte Himmel“ und „Moderne Zeiten“ wird hier versucht, anhand einzelner Kunstwerke ganze Zeitphänomene nachzuzeichnen. So muss etwa Anselm Kiefers morbide Kampfjet-Skulptur „Mohn und Gedächtnis“ auch für die altertümliche Schautafel eines Werner Tübke herhalten, nur um zu zeigen, wie Künstler deutsche Kriegsgeschichte verarbeiten. Im Grunde kein illegitimer Ansatz – doch kuratorisch fällt ein Raum auseinander, wenn man ihm ein recht plattes Motto überstülpt: Kampfjet hier, Schlachtszene dort – wir haben verstanden.
Ähnlich schulbuchartig liest sich das Ensemble nebenan. Hier sollen Bruce Naumans raumfüllende Tribünen „Indoor Outdoor Seating Arragement“ mit Rainer Fettings neoexpressiver Straßenszene „Van Gogh und Mauer“ und einer winzigen Falle von Andreas Slominski ins Gespräch kommen. Doch die Werke bleiben seltsam stumm, ihre Kraft geht unter in forcierter Didaktik zum Thema öffentlicher Raum. Klar, dass auch die Abteilung „Penis und Vagina“ nicht fehlen darf, deren Titel sich einer eindeutigen Skulptur Paul McCarthys entlehnt – nur leider könnte man darunter glatt die halbe Kunstgeschichte des Abendlandes subsummieren, weshalb dieser Bereich aussieht wie ein Erotikshop.
Dass die Schau trotz allem viele großartige Werke auffährt, hat damit nichts zu tun; beispielsweise Wolfgang Tillmans Zeitungsfotoserie „Soldiers: The Nineties“ oder Ger van Elks Video einer Kaktusrasur von 1969. Gegenübergestellt gewinnen beide Arbeiten tatsächlich eine Ebene hinzu – doch solche Griffe bleiben die Ausnahme. Stattdessen entpuppt sich das Bemühen um rein assoziative Verbindungen, wie es schon im Kittelmanns Antritssschau „Die Kunst ist super“ der Fall war, als bloßes Masche des kuratierenden Direktors. **Die Wiederholung seines spielerischen Gestus kehrt vor allem einen Eindruck hervor: Beliebigkeit. Am Ende hat man beinahe das Gefühl, durch das wild bestückte Loft eines leidenschaftlichen Privatmanns geschritten zu sein.
Bleibt die Frage: Will die Nationalgalerie dafür stehen? Für Emotionalität und Marketingaffinität statt für einen wissen- schaftlich fundierten Bildungsauftrag, die dem Haus endlich einen Platz neben der Tate Gallery, dem MoMA oder Centre Pompidou bescheren könnte? Bei allem Verständnis für genialisch aufgeplusterte Publikumsrenner: Den Häusern fehlen die intellektuellen Pendants. Kittelmanns experimenteller Zugang, der ihn einst völlig zu Recht auf die Top-Liste der Kuratorenwelt setzte, ist zum Prinzip verkommen – und damit zur Hohlformel. Dass jemand die Qualität seiner früheren Ausstellungen in Berlin nicht abrufen kann, wo er unter widrigen finanziellen Bedingungen ein Vielfaches mehr zu leisten hat, ist die eine Sache. Die andere ist, warum die Stadt es zulässt oder gar verlangt, dass mit ihren Ressourcen derart unelegant umgegangen wird. Während Max Hollein es in Frankfurt am Main schafft, grellbunte „Must-Sees“ wie Jeff Koons zu organisieren und kurz darauf Piero Manzoni nicht nur in voller Bandbreite zu zeigen, sondern auch publikumstauglich zu machen, klatscht Berlin lieber zur nächsten Zirkusrunde.
So, wie man den Potsdamer Platz und das Brandenburger Tor in billige Konsumzentren verwandelt hat, muss nun auch die Nationalgalerie für Showeffekte herhalten. Dabei wäre der Stadt mit einer gesunden Mischung aus wohl dosierter Popularität, glaubwürdiger Originalität und seriöser Ausstellungsprogrammatik langfristig besser gedient als mit One-Hit-Wondern und kryptischen Großinszenierungen. Keine Frage, Experimente sind das Salz in der Suppe – doch verselbstständigen sollten sie sich nicht.
© Gesine Borcherdt