Interview mit Adriano Pedrosa
/ Die Welt

Der Brasilianer Adriano Pedrosa ist Direktor des Kunstmuseums MASP in São Paulo. Dort hat er unter anderem historische Themenausstellungen, etwa zu Kindheit, Sexualität oder Tanz, kuratiert. Zuvor hat er Biennalen in São Paulo, San Juan und Istanbul mitgeleitet. Im vergangenen Jahr wurde er vom New Yorker Bard College für „kuratorische Exzellenz“ ausgezeichnet. 2022 wurde Pedrosa mit der künstlerischen Leitung der Biennale von Venedig betraut, der weltweit bedeutendsten Ausstellungen für internationale Kunst, die am 20. August 2024 eröffnet.

 

WELT: Ihre Ausstellung „Stranieri Ovunque – Foreigners Everywhere“ (Ausländer überall) fokussiert auf queere und indigene Volkskünstler und Outsider des Kunstbetriebs, kurz: auf Identitätspolitik. Ist eine politische Agenda ein hilfreiches Kriterium für die weltweit größte Kunstausstellung, die doch in erster Linie Kunst zeigen soll?

 

Adriano Pedrosa: Die Biennale ist und bleibt eine Plattform für Kunst, und die Kunst steht auch im Zentrum dieser Ausstellung. Aber es gibt so viele verschiedene Typen von Künstlern auf der Welt und so viele Identitäten! Wenn es viele Identitäten gibt, hat man immer Identitätspolitik. Ich selbst identifiziere mich mit verschiedenen Identitäten, nicht weil ich indigen wäre oder ein Outsider, aber beispielsweise als queer. All diese Künstler und ihre Themen sind in meiner Kultur sehr präsent, doch sie wurden von der Kunstgeschichte und den großen Ausstellungen der Vergangenheit oft ausgeschlossen. Ich nutze die Biennale von Venedig, um ihren Arbeiten mehr Präsenz zu verschaffen.

 

WELT: Wie wird diese Präsenz aussehen?

Pedrosa: Die Ausstellung ist unterteilt in den „Nucleo Contemporaneo“ und den „Nucleo Storico“, also einen zeitgenössischen und einen historischen Kern. Der erste konzentriert sich auf vier Subjekte: Das erste ist der Ausländer, Migrant, Emigrant oder Flüchtling. Das zweite Subjekt ist queer. Das dritte ist der Outsider, im Sinne von Volkskünstler, Autodidakt oder was wir in Lateinamerika den „artista popular“ nennen. Und das vierte Subjekt ist indigen. Im „Nucleo Storico“, dem historischen Teil der Schau, geht es um die Kunst der Moderne aus Südamerika, Afrika, Südostasien und dem Nahen Osten, die in der Kunstgeschichte des 20. Jahrhunderts keinen Platz hatte. Der Globale Süden ist das allumfassende Thema der gesamten Ausstellung.

 

WELT: Das ist eine sehr politische Haltung für eine Biennale. Bei all diesen Kategorien, in die Sie Ihre Schau einteilen: Was sind Ihre Kriterien für gute Kunst?

 

Pedrosa: Komplexität und Einzigartigkeit, auch wenn das ziemlich vage Begriffe sind. Aber es gibt kein Kriterium, das jedes Kunstwerk abdeckt, das ich für gut befinde. Die bestimmten Identitäten und Subjekte, von denen ich spreche, existieren natürlich in einer politischen Welt – aber viele beschäftigen sich mit formalen Themen. Es geht um Künstler und ihre Werke, die Betonung liegt auf der Kunst. Es gibt nicht einmal viele aktivistische Werke, und die befinden sich in der Film- und Videosektion.

 

WELT: Zum Thema „Globaler Süden“ gehört unweigerlich die Debatte des Postkolonialismus, die auch im Zentrum der Documenta 15 stand, auf der antisemitische Karikaturen gezeigt wurden. Wie wollen Sie garantieren, dass es keine herabwürdigenden Bilder geben wird, die sich gegen bestimmte ethnische Gruppen richten?

 

Pedrosa: Ich weiß nicht, wie ich Ihre Frage beantworten soll. Ich stimme mit der Verbindung, die Sie zwischen solchen Bildern und den postkolonialen Themen des Globalen Südens ziehen, nicht überein.

 

WELT: Ist der Krieg in Gaza in Ihrer Schau ein Thema? Und wie stehen Sie zu dem Boykottaufruf von Künstlern und Kulturschaffenden gegen den Israelischen Pavillon?

 

Pedrosa: Als der Krieg in Gaza begann, waren unsere Vorbereitungen praktisch abgeschlossen. Es wird darin Elemente geben, die darüber reflektieren, aber nur sehr wenige.

 

WELT: Sie haben viele Künstler aus dem Nahen Osten eingeladen, aber keinen einzigen aus Israel …

 

Pedrosa: Es gibt in meiner Ausstellung auch keine Künstler, die aus Spanien, Belgien oder Deutschland stammen. Das Hauptaugenmerk der Ausstellung liegt auf dem Globalen Süden. Israel liegt im Globalen Norden. Israel ist ein wohlhabendes Erste-Welt-Land, wie Japan oder Korea. Wissen Sie, was der Globale Süden ist? Sie können das bei Wikipedia nachschauen.

 

WELT: Ich hatte gehofft, das von Ihnen zu erfahren. Zum Titel Ihrer Ausstellung erklärten Sie einerseits, dass man, wo immer man sei, auf Ausländer treffen würde – und andererseits, dass man selbst, egal, wo man sich aufhalte, „immer wahrhaftig und tief im Innern, Ausländer sei.“ Der erste Teil ist logisch, dem zweiten würde ich widersprechen. Unterschätzen Sie nicht die Fähigkeit von Menschen, in sich selbst zu Hause zu sein, egal, wo sie sind? Man könnte auch von Resilienz sprechen.

 

Pedrosa: Man muss sich auf unterschiedliche Auffassungen einlassen. In einigen Diskussionen mit den Künstlern war es das, was für uns Sinn ergab. Aber ich akzeptiere auch, wenn Sie damit nicht einverstanden sind.

 

WELT: Die Biennale von Venedig wird oft kritisiert, zu viele Künstler zu zeigen. Mit 331 Künstlern präsentieren Sie mehr denn je: über 120 mehr als die letzte Biennale und gleich viermal so viele wie 2019. Warum diese Menge?

 

Pedrosa: Weil es notwendig und sinnvoll ist. Tatsächlich zeigt diese Biennale weniger Kunstwerke als die letzte, denn von jedem Künstler gibt es nur ein einziges Werk. Wir werden zudem weitere Bereiche öffnen, die sonst nur selten für die Hauptausstellung genutzt werden, wie die Insel in den Giardini, auf der der Brasilianische Pavillon steht.

 

WELT: Die Biennale von Venedig steht dafür, die Kunst unserer Zeit zu spiegeln. Wie gelingt das mit einer Künstlerliste, auf der die meisten Kandidaten sehr alt oder bereits gestorben sind?

 

Pedrosa: All diese 180 Künstler haben im 20. Jahrhundert gearbeitet aber wurden von den meisten internationalen Kunstausstellungen ausgeschlossen – auch von dieser, der ersten Biennale überhaupt aus dem Jahr 1895. Die europäische und amerikanische Moderne kennen wir bereits. Ich glaube nicht, dass wir das noch einmal anschauen müssen. Und seit wir in Neunzigerjahren angefangen haben, die Kunstgeschichte dekolonialisieren, kann man keine internationale Ausstellung machen, ohne Künstler aus, sagen wir, der Türkei, Ägypten, Südafrika, Argentinien, Indien oder Brasilien zu zeigen.

 

WELT: Schon die Biennale vor zwei Jahren von der Kuratorin Cecilia Alemani war eine Reise in die Vergangenheit. Warum ist das auch Ihrer Meinung nach wichtiger, als die Kunst von heute zu reflektieren?

 

Pedrosa: Die Moderne im Globalen Süden ist zurzeit eines der spannendsten Felder der Kunstgeschichte. Es gibt so viele bemerkenswerte Künstlerpersönlichkeiten, die vielleicht in ihren eigenen Kontexten und Ländern bekannt sind, aber international überhaupt nicht, weil während des gesamten 20. Jahrhunderts die Kunst aus Europa und Amerika im Mittelpunkt stand. In diesem Sinne sind diese Künstler für die heutige Zeit sehr relevant. Sie mögen tot sein, aber ihre Kunst ist sehr lebendig.